Die Stadt Raqqa sei nun schon zu 90 Prozent erobert, erklären die Sprecher der SDF (Syrische Demokratische Kräfte). Die SDF belagern die Stadt seit Anfang Juni. Die Bombardierungen unter amerikanischer Leitung im Krieg um Raqqa, merken die humanitären Organisationen wie „Air Wars“ und „Amnesty international“ an, seien noch zerstörerischer und brutaler, als sie im Kampf um Mosul gewesen waren. Die Schätzungen der Zahl von Zivilisten, die sich nach wie vor unter der Herrschaft des IS in Raqqa befinden, gehen weit auseinander. Die Zahlen liegen zwischen 10’000 und 25’000. Die Stadt wurde zum Trümmerhaufen.
Die syrische Armee westlich des Euphrats
Der noch weiter gesteigerte Bombenkrieg hat einerseits damit zu tun, dass Präsident Trump den Offizieren freie Hand gab zu tun, was sie für das Beste halten. Andererseits wohl auch damit, dass Eile besteht. Es gibt einen Wettlauf um die südlich an die Provinz von Raqqa angrenzende Euphrat-Provinz, Deir Al-Zor. Dieser Wettlauf findet statt zwischen der syrischen Regierungsarmee mit ihren Hilfskräften aus dem Hizbullah, Iran, und iranischen schiitischen Milizen, unterstützt durch russische Kampfflugzeuge, und andrerseits den SDF-Kämpfern mit ihrer amerikanischen Luft- und Artillerieunterstützung und Beratung.
Die syrische Armee hat mit der Hilfe von rücksichtslosen russischen Bombardements die Stadt Deir az-Zor auf der westlichen Seite des Euphrats erreicht. Die SDF-Kämpfer stiessen auf der östlichen Flusseite stromabwärts vor und liessen die belagerte Stadt Raqqa in ihrem Rücken zurück. Die Syrer melden nun, sie hätten den Fluss überschritten und seien auch auf dem östlichen Ufer präsent. Wenn dies zutrifft, haben die SDF-Truppen den Wettlauf verloren. Beide an diesem Rennen Beteiligten, jede Seite mit Luftunterstützung durch eine der Grossmächte, führen nicht gegeneinander Krieg, sondern gegen den IS. Bisher hat gegolten, der Strom sei die Grenze zwischen ihnen, während zwischen den Luftwaffen der Russen und der Amerikaner beständiger Koordinationskontakt – via Qatar – gehalten wird, um zu vermeiden, dass die beiden Luftwaffen, die beide den IS bombardieren, einander versehentlich angreifen.
Die SDF auf dem östlichen Ufer
Wenn nun tatsächlich die syrische Armee den Strom überquert hat, stehen die SDF-Kämpfer, im wesentlichen Kurden, wenngleich mit arabischen Bundesgenossen, vor dem Entscheid, entweder ihren Vormarsch stromabwärts zu stoppen oder seine Richtung zu ändern. Eine direkte Feidberührung ist unwahrscheinlich, weil die beiden Grossmächte sie verhindern wollen. Sogar wenn es zu kleineren Schiessereien kommt oder zu irrtümlichen Bombenangriffen, werden die Grossmächte alles tun, um zu vermeiden, dass schwere Kämpfe zwischen ihren Verbündeten ausbrechen. Die SDF haben bereits erklärt, ihre Kräfte seien auf dem östlichen Euphrat-Ufer von russischen Kampfflugzeugen bombardiert worden, und die Amerikaner bestätigten dies. Doch die Russen dementierten, und weitere Folgen gab es nicht.
Ein Wettlauf um territorialen Besitz
Das bedeutet wohl, dass in der Praxis jede der beiden auf dem Boden kämpfenden Gruppen zunächst die Territorien behalten wird, die sie vom IS zu befreien vermochte, und die syrische Armee mit ihren Hilfskräften dürfte dabei im Vorteil sein und bleiben. Die SDF können ihre volle Macht erst einsetzen, nachdem Raqqa – wo sie noch weiter kämpfen – gefallen sein wird. Dass die SDF überhaupt stromabwärts in Bereiche vorstossen, in denen es keine kurdischen Bewohner gibt, kann man dadurch erklären, dass die kurdischen Strategen, die ihre Aktion aus dem Hintergrund leiten, ein Faustpfand zu erwerben suchen.
Dieses besteht in der Form eines von Arabern bewohnten Territoriums, das von ihnen beherrscht wird, um es in kommenden Verhandlungen mit Damaskus über Autonomie für die syrischen Kurden als Verhandlungsmasse einsetzen zu können. Ob bei ihren amerikanischen Mentoren überhaupt eine Vorstellung darüber vorliegt, was mit Gebieten geschehen soll, die von den SDF dem IS entrissen wurden oder zukünftig noch eingenommen werden, ist ungewiss. Jedenfalls weiss man noch nichts darüber. Bisher hat sich Präsident Trump darauf beschränkt zu erklären, in Syrien müsse der IS niedergekämpft werden.
