Seit Mitte Oktober fegen heftige Gewitterstürme über die Stadt. Einzig an Allerheiligen zeigt sich die Sonne. Doch in den ersten Novembertagen scheint es, als stürzten Wildbäche vom Himmel.
Florenz lässt sich nicht aus der Ruhe bringen. Die Stadt ist an diesem 3. November in Festlaune. Überall wehen Trikoloren. Der Tag danach, der 4. November, ist ein Feiertag. Mit Grossanlässen gedenkt man des Sieges im Ersten Weltkrieg.
Das „Kino Verdi“ ist bis auf den letzten Platz besetzt. Gezeigt wird John Hustons 190 Minuten-Epos „Die Bibel“. Erzählt darin wird auch die Geschichte von Noah und der Sintflut. Und eine solche nähert sich jetzt der Stadt.
Die Zentrale interessiert sich nicht
Gegen Mitternacht wird es ruhig in den Strassen und Gassen. Florenz geht schlafen. Zwei Stunden später, vor 50 Jahren, geht es los. Es ist der 4. November 1966.
Marcello Giannini hat eben die Zentrale des italienischen Radios und Fernsehens RAI in Rom angerufen. Er spricht von dramatischen Szenen. Doch die Zentrale interessiert sich nicht.
Überall tote Tiere, Fäkalien und Heizöl
Der Fluss Arno tritt über die Ufer. Dämme brechen, Auffangbecken sind überflutet. Im Arno-Tal zwischen Arezzo und Florenz steht die Autostrada del Sole unter Wasser. Die Eisenbahnlinie ist unterbrochen. Die Städtchen Montevarchi, Figline und Pontassieve sind schon überschwemmt. Jetzt wälzt sich die Flut talabwärts Richtung Florenz.
Um 03.48 Uhr meldet die italienische Nachrichtenagentur Ansa: „Die Situation wird immer schlimmer, Wasser dringt in die Häuser ein.“ Im Laufe des Tages wird der Arno 50 Millionen Kubikmeter Geröll, Schlamm und Unrat in Strassen, Gassen und Häuser schwemmen. Der Strom fällt aus, überall treiben tote Tiere, Fäkalien und Heizöl. An einigen Orten steht das Wasser bald sechs Meter hoch. Es ist die wuchtigste italienische Naturkatastrophe seit Menschengedenken.
Die Gefangenen auf freien Fuss gesetzt
Um 07.00 Uhr steht die Druckerei der Zeitung „La Nazione“ fünf Meter tief im Wasser. Zwei Drittel der Stadt sind überschwemmt. Um 09.00 Uhr erreichen die Fluten den Domplatz und die Piazza della Signoria. Mit einer Geschwindigkeit von bis zu 60 Kilometern die Stunde toben die Wassermassen durch die Strassen.
Damit die Gefangenen im Gefängnis Murate nicht ertrinken, werden sie auf freien Fuss gesetzt. Die meisten melden sich später wieder bei der Polizei, nur wenige ergreifen die Flucht.
Botticelli im Wasser
Betroffen sind auch die Uffizien, eines der berühmtesten Museen der Welt mit Werken von Botticelli, Leonardo da Vinci, Michelangelo, Caravaggio, Raffael, Dürer und andern. Die untern Räume, in denen Tausende Bilder lagern, werden komplett überschwemmt. Hunderte Renaissance-Gemälde schwimmen im Wasser.
Im Archiv der Kathedrale und in der Nationalbibliothek liegen plötzlich Tausende wertvoller Schriften und Dokumente im Schlamm. Die aufsehenerregende „Büssende Maria Magdalena“, eine Skulptur von Donatello, wird beschädigt, ebenso das weltberühmte Kruzifix von Cimabue in der Kirche Santa Croce.
