Bis zum Schluss hat sich Helmut Kohl an das Leben gekrallt. Kämpfend, dem Unabänderlichen Trotz bietend, Stärke zeigend – so wie es der 87-Jährige ein Leben lang auf der politischen Bühne getan hatte. Dennoch wird für ihn das Ende vermutlich eine Erlösung gewesen sein.
Jeder, der – mitgestaltend oder beobachtend und beschreibend – über die Jahrzehnte den Werdegang des Mannes aus der Pfalz begleitet hat, war erschüttert über den körperlichen Verfall dieses einstmals scheinbar ganz allein Räume füllenden menschlichen Kraftwerks. Bei einem schweren Sturz von der Treppe seines Hauses in Ludwigshafen-Oggersheim hatte sich Helmut Kohl 2008 ein schweres Hirn-Trauma zugezogen und war seitdem an den Rollstuhl gebunden. Zudem verschlechterte sich seine Sprachfähigkeit dramatisch.
Draussen geachtet, daheim geächtet
Wenn Helmut Kohl in früheren Jahren gefragt wurde, welche Rolle er wohl einst von den Historikern und in den Geschichtsbüchern zugewiesen bekommen werde, tat er dies meist mit einer sarkastischen Bemerkung über die „stets alles besser wissen wollenden Theoretiker an den Kathedern“ ab. In Tat und Wahrheit aber hoffte er sehr wohl, dass ihm und seinem Wirken eines Tages doch eine alles in allem positive (vielleicht sogar wohlwollende) Beurteilung zuteil werde.
Einmal – es war freilich in einer besonderen Stunde des Erfolgs- und Glücksgefühls – sprach er das auch offen aus: „Wenn irgendwann einmal festgestellt werden sollte, dass ich in einem entscheidenden Moment meine Pflicht getan habe, dann würde ich mich gewiss nicht dagegen wehren.“ Das war auf dem Rückflug von jenem denkwürdigen Treffen mit Michail Gorbatschow zunächst in Moskau und später im Kaukasus im Juni 1990, bei dem (mit unerwartet grossem sowjetischen Entgegenkommen) die entscheidenden Pflöcke für die deutsche Wiedervereinigung eingeschlagen wurden.
Im Erfolg eine seltene Geste der Demut
Damals, an Bord der Luftwaffen-Boeing „Konrad Adenauer“, erlebte man freilich auch eine der bei Kohl ganz seltenen Gesten einer gewissen Demut. Bei allem Lob für ihn, mahnte er die mitgereisten Journalisten, dürfe nie ausser Acht gelassen werden, dass die ja noch kurze Zeit zuvor für undenkbar gehaltene politische Entwicklung nur in dieser aussergewöhnlichen personellen Konstellation möglich war – mit Michail Gorbatschow und George Bush an der Spitze der wichtigsten Welt- und Siegermächte. Sie hätten beide, dazu auch noch unterstützt vor allem von den Sozialisten Francois Mitterrand in Frankreich sowie Felipe Gonzales in Spanien, volles Vertrauen in das Versprechen des Bonner Kanzlers entwickelt, das vereinigte Deutschland fest im europäischen Staatengefüge zu verankern.
Diese Szene ist irgendwie symptomatisch für das Bild Helmut Kohls in der Öffentlichkeit. Ausserhalb der deutschen Grenzen (wenigstens von Beginn der 90er Jahre an) zumeist hoch geachtet, wurde der Mann aus dem deutschen Südwesten daheim von einflussreichen Kreisen häufig geradezu genüsslich geächtet. Trotzdem, ungeachtet der seit vielen Jahren herrschenden und wahrscheinlich auch noch weiter andauernden kontroversen Diskussion in der Öffentlichkeit über den Pfälzer, gibt es, bei kühler Gewichtung, keinen Zweifel, dass er – neben Konrad Adenauer und Willy Brandt – zu den drei grössten Kanzlern im Nachkriegsdeutschland gehört.
