Nadezhda Azhgikhina ist Dozentin an der bekannten Moskauer Lomonosow Universität und bildet Journalisten aus. Azhgikhina kennt nicht nur die Metropolen Moskau und Sankt Petersburg, sondern auch kleinere Städte in der Provinz, die sie als Direktorin des Pen-Clubs Moskau oft besucht.
Das „passive russische Volk“ – ein Vorurteil
Dort erlebt sie eine erwachende Zivilgesellschaft. „Heute verlangen die Bürger von den Beamten“, so Azhgikhina, „ dass sie ihre Wahlversprechen erfüllen. Das Volk fordert Respekt. Und das Verlangen von Respekt zeigt, wie sich die russische Gesellschaft entwickelt.“ Früher erwartete das Volk vom Staat finanzielle Unterstützung, zum Beispiel im Wohnungswesen, oder Hilfe bei der Beschaffung von Lebensmitteln. Die Landwirtschaft habe sich entwickelt. Es gebe genug Lebensmittel.
Das „passive russische Volk“ erweise sich immer mehr als Vorurteil. „Allerdings fehlen dieser erwachenden Gesellschaft neue, junge Leader.“ Nadezhda Azhgikhina hofft jedoch, dass sich das in den nächsten Jahren ändern werde.
In der „Medienwüste“ gibt es immer mehr Oasen
Als Vizepräsidentin der „Europäischen Föderation der Journalisten“ korrigiert Azhgikhina die im Westen verbreitete Vorstellung, in Russland herrsche eine Medienwüste: „In dieser Wüste gibt es immer mehr Oasen.“ Zum Beispiel: Russlands grosse Tageszeitungen wie die Wirtschaftszeitung Vedemosty, Kommersant, die Nesavisimaya Gazeta oder die kremlkritische Zeitung Novaya Gazeta. Sie erreichen über ihre Online-Ausgaben Millionen von Lesern. Mit anderen Worten: Medien, die eine breite Leserschaft gewinnen wollen, müssen eine regierungskritische Linie verfolgen. Sonst verlieren sie Abonnenten und Werbung.
Vom westlichen Ausland kaum beachtet werden regionale Fernsehsender wie beispielsweise TV2 in der sibirischen Stadt Tomsk. Seit mehr als zwanzig Jahren gilt TV2 als Garant für unabhängigen Journalismus. Ein Versuch, den Sender zu schliessen, scheiterte an einem in Moskau ansässigen Schiedsgericht, das dem Sender die Lizenz verlängerte.
Die überregionalen Fernsehanstalten werden vom Kreml kontrolliert. Ein grosser Teil der jungen Generation schaut jedoch kein Fernsehen mehr, sondern informiert sich über das Internet, das der Kreml nicht im Griff hat .
„Ich würde Putin wieder wählen“
Als ich Boris Osipov 2003 zum ersten Mal traf, glich er buchstäblich einem Obdachlosen. Das kleine Unternehmen, in dem Osipov bis heute angestellt ist, stand kurz vor dem Bankrott. Boris wirkte nervös und seine Kleider sahen ärmlich aus.
Während dieser Reise traf ich Boris Osipov erneut. Mit Stolz erzählte er, wie er eine Lohnerhöhung erhalten habe und sich jedes Jahr zwei Wochen Ferien in Litauen leisten könne. Allerdings beklagte sich Osipov über die steigenden Lebenskosten und machte dafür die Regierung verantwortlich. Dennoch: „Ich würde Putin wieder zum Präsidenten wählen. Denn Putin ist der Garant für Stabilität und Ordnung in Russland.“ Gleichzeitig hat Osipov Angst vor einem neuen Krieg, den er selber aber nicht genau umschreiben kann. Zum Schluss unseres Gesprächs meinte Boris Osipov: „Das russische Volk hat Kriege und Hungersnöte überlebt. Wir haben deshalb auch die Kraft, uns neuen Herausforderungen zu stellen.“
Der 58 jährige Osipov gehört zu Putins Wählern. Sie würden, das bestätigt auch das vom Kreml unabhängige Meinungsforschungszentrum Lewada, eine Wiederwahl Putins unter freien und fairen Bedingungen garantieren.
