Eigentlich sollten die Richter am Karlsruher Bundesverfassungsgericht zunächst nur in einem Eilverfahren bewerten, ob Bundespräsident Joachim Gauck die jüngst vom Deutschen Bundestag und der Länderkammer Bundesrat mit Zweidrittel-Mehrheit gebilligten Beschlüsse unterzeichnen darf: die deutsche Zustimmung zum sogenannten „Europäischen Stabilitäts-Mechanismus“ (ESM) und dem „Fiskalpakt“. Beide waren von den Staats- und Regierungschefs der EU-Mitglieder in Brüssel beschlossen worden – um, einerseits, die dramatisch in der Krise steckenden Euro-Länder zu stabilisieren und, andererseits, der gesamten 27-er-Gemeinschaft endlich ein enges Korsett für Sparsamkeit und Haushaltsdisziplin zu verpassen. Aber die obersten Verfassungshüter lassen sich nicht unter Zeitdruck setzen. Sie wissen, dass ihr Urteil das deutsche Staatswesen nachhaltig verändern könnte. Sie wissen indessen nicht, ob das zugleich eine Stärkung „Europas“ bedeuten würde.
Es passiert nicht oft, dass einem Gericht von einem Kläger mitfühlend bescheinigt wird, er sei froh, nicht an dessen Stelle zu sein. Das war der Fraktionsvorsitzende der „Linken“ im Deutschen Bundestag, Gregor Gysi, der dies zu Beginn der Karlsruher Verhandlung über den Euro-Rettungsschirm in Richtung der acht Männer in den roten Roben sagte. Gysi und seine Fraktion hatten das Bundesverfassungsgericht (BVG) unmittelbar nach der Berliner Parlamentsabstimmung über die beiden Euro-Gesetze angerufen. Und sie waren keineswegs allein. Ebenfalls geklagt haben mit etwa 30 000 Unterschriften ein Verein „Mehr Demokratie“ um die einstige Bundesjustizministerin und SPD-Politikerin Herta Däubler-Gmelin sowie der Münchener CSU-Bundestagsabgeordnete Peter Gauweiler. Sie alle eint – ungeachtet unterschiedlich großer Sorgen um eine möglicherweise unerträgliche Belastung der heimischen Steuerzahler – die Befürchtung, durch die geplanten Rettungsmaßnahmen für die gemeinsame Währung gebe der Deutsche Bundestag mit seinem „Königsrecht“ (der Budgetkontrolle) das wichtigste Recht an „Brüssel“ ab und entmachte sich damit unwiederbringlich selbst. „Wozu“, fragt beispielsweise die Ex-Justizministerin Däubler-Gmelin, „brauchen wir dann überhaupt noch ein Parlament?“
Auf dem Weg in eine „Haftungsunion“?
Die Situation um das Karlsruher Verfahren ist selbst für aufmerksame Beobachter nicht leicht zu durchschauen. Immer wieder – zuletzt im vergangenen November - hatte das Verfassungsgericht in der Vergangenheit von der Bundesregierung beschlossene und der Parlamentsmehrheit gebilligte deutsche Finanzhilfen z. B, für das insolvente Griechenland, aber auch zugunsten anderer EU-Krisenländer durchgewunken. Stets allerdings versehen mit der Mahnung, bestimmte Obergrenzen dürften nicht überschritten und eine Vergemeinschaftung der Schulden müsse unter allen Umständen ausgeschlossen werden. Genau das sehen jetzt die Kläger mit Gysi und den „Linken“ sowie Peter Gauweiler praktisch ausgehebelt. Im Gegensatz etwa zu Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble erkennen die Kritiker Deutschland jsehr wohl auf dem Weg in eine „Schulden- und Haftungsunion“.
Mochten sich die schwarz-gelbe Bundesregierung, aber auch die Spitzen der oppositionellen Sozialdemokraten und Grünen der Erwartung hingegen haben, die Verfassungsrichter würden das angestrebte Eilverfahren zügig behandeln, so sahen sie sich schnell getäuscht. Offiziell soll, so die Kläger, dem Bundespräsidenten untersagt werden, die umstrittenen Gesetze zu unterzeichnen, bevor ein Urteil in der Hauptsache ergangen ist Das, freilich, hat Joachim Gauck (gewiss nach eingehenden Telefonanten zwischen Karlsruhe und dem Berliner Präsidialamt) ohnehin bereits so entschieden. Dass das BVG sich nicht auf ein Hauruck-Verfahren einlassen würde, hatte sich zudem schon durch den Beschluss angedeutet, trotz des angestrebten Eilverfahrens eine öffentliche Anhörung zu veranstalten. Und Gerichtspräsident Voßkuhle ließ schon frühzeitig keinen Zweifel daran aufkommen, dass Genauigkeit über Geschwindigkeit gehe: „Auch in ungewöhnlichen Krisensituationen darf die Verfassung nicht außer Acht gelassen werden“. So war es denn auch kein Wunder, dass das Gericht den Prozessbeteiligten viele kritische Fragen stellte.