Diese Dreierkette verbindet, bei aller Unterschiedlichkeit der einzelnen Personen, auch eine innere Handlungslogik. Adenauer sicherte die feste Einbindung zumindest der „alten“ Bundesrepublik in den Westen, unter und mit Kohl wurde nach 45 Jahren Teilung der Verfassungsauftrag der nationalen Vereinigung erfüllt, was wiederum nicht möglich gewesen wäre ohne die mutige (weil damals innenpolitisch erbittert bekämpfte) Politik der von Brandt geführten sozialliberalen Regierung mit der Öffnung nach Osten.
Stets unterschätzt
Es ist beinahe ein Treppenwitz der Geschichte: Helmut Kohl verdankt einen Grossteil seiner Erfolge der Tatsache, dass er Zeit seines bundespolitischen Lebens von seinen Gegnern unterschätzt wurde. Und dazu zählten durchaus auch zahlreiche Partei-„Freunde“. Natürlich hat es ihn geärgert und zu mancher Boshaftigkeit provoziert, wenn tatsächliche oder auch nur selbst ernannte Intellektuelle (besonders gern Journalisten und dort wiederum die sogenannten Leitmedien) ihn unentwegt zum „Provinzler“, zu „Durchschnitt“ oder gar zur „Birne“ herabstuften und dieses Bild mit Genuss ins Land transportierten.
Selbst heute noch, wo doch längst die Chance für Wissenschaftler wie für Medien zu einer nüchternen Aufarbeitung der Kohl‘schen Regierungszeit in Form einer Bilanz von „gelungen“ bis „nicht gelungen“ bestanden hätte, werden die Jahre 1982 bis 1998 in einer oft nur voneinander abgeschriebenen Kommentierung im Wesentlichen mit den Begriffen „bleiern“ und „aussitzen“ belegt.
Was für eine Fehleinschätzung – möglicherweise in Verbindung mit einer gewollten Ausblendung der Wirklichkeit! Als Helmut Kohl Anfang Oktober 1982 mit Hilfe der Freien Demokraten über ein Konstruktives Misstrauensvotum als Nachfolger von Helmut Schmidt ins Bonner Kanzleramt einzog, stand die Republik vor folgender Situation: Die Sozialdemokraten machten für den Sturz Schmidts zwar lauthals die FDP als „Verräter“ verantwortlich. In Wirklichkeit jedoch waren sie selber in zwei zentralen Bereichen dem von ihnen gestellten Bundeskanzler in Scharen davongelaufen: 1. In der von Schmidt (richtigerweise) selbst initiierten Frage einer westlichen Raketen-Nachrüstung gegenüber der Sowjetunion, und 2. bei der unumgänglich gewordenen Beschneidung weiterer sozialer Wohltaten, welche die Haushaltslage nicht mehr hergab.
500‘000 Demonstranten im Bonner Hofgarten
Kohls erste Entscheidungen schienen auf ein Harakiri hinauszulaufen. Gegen den Ratschlag seines innerparteilichen Intimfeindes, des CSU-Vorsitzenden und bayerischen Ministerpräsidenten Franz Josef Strauss, schrieb er (erfolgreich) vorgezogene Neuwahlen des Bundestages aus, um sich vom Vorwurf zu befreien, über einen „Staatsstreich“ an die Macht gekommen zu sein. Und er setzte im Parlament die Raketen-Nachrüstung durch, obwohl fast alle Welt ihm einen politischen Selbstmord vorhergesagt hatte.
Erinnert sich heute noch jemand an die millionenfachen Proteste, an die 500‘000 Demonstranten im Bonner Hofgarten gegen den angeblichen „Kriegstreiber“? Merkwürdig, innerhalb kurzer Zeit nach der Parlamentsabstimmung war der Spuk von den Strassen und Plätzen der Republik verschwunden. Und nur noch hoffnungslose Ignoranten geschichtlicher Abläufe bestreiten heute, dass nur mit diesem (innenpolitisch höchst riskanten) Kraftakt die spätere Rüstungskontroll- und Abrüstungspolitik in Ost und West eingeleitet werden konnte.
