Von Andy Aguirre Eglin
Ein Kritiker ist jemand, der durch Krisen geht und sich entscheidet. Für oder gegen. Zum Beispiel für Menschenliebe und gegen Menschenhass. Für Poesie und gegen Machart. So sind für mich als Filmkritiker manche gefeierten Regisseure, ihre gar als „heilige Kühe“ hochgejubelten Werke nur versierte Filmer von Machwerken – vielleicht kreative Handwerker, aber keine Autoren, keine Poeten. Poesie hat immer mit der Utopie zu tun – einer besseren Welt, ist leidenschaftliche Spurensuche menschlicher Transzendenz – keinesfalls aber blosse Abbildung oder gar Ästhetisierung menschlicher Zerstörung. Wahre Meisterwerke der Filmkunst sind solche, die Zärtlichkeit vermitteln, die auch in tiefsten Abgründen des menschlichen Daseins noch Hoffnung ins bewegte Bild rücken, die in uns etwas bewegen. Solche Bilder sind erst wirklich bewegt.
Big Business und Gewalt
Kulturkritik hat auch mit Kulturkampf zu tun, wozu meist höflich gelächelt wird. Als 1991 in „Wild At Heart“ auf der Piazza in Locarno ein geköpfter Kopf über die Leinwand raste und sein Filmleben aushauchte, fanden das die meisten lustig. Fürwahr ein Gag im Film, doch nicht im Leben. Auch unter den Kritikern wagte kaum jemand der allgemeinen Begeisterung ob der raffinierten Flugbahn eines Menschenkopfes, der eben noch sprach, zu widersprechen. Eine noch heute löbliche Ausnahme war Walter Ruggle, damals Filmkritiker des „Tages Anzeiger“, nun engagierter Verleiher und Mitproduzent von Trigon-Filmen. Es geht hier um keine ‚Minima Moralia“ (Adorno), sondern um Verantwortung. Das Entsetzen über Amokläufe mit realen Toten in Deutschland, USA und anderswo ist ebenso naiv wie bigott. Solange die Waffenindustrie nicht ruht, solange die Kultur-industrie menschliche Gewalt ritualisiert, gar als Kunstwerke zelebriert. Dass sich auch der eigene Sohn über „Pulp Fiction“ amüsiert. Man bewundert das Schiessen und vergisst dessen Folgen. Vielleicht sehen wir am Fernsehen davon zuviel, vielleicht bannen wir den Schrecken im therapeutischen Rollenspiel? Doch können die Opfer von Folter wirklich genesen, indem sie selber foltern – self-saving by faking tortures?
David Lynch und Quentin Tarantino sind gefeierte Kultfiguren der Kultur-schickeria, und finden massenweise noch billigere Nachahmer in der Game Industry, im Web. Man muss man sich über reale Gewalt nicht wundern und wundert sich doch. Film und Leben führen eine verhängnisvolle Ehe. Was für Stellvertreterkriege führen die Nachsteller von Gewaltexzessen aus dem realen Leben im irrealen Kino? Warum ergötzen sich so viele am Götzen Gewalt? Geht es der Filmindustrie nur um ihr Goldenes Kalb? Hat das ganze Trauerspiel ein System, ist z.B. Hollywood unterwandert von der US-National Riffle Association?
Wie heissen doch gleich die Investoren von „Lethal Weapon“? – Michael Moore war an der Frage schon mal dran in „Bowling for Columbine“ (USA 2002). Was macht auch für die Programmverantwortlichen von Locarno jedes Jahr wieder Gewalt so sehr zum Faszinosum, dass sie das Festival auf der Piazza mit solch destruktiven Delirien eröffnen? – Im letzten Jahr (2011) war es „Super 8“ von Steven Spielberg (!), heuer „The Sweeney“ von Nick Love (GB 2012). Wobei man dem letzteren nebst der unzumutbaren Gewaltorgie immerhin noch die subtile Studie einer nicht korrumpierbaren Männerfreundschaft nachschreiben kann. Insofern führt eine Alternative aus der mechanistischen Spirale hinaus. Doch ist die schwer nachvollziehbare Lust an der Darstellung von Gewalt nicht nur ein machistisches Phänomen. Es kompensiert sich dabei nicht nur der unterdrückte Urschrei männlicher Nachfahren von Affen aus realem frustrierenden Büroalltag. So war eine Kollegin der schreibenden Zunft über „Baise-moi“ (France 2000) von Virginie Despentes, worin zwei bekannte Pornodarstellerinnen wahllos Männer aufreissen und nach offen gezeigten Sexualakten in einem unwahren Blutrausch abschlachten, hellauf begeistert – wohl aus feministischen Rachegelüsten.
Auch der diesjährige Wettbewerbsbeitrag aus Italien „Padroni di Casa“ (Italia 2012) des jungen Regisseurs Eduardo Gabbriellini kopiert bei Lehrmeistern des Gewaltfachs. Die Settings gleichen sich im Theater wie im Film: Ob ein solches „Fegefeuer in Ingolstadt“ (von Marieluise Fleisser) stattfindet oder anderswo, bei Fassbinder oder amerikanischen Western: Diesmal transferiert sich einer in den Apennin. Statt Goldsucher kommen Fliessenleger aus Rom für einen Auftrag in eine Villa aufs Dorf und bringen ahnungslos die Eiterbeule latenter Aggression hinter der Langeweile in der Provinz zum Platzen. Eine Kinostunde später liegen ein ungeschützter Wolf leblos unter der Plane auf der Ladebrücke des Pick-up und drei Tote im Treppenhaus. Wie die Verstörung wieder von den Gesichtern verschwindet, zeigen solche Filme nie.