Der „Tag von Karlsruhe“ hat noch kein einheitliches Stimmungsbild des obersten Gerichts offenbart. Wie auch? Der Mitglieder des Senats wissen natürlich, dass letztendlich ihr Spruch unabsehbare politische Konsequenzen nach sich ziehen kann – sie mithin die Wahl zwischen Pest und Cholera haben. Was würde mit „Europa“ geschehen, wenn Deutschland aus Verfassungsgründen untersagt würde, sogar mit einer Zweidrittel-Parlamentsmehrheit gebilligte EU-Verträge einzuhalten? Bedeutete das das Ende der außenpolitischen Handlungsfähigkeit Berlins? Was würde mit dem Wirtschaftsgefüge EU geschehen, wenn sch ausgerechnet das ökonomisch und fiskalisch stärkste Mitglied zurückzuziehen hätte? Welche Wirkungen hätte das auf die heimische, aber auch auf die globale Wirtschaft? Andererseits: Was hätte ein – wenn auch demokratisch gewähltes – Parlament noch zu sagen, zu bestimmen und zu kontrollieren, wenn es seine stärkste Waffe (das Budgetrecht) abträte? Und dies auch noch, ohne dass das Europäische Parlament vollgültig seine Stelle einnehmen könnte? Und was wäre die Folge, wenn der ESM-„Rettungsschirm“ aufgrund diverser nationaler Misswirtschaften oder wessen auch immer selbst in die Krise geriete? Müsste dann weiter „gutes Geld“„nachgeschossen“ werden?
Schwindelnde Milliardenhöhen
Die in Rede stehenden Summen erreichen ja auch Schwindel erregende Höhen. Offiziell und vordergründig ist im „Europäischen Sicherheits-Mechanismus“ (ESM) ein deutscher Haftungsanteil von 190 Milliarden Euro veranschlagt. Das ist ungefähr der Rahmen, den das Verfassungsgericht in seinem Spruch vom November 2011 als noch tolerabel bezeichnete. Aber nur als Obergrenze! Der Bundeshaushalt dürfe jedenfalls nicht in einem Maße in Anspruch genommen werden, der das Parlament auf Dauer handlungsunfähig machen würde. Aber darf man diese Summe wirklich isoliert betrachten“ Oder gibt es vielleicht noch weitere „Summierungsrisiken“ (Voßkuhle)? Muss man nicht, logischerweise, den deutschen Anteil am ja noch immer auch bestehenden provisorischen Rettungsschirm (EFSF), das Geld für das Griechenland-Rettungspaket oder den deutschen Part an den von IWF und Europäischer Zentralbank übernommenen Risiken mit einrechnen? Peter Gauweiler (CSU) jedenfalls kommt auf rund 900 Milliarden Euro in der Summe, die juristischen Vertreter der „Linken“ rechnen gar mit Risiken in Höhe von zwei Billionen Euro.
Die Verfassungsrichter verkennen nicht den Druck, unter dem andererseits die politisch zum Handeln Gewählten stehen, wenn zum Beispiel Finanzminister Schäuble warnt, ein Stopp der Rettungsmaßnahmen könne zu „erheblichen wirtschaftlichen Verwerfungen mit nicht absehbaren Folgen für die Bundesrepublik“ führen. Und dennoch lassen sie sich nicht unter Zeitdruck setzen. Hatte man zunächst allgemein mit einem „Eil“-Urteil bis Ende Juli gerechnet, so muss jetzt vermutlich noch sehr viel länger gewartet werden. BVG-Präsident Voßkuhle schwebt offensichtlich eine Art „Zwischenverfahren“ vor – eine sehr sorgfältige Prüfung im Eilverfahren, deren Ergebnis dann unter Umständen das Urteil in der Hauptsache schon vorwegnehmen könnte.
Zur Erinnerung: Eigentlich sollte der ESM-Rettungsschirm am 1. Juli in Kraf treten…