War das „Aussitzen“ und „Kahlschlag“?
War das etwa „Aussitzen“? Wie sah es denn zu Beginn der Kohl-Ära im Innern der Bundesrepublik aus? Zwei Millionen Arbeitslose, ein Rekord für die damalige Zeit. Fehlende Bereitschaft der SPD zur Sanierung des Staatsetats durch Verzicht auf unbezahlbare Sozialwohltaten, „Null-Bock“-Stimmung und weitgehende Leistungsverweigerung bei ungezählten jungen Menschen in den Schulen, Universitäten und Betrieben. Und was geschah anschliessend während des folgenden „konservativen Jahrzehnts“ in Deutschland? Es wurde gewiss nicht revolutioniert, aber es sind Fehlentwicklungen korrigiert worden.
Und die trieben wiederum Hunderttausende auf die Strassen: Rentenreform, Steuerreform, Gesundheitsreform. Oskar Lafontaine, der damalige SPD-Chef – der später zur einstigen DDR-Diktaturpartei SED (der heutigen „Linken“) desertierte – hatte die Genossen auf eine totale Blockadepolitik gegen jegliche Reformen eingeschworen. Die Vorwürfe gegen die schwarz-gelbe Regierung schwankten in jener Zeit zwischen „kaltschnäuziger sozialer Kahlschlag“ (SPD und Gewerkschaften) und „tatenloses Aussitzen“ (Teile von Industrie und Wirtschaft).
Basis für die Vereinigung
Dennoch wurde seinerzeit das Fundament für die hervorragende wirtschaftliche und finanzielle Situation der Bundesrepublik gelegt, ohne welche die gewaltigen Herausforderungen im Zuge der deutschen Vereinigung überhaupt nicht zu stemmen gewesen wären. So gesehen waren jene Jahre selbstverständlich „Wendejahre“. Es bleibt das Schicksal Helmut Kohls, dass er immer mit anderen Staatsmännern verglichen wurde. Um genau zu sein – es wurden nicht seine Leistungen zum Massstab genommen (bei tatsächlichen oder vermeintlichen Fehlleistungen war das natürlich anders), sondern Äusserlichkeiten wie der pfälzische Dialektklang seiner Sprache oder sein mit 1,93 Meter Körpergrösse „raumfüllendes“ Auftreten (die „Walz aus der Pfalz“), mangelnde Theatralik und scheinbare Biederhaftigkeit.
Gewiss, es fehlte bei ihm das Rheinisch-Listige eines Konrad Adenauer, der an preussische Kasernenhöfe erinnernde Kommandoton eines Helmut Schmidt, die feingeistig-aristokratische Ausstrahlung eines Richard von Weizsäcker oder die Sprachgewalt eines Franz Josef Strauss. Insofern strahlte er tatsächlich so etwas wie „Mittelmass“ aus.
Netzwerk und „Bauchgefühl“
Aber wenn der Schein, das medial ins Volk transportierte, oft karikierte Bild dieses Mannes wirklich der Realität entsprochen hätte – wieso hat die deutsche Bevölkerung ihn dann vier Mal wiedergewählt und damit 16 Jahre lang als Regierungschef ertragen? Richtig ist ohne Zweifel, dass Helmut Kohl ein durch und durch vom Machtwillen durchdrungener Politiker war. Die Partei, seine CDU, bedeutete ihm alles – im Zweifel sogar mehr als die eigene Familie. Aber er verstand sich zugleich als Patriarch in dieser Partei. Wer ihm loyal folgte, wurde belohnt – Untreue (oder was er persönlich darunter verstand) dagegen mit Höchststrafe belegt.
