Für einen Höhepunkt sorgte Michael Köhlmeier als Interpret altgriechischer Mythen.
Dass die grosse Liebe nur eine grosse Unordnung bewirken und sein kann, kommt einer Binsenwahrheit sehr nahe. Oder kann man sich unter einer ordentlichen Liebe etwas Aufregendes, etwas Erschütterndes und Gewaltiges vorstellen? Schwerlich. Die Literatur jedenfalls hat es fast ausschliesslich mit Unordnung zu tun, wenn sie ihr Lieblingsthema, eben die Liebe, bearbeitet. Safranskis diesjährigen Gästen fiel es denn auch nicht schwer, die Zuhörerschaft mit allen möglichen und unmöglichen Liebesabenteuern zu unterhalten.
Kunststück auf dem hohen Seil
Herausragend der Auftritt des österreichischen Autors Michael Köhlmeier, der ein ihn seit Jahren beschäftigendes Thema präsentierte, sich von einer Harfenistin begleiten liess und so etwas wie einen Hochseilakt ohne Auffangnetz vollführte; bravourös, was ihm den begeisterten Applaus des Publikums einbrachte. Köhlmeier erzählt Sagen des klassischen (griechischen) Altertums und er erzählt wie die antiken Barden, also frei, ohne Manuskript. Er hat seine Versionen der alten Mythen in Buchform publiziert und er trägt sie seit den Neunzigerjahren am Radio und am Fernsehen vor. Ihn live zu erleben, das führt in eine andere Dimension. Da lässt sich förmlich mitvollziehen, wie im Reden aus Sprachmaterial eine verzwickte, vielschichtige Geschichte wird.
Liebesunordnung ist ja ein prägendes Merkmal der antiken Sagen. Angeführt und angefeuert von Zeus, dem notorischen womanizer, der sich je nach erfolgsversprechender Strategie als Gott, Mensch oder Tier der Frau offenbart, wimmelt es im Olymp und auf der Erde nur so von flammenden, glühenden, wundersamen, tabuisierten, gewaltsamen Liebesgeschichten; viele von ihnen nehmen ein trauriges, wenn nicht ein fürchterliches Ende. Folgen dieser erotischen Epidemie sind die komplexen verwandschaftlichen Verhältnisse, die in den überlieferten Sagen, Märchen, Fabeln der griechischen Mythologie vorherrschen. Tatsächlich ist da über kompliziert verästelte Stammbäume jeder mit jeder verwandt, wobei es sich freilich meist um nicht offenbare, geheim eingegangene, also um ganz inoffizielle Verhältnisse handelt.
Köhlmeier verfügt über eine herzerfrischend zupackende Art, um die vielschichtigen Stoffe, um die es ihm geht, ans Publikum zu bringen. Er fängt an, eine der schön-grauslichen Liebesunordnungen auszulegen, tut so, als ob er sich im Gestrüpp der Geschichte verheddern würde, bittet das Publikum um Geduld und Nachsicht, weil er, um die story auf den Punkt zu bringen, zuerst zurück muss, in die Vorgeschichte der Geschichte, wo dann eben verwandschaftliche Bindungen zu entdecken sind und daraus resultierende mörderische Konflikte, die ersichtlich machen, warum es so und nicht anders kommen musste.
Diesseits und Jenseits
Der Erzähler entmythologisiert die Mythologie, spart dabei nicht mit Witz und Humor und lässt einen verstehen, warum die wilde Mischung aus Diesseits und Jenseits, warum diese Helden und Schurken, diese menschlich-allzumenschlichen Halbgötter und Götter des klassischen Altertums über die Jahrhunderte hinweg unsere Philosophen, Dichter, Dramatiker, Komponisten, Maler inspiriert haben. Zum guten Ende nimmt sich Köhlmeier den Odysseus vor, den grossen Dulder, den Klügsten der Klugen, den er als heimtückischen, nachträgerischen und rachsüchtigen Intriganten denunziert, als Lügner und Schönfärber. Von den zehn Jahren, die Homer den Armen durch die Welt segeln lässt, wobei er laufend die schrecklichsten Abenteuer bestehen muss, hat er tatsächlich sieben im Bett der Zauberin Circe verbracht und eines bei ihrer Kollegin Calypso.
Aber es ist dann doch der gleiche, unübertreffliche Homer, meint Köhlmeier, der ihn, den Spätling, mit der Figur des Odysseus versöhnt. Im fünften Gesang der Odyssee erleben wir, wie der traurige und sehnsüchtige Irrfahrer Calypso zurückweist, das Leben mit ihr in Liebe, in Saus und Braus ausschlägt, weil er nur einen Wunsch hat: zurück nach Ithaka, zurück zu seiner Frau Penelope, die er seit zwanzig Jahren nicht mehr gesehen hat und von der er seither nichts weiss. Die grosse Liebesunordnung mündet in ein Bekenntnis zur ehelichen Verbundenheit. Und das wird ja, wie wir dank Homer wissen, am Ende auch eingelöst – wenn auch um den Preis eines fürchterlichen Blutbads.