Laut Verfassung sollte Präsident Putin 2024 zurücktreten. Wer aber wird sein Nachfolger? Weil es bis heute dazu nur Gerüchte gibt, beschäftigen sich viele Politologen und Journalisten mit dieser Frage. Das gilt auch für den bekannten Journalisten Valery Jakow, der von der „Russischen Journalisten Union“ mit dem Preis der „Goldenen Feder“ ausgezeichnet wurde. „Es ist möglich“, so Yakow, „dass Putin formell zurücktreten, aber seinen Nachfolger wie einen Stellvertreter kontrollieren wird.“
Russland wird nicht zerfallen
Russland könnten aber auch schlimmere Zeiten bevorstehen. Yakow erinnert sich an Aussagen von Putins langjährigem Finanzminister Alexander Kudrin. Der Wirtschaftsexperte Kudrin befürchtet, Russland könnte Opfer einer Stagnation werden, die schlimmer als unter Leonid Breschnew ausfallen könnte. Unter Stagnation versteht man in Russland eine Periode, die jede Hoffnung auf Wandel und Reformen zunichte macht. Aber Russland werde nicht wie die Sowjetunion zerfallen.
Der Journalist und ehemalige Chefredaktor von Novie Iswestia, Valery Jakow, zitiert Nikolai Nekrassow (1821–1878), der sich schon damals die Frage gestellt hat, ob Russland je eine demokratische Zukunft haben werde: „Es tut mir leid, in dieser wunderschönen Epoche wirst weder du noch ich am Leben sein.“ Auch Yakow ist sich bewusst, das jahrhundertelang autoritär regierte Russland könne nicht morgen oder übermorgen eine Demokratie werden.
Unter Hausarrest
Valery Yakow ist heute Präsident und Gründer der Organisation „Stern des Theaters“. Jedes Jahr werden im berühmten Moskauer Vachtangow-Theater in einer festlichen Atmosphäre die besten Schauspieler und Regisseure ausgezeichnet. Die Zuschauer bestimmen selber, wer diese Preise erhält. Dabei können die Fans des russischen Theaters weltweit online abstimmen.
Mit einem Preis geehrt wurde dieses Jahr der weltberühmte Regisseur Kyrill Serebrennikow. Er ist Regisseur des musikalischen Spektakels „Nurjew“. Serebrennikow konnte den Preis nicht entgegennehmen, weil er wegen angeblicher Veruntreuung öffentlicher Gelder vor Gericht und zur Zeit unter Hausarrest steht.
Mit einem Preis ausgezeichnet wurde auch der Regisseur Juri Butussow für seine Inszenierug von „Hamlet“. Er bedankte sich beim Publikum mit einer Rede, in der er russische Bürokraten scharf kritisierte, die sich in die Welt des Theaters einmischten. Auf die Frage eines Regisseurs, ob Russland unter dem Einfluss der Wirtschaftssanktionen des Westens zu leiden habe, antwortete Butussow: „Es geht uns gut. Alle Theaterkarten sind bei uns immer ausverkauft.“ Das Publikum reagierte mit einem Beifallssturm.
„Ein totalitäres Regime?“
Tatjana Vorozejkina lehrt an der Moskauer Hochschule für Sozial- und Wirtschaftswissenschaften. Die Politologin war aus gesundheitlichen Gründen verhindert, ein Gespräch zu führen. Statt dessen übermittelte Vorozejkina einen von ihr in der Zeitschrift Osteuropa publizierten Artikel (Heft 8–9/2018), der auf ähnliche Fragen Antwort gibt:
„In den Jahrzehnten nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion gelang es Russlands Gesellschaft und ihren Intellektuellen nicht, die Ursachen und grundlegenden Faktoren, die zum Zusammenbruch des letzten Imperiums auf dem europäischen Kontinent geführt hatten, ernsthaft aufzuarbeiten. Im Gegenteil, das irrationale Gefühl des Verlusts ging mit einem wachsenden Ressentiment einher, einer Mischung aus Gekränktheit und Neid.“
„Räume relativer Freiheit“
„Im heutigen Russland hat die Kontrolle ungeachtet der zunehmenden Repression und der ideologischen Gehirnwäsche durch das Staatsfernsehen auf keinen Fall totalitären Charakter. Es gibt immer noch Räume relativer Freiheit, auch wenn diese enger werden: In den Massenmedien, im Internet, in der Kultur und – in geringerem Masse – im Bildungswesen. Und weiterhin artikuliert sich, etwa auf der Strasse, auch offene Opposition gegen das Regime.“
* Roman Berger war 1991–2001 Moskau-Korrespondent des Zürcher Tages-Anzeigers und reist regelmässig nach Russland.