Genau in dieser Haltung lagen denn ja auch die bitteren, erbarmungslosen Kämpfe mit ehemals engen Weggefährten begründet. Heiner Geissler, Rita Süssmuth, Norbert Blüm, Kurt Biedenkopf und auch Richard von Weizsäcker waren schliesslich allesamt durch Helmut Kohl „etwas geworden“. Ihre spätere Opposition empfand der Pfälzer entsprechend als „Undankbarkeit“. Denn: „Die Hand, die einen segnet, sollte nicht gebissen werden.“
Lange Zeit immer der Jüngste
Helmut Kohl hat seinen Aufstieg sich selbst, seinem Kampfeswillen, seinem Durchhaltevermögen und – wenn man so will – auch einer aus dem christlichen Glauben kommenden Prinzipientreue zu verdanken. Er war lange Zeit immer der Jüngste auf den politischen Posten oder Pöstchen. Mit 16 Jahren Eintritt in die CDU; dafür musste sogar die Satzung geändert werden, weil man damals eigentlich 17 Jahre alt sein musste. 1959 mit 29 jüngster Abgeordneter im Mainzer Landtag. Zehn Jahre später, mit 39, jüngster Ministerpräsident eines Bundeslandes. Und schliesslich (1982), im Alter von 52, jüngster Bundeskanzler.
Kohl ist nie ein „Aktenfresser“ gewesen. Ihn als „Instinktmenschen“, als „Bauchentscheider“ zu bezeichnen, kommt der Wirklichkeit stattdessen bedeutend näher. Und dann die grosse Gabe, auf Menschen zuzugehen, sie für sich einzunehmen – ja, sie auch abhängig zu machen. Das war schon zu Beginn seiner „Führungskarriere“ so.
Dazu ein kleines, vielleicht skurriles Beispiel. Als Ministerpräsident im damals noch politisch wie wirtschaftlich und weitgehend klerikal bestimmten Rheinland-Pfalz hatte Helmut Kohl eine junge Mannschaft um sich geschart – u. a. Heiner Geissler, den er später als CDU-Chef zum Generalsekretär der Partei machte und der Jahre danach (auf dem Bremer Parteitag 1989) die Rebellion gegen ihn anführte. Oder Bernhard Vogel, Nachfolger Kohls in der Mainzer Staatskanzlei und nach der Vereinigung lange Zeit erfolgreicher Ministerpräsident in Thüringen. Kohl war Pfeifenraucher. Und mit einem Mal griffen nicht nur sämtliche männlichen Kabinettskollegen in Mainz ebenfalls zur Pfeife. Nein, sie benutzten sogar den gleichen Tabak. Der Chef war das Vorbild. Und dem galt es nachzueifern.
Telefon als Führungsmittel
Nein, mit modernen Management-Methoden hatte Helmut Kohls Regierungsstil gewiss nichts gemein. Für ihn waren persönliche Kontakte und persönliche Beziehungen massgebend. So schuf er sich ein dichtes Netzwerk, dessen wichtigstes Instrument der Fernsprecher war. So mancher CDU-Kommunalpolitiker fiel fast vom Hocker, wenn bei ihm früh morgens das Telefon läutete und sich am andern Ende ein „Helmut Kohl“ meldete. Diese Begabung, sich zu kümmern, ja, sich in den Anderen hineinzuversetzen und dessen Interessen wie Probleme ins eigene Kalkül aufzunehmen – dieses Talent war ganz sicher auch der wichtigste Schlüssel für Kohls Aussenpolitik.
Man vergesse, bitte, nicht: Trotz der mittlerweile laufenden Verhandlungen zwischen Ost und West über Abrüstung herrschte noch immer kalter Krieg. Und obwohl in Moskau Michail Gorbatschow mit der Perestroika eine neue Zeit versprach, gab es keine Garantie dafür, dass am Ende nicht doch die sowjetischen Panzer rollen würden, wenn in der DDR, in Polen und Ungarn die Lage aus der Kontrolle geriete.
