Die Erdbebenkatastrophe im Südosten der Türkei und im Norden Syriens zeigt immer grössere Dimensionen. Am Sonntag ist die Zahl der Toten auf mehr als 30’000 gestiegen. Die Hoffnung schwindet, dass bei den winterlichen Temperaturen Überlebende geborgen werden können.
In der Nacht vom Montag auf den Dienstag folgten sich in der Katastrophenregion mehrere äusserst starke Erdstösse. Seit Dienstag früh sind die Bergungsarbeiten im Gang. Sie werden erschwert durch schlechtes Wetter mit ungewöhnlicher Kälte, die noch bis Anfang nächster Woche anhalten soll.
In Gaziantep, dem Epizentrum des ersten Bebens in der Türkei, sanken die Temperaturen inzwischen auf minus ein Grad. Noch kälter war es nördlich von Gaziantep. Dort wurden minus fünf Grad registriert. Meteorologen prophezeien, dass es in der Südtürkei und in Syrien in den nächsten Tagen noch kälter werden wird.
Wettlauf gegen die Zeit
Im Erdbebengebiet spielen sich schreckliche Szenen ab. Rund um die Uhr sind Retter am Werk und versuchen, mit Baggern und zum Teil nur mit Pickeln, Spitzhacken und Brechstangen Trümmer wegzuräumen – in der Hoffnung, noch Überlebende zu finden. «Alles wird immer mehr zu einer Bergungsaktion, statt zu einer Rettungsaktion», sagt ein Helfer, «denn wir befürchten, dass hier niemand mehr am Leben ist.»
Die Helfer stehen vor grossen logistischen Problemen. Es gibt nicht genug Fahrzeuge und genug Treibstoff. Zudem sind viele Strassen durch die Beben unpassierbar geworden.
Die Retter wickeln die aufgefundenen Leichen sorgfältig in Tücher und übergeben sie den wartenden Angehörigen. Dann werden die Toten in Metallsärgen abtransportiert.
Einige verzweifelte Menschen versuchen, mit blossen Händen in den Trümmern zu graben und nach Angehörigen zu suchen.
Rettungsteams aus der ganzen Welt
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan hat in der Türkei einen dreimonatigen Ausnahmezustand über die zehn am stärksten vom Beben betroffenen Provinzen verhängt. Erdoğan hat am Mittwoch Kahramanmaras und Hatay besucht, wie das Präsidialamt mitteilte. Er begab sich auch nach Pazarcik, dem Epizentrum des Bebens (siehe Karte unten).
Aus der ganzen Welt reisen Rettungsmannschaften mit Spezialteams, Spürhunden und Spezialausrüstungen an. Es wird befürchtet, das viele zu spät kommen.
Auch 80 Schweizer Retter sind seit Montagabend vor Ort. Mit Suchhunden, Schweissgeräten, aber auch mit blossen Händen suchen sie nach Überlebenden in den Trümmern.
Bisher wurden in der Türkei 8’000 Menschen lebend aus den Trümmern geborgen. Neben den aktuell 17’000 Toten sind auch 66’000 Verletzte der Katastrophe zum Opfer gefallen.
Mehr als eine Viertelmillion Menschen in der Türkei benötigen nach Schätzungen eines Mitarbeiters der Internationalen Föderation des Roten Kreuzes Lebensmittel, Kleidung und Unterkünfte. Nach türkischen Angaben sind mehr als 100’000 Menschen aus sechzig Ländern an den Hilfsmassnahmen beteiligt, und mehr als 4’700 Fahrzeuge und Baumaschinen helfen, die Trümmer zu beseitigen.
Schwierige Lage in Syrien
Die Rettungsaktion im Norden Syriens gestaltet sich besonders schwierig. Das Gebiet, in dem die Erdbeben stattfanden, wird von der syrischen Anti-Assad-Opposition kontrolliert und ist vom übrigen Syrien fast abgeschnitten.
Aus diesem Grund ist es schwierig, Hilfsgüter in den Norden des Landes zu transportieren. Laut Hilfsorganisationen sind die Strassen an den Hauptübergängen in das von der Opposition kontrollierte Gebiet beschädigt.
Selbst an Wasser fehlt es im Norden. Viele Wasserleitungen sind zerstört. Wasser müsse mit Lastwagen herangeführt werden, erklären Uno-Helfer. Vor dem Erdbeben war das nördliche Syrien von einer Dürre und einer Cholera-Epidemie heimgesucht worden.
Der syrische Aussenminister Faisal Mekdad sagte am Dienstag in einem Interview mit dem libanesischen Fernsehsender Al Mayadeen TV, die syrische Regierung sei bereit, die Hilfe für die Erdbebenopfer in alle Regionen zu lassen, sofern sie nicht zu bewaffneten Terrorgruppen gelange.
Gründe für die hohe Zahl von Opfern
Die Katastrophe hat ein ausgedehntes und relativ dicht bevölkertes Gebiet heimgesucht. Zeitpunkt der Beben und Wetterbedingungen taten ein Weiteres, die Opferzahlen nach oben zu treiben: In der kalten Nacht waren die Menschen in den Häusern, die dann über ihnen zusammenstürzten.
In der Türkei ist erneut Kritik laut geworden gegen die verbreitete Korruption im Bauwesen und die äusserst lückenhafte Kontrolle über die Durchsetzung von Vorschriften für erdbebensicheres Bauen. Der seit zwei Jahrzehnten herrschende Präsident Erdoğan wird von der Opposition auch persönlich beschuldigt, bei Weitem nicht genug getan zu haben, um das Land auf Katastrophen wie diese vorzubereiten.
Das betroffene syrische Gebiet leidet seit fast zwölf Jahren unter dem Krieg im Land. Die Region ist mehrheitlich in der Hand von Anti-Assad-Rebellen. Russland als Verbündeter Assads hat erzwungen, dass die Grenzübergänge zur Türkei bis auf einen alle geschlossen wurden, und der verbliebene ist nun auch noch unpassierbar geworden. Das syrische Erdbebengebiet ist dadurch für Hilfe aus dem Ausland kaum erreichbar.
Erdoğan im Wahlkampf
Im Mai sollten in der Türkei Wahlen stattfinden, die nun vermutlich verschoben werden. Erdoğan und seine AKP stehen in einem schwierigen Wahlkampf, dessen Ausgang für sie unsicher ist. Nach anfänglicher Zurückhaltung zugunsten eines nationalen Schulterschlusses in der Katastrophe spielt nun der Wahlkampf immer stärker ins Geschehen hinein. Die Opposition wirft Erdoğan Versagen vor. Dieser geht energisch gegen Medien vor, die Mängel bei der Katastrophenvorsorge und Katastrophenhilfe kritisieren.
Offenbar liess die Regierung den Kurznachrichtendienst Twitter abschalten, weil sie die auf dieser Plattform frei zirkulierende Kritik unterdrücken wollte. Dass sie damit auch Verschütteten und anderen Hilfesuchenden einen oft lebensrettenden Kommunikationskanal verschloss, nahm sie offenkundig in Kauf.
Nach scharfen Protesten türkischer Prominenter gegen diese Abschaltung ist Twitter seit Donnerstagmorgen aus der Türkei wieder erreichbar.
(J21)