„Langhaarige Hippies aus der Schweiz“
Die Überflutung löst eine beispiellose Hilfsaktion aus. Tausende vorwiegend junger Männer und Frauen strömen nach Florenz. Sie kommen aus ganz Italien, aber auch aus allen Ecken der Welt. In tagelanger unbezahlter Freiwilligenarbeit reinigen sie die Stadt von Schlamm, Unrat und Geröll.
Giovanni Grazini, ein Journalist des „Corriere della sera“ nennt die Helfer „Angeli del fango“, „Die Engel des Schlamms“. Und als solche gehen sie in die Geschichte ein.
Noch heute erinnern sich Florentiner an diese jungen Leute. „Da standen plötzlich langhaarige Hippies aus der Schweiz in meinem Keller und räumten ihn vom Schlamm frei“, erzählt eine Frau. Auch spätere Politiker, damals junge Männer und Frauen, nahmen an der Aktion teil, so Pier Luigi Bersani, der spätere Vorsitzende des sozialdemokratischen „Partito Democratico“.
„Wir wollen diese ragazzi und ragazze umarmen“
Etwa 3'000 dieser „Engel des Schlamms“ ziehen jetzt wieder nach Florenz. Fünfzig Jahre danach werden sie gefeiert. „Wir müssen ihnen einfach nochmals danke sagen“, erklärt Dario Nardella, der Bürgermeister von Florenz. „Wir wollen diese ragazzi und ragazze nochmals umarmen.“
An der Feierstunde am 4. November im Palazzo Vecchio nehmen auch Staatspräsident Sergio Mattarella und Ministerpräsident Matteo Renzi teil. Die Festivitäten dauern mehrere Tage: Eine Sonderbriefmarke wird herausgegeben, Vorträge werden gehalten, Musik wird gespielt, Messen zelebriert, vom Ponte alle Grazie wird ein Kranz in den Arno geworfen – im Gedenken an die 34 Opfer der Fluten.
Kerzen für 20 Franken
In den Restaurants erhalten die „Angeli“ Spezialpreise, ebenso in den Hotels. Die Verkehrsbetriebe befördern sie gratis. Viele kommen aus den USA, Skandinavien, Grossbritannien, Kroatien und der Schweiz.
Einige Florentiner hatten damals trotz der Katastrophe den Humor nicht verloren. Geschäfte warben mit den Slogans: „Bei uns gibt es ‚Unterwasser-Preise‘ (‚prezzi sott'acqua‘).“ Restaurants hängten Plakate an die Tür: „Heute feuchte (geschmorte, gedünstete) Spezialitäten“ („oggi specialità in umido“).
Nicht alle waren selbstlos in jenen Tagen des Unglücks. Einige versuchten, von der Not der andern zu profitieren. Eine Flasche Mineralwasser kostete (umgerechnet etwa) sechs Franken, ein Kilo Kartoffeln acht Franken. Selbst die Kirche langte zu: Priester riefen die Bevölkerung auf, für die Opfer zu beten und verkauften Kerzen. Das Stück zu 20 Franken.
„Das ist kein Fluss, das ist eine Strasse“
Dank dem Einsatz der „Angeli“ bot Florenz schon zu Weihnachten 1966 ein fast wieder normales Bild. Hunderte Restauratoren hatten in den Jahren nach der Katastrophe die beschädigten Kunstwerke wieder instand gesetzt. Das meiste Geld kam aus dem Ausland, aus den USA und Skandinavien.
Die Katastrophe vor fünfzig Jahren und die spontane Mobilisierung der Jungen ist in Italien als eine der phantastischsten Solidaritätskundgebungen in die Geschichte eingegangen.
Übrigens: Marcello Giannini, der Chefkorrespondent der RAI in Florenz, konnte die Römer Zentrale dann doch noch überzeugen. Er hängte das Mikrofon zum Fenster hinaus und sagte: „Vielleicht hört ihr in Rom diesen tosenden Lärm eines Flusses. Doch das ist kein Fluss. Das ist die Cerretani-Strasse im Zentrum der Stadt.“
Wenige Minuten später wurde er aufgefordert, einen Bericht zu liefern.