Hier liegt eben die eigentlich grosse Leistung des Pfälzers. Besonders in den entscheidenden Phasen, in denen es um die Zukunft Deutschlands ging – und zugleich jener Europas. Mit einer unbedachten Interview-Bemerkung hatte der Kanzler Gorbatschow schwer beleidigt, als er ihn als den „grössten Propagandisten seit Goebbels“ bezeichnete. Dennoch kamen sich die beiden Männer bald menschlich sehr nahe. Unvergessen die Szene, als – bei einem Spaziergang im nächtlichen Park des Bonner Kanzleramts – Helmut Kohl auf den unten fliessenden Rhein wies und sagte: „Schauen Sie diesen Strom an. Man kann ihn gewiss eine Zeitlang mit einem Damm aufhalten. Aber irgendwann wird der überschwemmt. Und das würde auch bei einer noch höheren Mauer geschehen.“ Mit diesem Sprachbild beschrieb Kohl den Zusammengehörigkeitswillen des Volkes. Und Gorbatschow verstand.
„Man hörte das Eis klirren“
Er verstand es sogar besser als manche der europäischen Nachbarn, NATO- und EU-Partner. Die Vorstellung, aus den nach dem Krieg entstandenen beiden deutschen Staaten könne wieder ein Land werden, noch stärker und mächtiger als die westliche Bundesrepublik – das gefiel Niederländern, Italienern, Franzosen und (besonders) Briten überhaupt nicht. Auf dem Strassburger EU-Gipfel Ende 1989, erzählte Helmut Kohl später, habe man „das Eis förmlich klirren hören können“.
Italiens Regierungschef Giulio Andreotti erklärte sarkastisch, er liebe Deutschland. Und zwar so sehr, dass er am liebsten möglichst viele Deutschländer hätte. Londons „Eiserne Lady“, Margaret Thatcher, ging den Kanzler frontal an: „Wir haben Euch zweimal geschlagen, und jetzt seid Ihr schon wieder da!“ Ruud Lubbers, der Niederländer, kramte die Erinnerung an die Besatzungszeit hervor und liess keinen Zweifel daran, dass ihm eine Wiedervereinigung des östlichen Nachbarn überhaupt nicht gefalle. (Kohl zahlte ihm das heim, als er ihm beim EU-Gipfel in Korfu 1994 die Wahl zum Präsidenten der Brüsseler Kommission vermasselte).
Nicht zuletzt in Paris herrschte in jenen Wochen helle Aufregung. Präsident François Mitterand war kurz nach dem Fall der Berliner Mauer zu Gorbatschow nach Kiew gereist, um diesen an das alte Kriegsbündnis zu erinnern. Kurze Zeit später flog er nach London und bot Margaret Thatcher eine Neuauflage der „Entente Cordiale“ aus dem 1. Weltkrieg (!) an. Ja, wenige Tage nach dem Strassburger Gipfel unternahm er sogar noch einen Staatsbesuch in der bereits vor dem Untergang stehenden DDR. Es war derselbe Mitterrand, mit dem der deutsche Bundeskanzler fünf Jahre zuvor – im September 1984 – bei einer beeindruckenden von Sturm und Regen begleiteten Zeremonie auf den Schlachtfeldern von Verdun mit einem Handschlag die verhängnisvolle „Erbfeindschaft“ beendet hatte.
Deutschlandpolitik ist Europapolitik
Diese Phalanx aus Misstrauen und Sorgen vor einem neuen, vielleicht wieder gefährlichen Deutschland aufzubrechen, sie zu überwinden und eine stabile Vertrauensstruktur aufzubauen, glich mitunter schon einem Wunder. Von heute her gesehen, erscheint vielen die seinerzeit nach 45 Jahren Trennung endlich erreichte Wiedervereinigung fast wie ein normaler, folgerichtig abgelaufener Vorgang. Welch ein Irrtum! Aber das dramatische Geschehen hatte immerhin einen Nebeneffekt – es erzeugte Druck und förderte deutlich den Willen der damals Beteiligten, den europäischen Einigungsprozess zu beschleunigen. Es ist später, auch von deutscher Seite, immer mal wieder bestritten worden – tatsächlich aber war einer der wichtigsten „Türöffner“ dafür ohne jeden Zweifel die Bereitschaft vor allem Helmut Kohls, die deutsche Währungsdominanz in der EU zu beenden und (erneut gegen immense innere Widerstände) die D-Mark der Gemeinschaftswährung Euro zu opfern.