Small business und Gewalt
Gewalt ist nicht nur gut im Geschäft, als Handelsware und Abbild der Welt, wie sie vielfach ist – Gewalt ist auch der Zement von Hierarchien, damit sie nicht bröckeln. Gewalt geschieht aus Angst und führt zu Angst. Gewalt ist das letzte Mittel, wenn Menschen unfähig sind zu lieben. Sie ist die extremste Form von Abgrenzung: Man zerstört lieber, das Fremde, das man nicht liebt, womit man sich nicht verbinden kann. Solches geschieht im Film auch backstage: 1983 spielte ich noch selber auf dem Set. Es war ein Hirtendrama in Sardinien am schönen, stillen, würzigen Arsch der Welt mit dem Autor von „Padre Padrone“. Gavino Ledda wirbelte eine harmlose Schlange durch die Luft, war gerade dabei, sie unnötig zu töten im ‚Dienste’ des Drehbuchs. Ich gebot ihm Einhalt und flog aus der Produktion. Danach kürzten sie „Hybris“ (Italien 1984) um eine ganze Episode mit mir als Hauptdarsteller.
Hanna und die Leere
Was macht gutes Kino aus? Womit überzeugen Schauspieler? – Als schlechtes Beispiel erinnere ich eine Hotelszene in „Antonieta” von Carlos Saura (España 1981) mit der überschätzten Hanna Schygulla, einst die Muse von Fassbinder: Eine Frau bezieht mit ihrem Gepäck ein Hotelzimmer – allein. Kein Anruf, kein Monolog als nur Schweigen mit sich selbst. Wie vergeht nun diese eine Minute? – In einer solchen Situation zeigt sich das wahre Können einer Schauspielerin. Was tun wir selber, wenn wir irgendwo warten, uns entspannen, innehalten? – Wir tun nichts, wir sind einfach. Und tun dabei doch vieles, ohne zu wissen, dass wir es tun. Wir beschäftigen uns mit dem Fingernagel, streichen ein Haar vom Kleid, starren in die Flecken an der Wand, weil sie sich strecken wie zum Hals von einem wiehernden Pferd. Und denken dabei an Sex, Geld, an den Tod, an die Eisdiele oder an gar nichts. – Nun, Hanna Schygulla war nicht wirklich da, sie tat nur so und tat – in durchschaubarer Absicht – vieles. Ihr Tun verriet Angst vor dem leeren Raum, vor der Tatsache, dass sie ihn nicht füllen konnte, aber wollte.
Ode an eine Pantoffelheldin – „Une Estonienne à Paris“ (France, Estonia, Belgium)
Ganz anders verhält es sich mit den beiden Darstellerinnen im bisher dichtesten, wohl auch unscheinbarsten Film der 65. Ausgabe des Filmfestivals von Locarno. Zwei Estländerinnen treffen sich in Paris: „Anne“ (Laine Mägi) reist an aus dem Schneetreiben ihrer Heimat, nachdem ihre Mutter ganz erkaltet ist – zu „Frieda“ (Jeanne Moreau), die schon lange und gediegen an der Seine residiert. Anne soll sich um Frieda kümmern, die eitel und depressiv mit dem Alter hadert. Wer eine solche Inhaltsbeschreibung liest, weicht erstmal aus zu scheinbar attraktiveren Filmen im Programmheft, bis er die 3. und letzte Chance zur Sichtung noch packt.
Man bereut es nicht, sondern verfolgt – plötzlich hellwach – die Tiefenschärfe der Kamera, wie sie unaufgeregt auch stumme Gesichter Bände sprechen lässt. Eine Stimmung wie im „Mädchen aus der Streichholzfabrik“ (Finnland 1990) von Aki Kaurismäki legt sich in die ruhigen, kargen, aber umso vielsagenderen Bilder. Die manchmal ohne Bedeutung – im Gegensatz zum dramaturgisch verplanten Amerikanischen Kino – auf leblosem Interieur ruhen und gerade dadurch Inhalt und Atmosphäre gewinnen. Unterstützt von einem ebenfalls exzellenten Sound, lyrischem Jazz zwischen Jan Garbarek und Stan Getz, entfaltet sich zwischen den beiden Frauen nach etlichen Hürden eine Freundschaft. Dabei öffnet Frieda wohl ebenso wie Jeanne Moreau im richtigen Leben ihr weiches Herz unter der rauen Schale. Womit wir auch beim authentischen Film und wirklichkeitsnahem Schau-spiel ankommen: Denn Laine alias „Anne“ verliert in einer Szene beinahe ihren einen Pantoffel und zieht diesen wieder über die Ferse. Ganz so, wie es im Leben zufällig geschieht. Was die Amis wohl rausschnitten, macht sie im Europäischen Kino zur Pantoffelheldin in einem Film mit guter Aussicht auf einen Leoparden.