Jeder, der in der jüngeren Vergangenheit noch Zugang zu dem Ex-Kanzler hatte, berichtete über dessen tiefe Sorgen wegen der krisenhaften Entwicklung in der Europäischen Gemeinschaft. Die fast überall erkennbaren Tendenzen zu einer Renationalisierung, der Austritt Grossbritanniens, die Fokussierung speziell in Ländern wie Polen, Ungarn oder der Tschechischen Republik nahezu ausschliesslich auf materielle Vorteile unter weitgehender Ausblendung dessen, was einst als „gemeinsame Werte“ der EU gepriesen wurde – das muss jemanden zur Verzweiflung bringen, dessen Lebenswerk es war, aus den Trümmern der Kriege des „alten Kontinents“ jenes in der Geschichte einmalige Werk der Überwindung von Grenzen, Vorurteilen und gegenseitigen Übervorteilungen errichten zu helfen.
Den Absprung verpasst
Dem Pfälzer ist oft Sturheit nachgesagt worden. Das ist ganz bestimmt zu einem Teil richtig. Tatsächlich könnte daraus auch eine Ursache für Kohls letztendliches Scheitern gelesen werden. Wie so mancher Spitzenpolitiker vor ihm – Konrad Adenauer eingerechnet – hat er es versäumt, rechtzeitig einen für die Partei und die Bürger akzeptablen Nachfolger zu installieren. Schlimmer noch – der von ihm eigentlich als „Kronprinz“ vorgesehene Wolfgang Schäuble (heute Bundesfinanzminister) wurde von ihm kaltschnäuzig wieder abserviert.
Als die von Kohl geführte CDU/CSU-FDP-Koalition dann 1998 grandios die Bundestagswahlen verlor, waren keine Freunde mehr da. Helmut Kohl stand allein. Und genauso allein stand er ein paar Jahre später, als publik wurde, dass er 1989/90 hohe Summen an Spendengeldern an ihn, beziehungsweise die Union, rechtswidrig nicht gemeldet hatte. Dies diente ohne jeden Zweifel nicht der eigenen Bereicherung, sondern – wie man inzwischen weiss – dem Aufbau einer schlagkräftigen Parteistruktur in den damals wirklich noch „neuen Ländern“. Aber er stellte selbstherrlich sein den Spendern gegebenes Wort über Recht und Gesetz – und brachte die CDU (seine ihm normalerweise ja über allem stehende Partei) damit fast an den Rand der Selbstzerfleischung und des Untergangs. Auch das gehört zum Bild des Helmut Kohl.
Jetzt ist der einstige politische Koloss tot, den man einmal den „Schwarzen Riesen“ nannte. Zeitgenossen, einstige Freunde und Geschichtswissenschaftler werden sich ganz sicher auch in Zukunft an ihm reiben. Aber er war ein Mensch mit Ecken und Kanten, ein Mann mit Profil und ein Politiker mit Mut. Möglicherweise wird man ihn dereinst in die Reihe der knorrigen Politiker der „alten Schule“ einreihen. Jener Gestalter, die nicht in erster Linie nach demoskopischen Umfragen und dem Zeitgeist schauen, sondern ihren eigenen Einsichten, Überzeugungen und jener altmodischen Vorstellung folgen, die einst „Dienst am Gemeinwesen“ genannt wurde. Und eines wird Helmut Kohl auf jeden Fall bleiben – der Kanzler der deutschen Vereinigung.