Irakische Euphrat-Offensive in Richtung Ana
Auf der Gegenseite, den Euphrat aufwärts, hat im Irak eine Offensive begonnen, um den IS aus dem irakischen Teil des Euphrattals zu vertreiben. Sie zielt zunächst auf die Stadt Ana, gute 300 Kilometer von Bagdad entfernt, wo sich der IS verschanzt hat, und soll dann weitergeführt werden bis an die 500 Kilometer von Bagdad entfernt gelegene syrische Grenze. Die Iraker haben auch noch ein weiteres grösseres Territorium zu erobern, das der IS rund um die Stadt Hawija und in einem angrenzenden Sektor des Tigristals hält. Wenn dies erreicht ist, kann man sagen, dass der IS kein eigenes Territorium von grösserem Ausmass mehr beherrschen wird.
Nach dem Territorialkrieg die Bombenanschläge
Doch der Krieg gegen ihn wird damit noch nicht zu Ende sein, weder in Syrien noch im Irak. Was dann bevorsteht, zeigte deutlich eine Anschlagsserie im rein schiitischen Südirak, der bisher als wenig gefährdet galt. Dort, nahe bei der Provinzhauptstadt Nasseriya, erschien eine Gruppe von IS-Kämpfern, verkleidet in Uniformen der irakischen Volksmilizen und in Fahrzeugen, die wie Armeefahrzeuge aussahen. Sie wurde aus diesem Grunde von keiner der Sicherheitssperren gestoppt, die sie durchfuhren.
Sie erreichten um die Mittagszeit ein voll besetztes Restaurant. Dort sprengte sich einer von ihnen in die Luft, die anderen warfen Handgranaten. Sie töteten „mindestens“ sechzig Gäste und verletzten „mindestens“ neunzig. Das Wort „mindestens“ erscheint oft in derartigen Meldungen, weil man noch nicht weiss, wie viele der Verletzten überleben werden. Unter den Toten befanden sich sieben Iraner. Das Restaurant war ausgesucht worden, weil es an einer Strasse lag, die von den iranischen Pilgern benützt wird. Die Terroristen fuhren dann weiter und brachten noch „einige Soldaten“ an den Strassensperren um, bevor sie selbst erschossen wurden.
Unkontrollierbare Volksmilizen
Die Soldaten der Sperre wurden gefragt, warum sie die Terroristen unkontrolliert hatten durchfahren lassen. Die Antwort war: „Wenn wir eine echte Gruppe von Angehörigen der Volksmilizen angehalten und kontrolliert hätten, wären wir alle im Gefängnis gelandet. Dies ist eine Erfahrung, die viele unserer Kollegen gemacht haben.“ Im Nachhinein wurde dann von Bagdad aus der Befehl erteilt, alle Durchfahrenden seien zu kontrollieren, auch die Sicherheitskräfte und Volksmilizen. Doch inwieweit dies wirklich durchgesetzt werden wird, kann man sich fragen. In den südlichen Provinzen zählen die lokalen Mächte, oft Anhänger oder Sympathisanten Irans, mehr als irgendein Papier, das in Bagdad ausgestellt wurde.
Auch in Bagdad selbst gibt es immer wieder Bomben- und Selbstmordanschläge, derer sich der IS in seiner Propaganda rühmt. Mit Vorliebe werden sie gegen schiitische „weiche Ziele“ gerichtet.
HTS, die zweite „Terrormacht“ in Syrien
Auf der syrischen Seite des Krieges gegen den IS wird der Krieg noch weit weniger ein Ende finden, selbst nachdem der IS als territoriale Macht niedergekämpft sein wird. Dort gibt es noch die zweite islamistische Gruppe, die ebenfalls international als „terroristische Gruppe“ eingestuft wird und mit der deshalb keine Friedensverhandlungen möglich sind: die frühere Nusra-Front, die sich heute HTS nennt (Hay'at Tahrir ash-Sham, oder „Befreiungsgruppierung Syriens“). Sie versucht gegenwärtig, ihre Stärke zu zeigen, indem sie eine Offensive aus dem südlichen Teil der von ihr beherrschten Provinz Idlib nach Süden in Richtung Hama gestartet hat. Sie zielt darauf ab, einmal mehr die strategische Hauptachse Syriens, die Damaskus mit Aleppo verbindet, zu unterbrechen.
Im Sog der kurdischen Frage
Auch in Bezug auf Idlib dürfte gelten: jene Macht, deren Fusssoldaten schlussendlich die Provinz erobern oder „befreien“, wird sich in ihr halten können. Doch es ist noch unklar, welche Macht den Versuch unternehmen wird, die HTS in Idlib niederzukämpfen. Asad wird es zweifellos versuchen, und seine Hilfskräfte, die russische Luftwaffe, Iran und Hizbullah werden ihm höchstwahrscheinlich dabei behilflich sein. Ob die Amerikaner ihrerseits mitkämpfen werden und in welcher Form – Luftunterstützung? und für welche Landtruppen? – ist gänzlich offen.
Dagegen ist auszumachen, dass die Türken mitreden und vielleicht mitwirken wollen, denn Idlib liegt an ihrer Grenze und diese ist besonders heikel, weil Ankara unbedingt vermeiden will, dass sich die syrischen Kurden der Grenzregionen bemächtigen. Idlib ist zwar eine arabophone, nicht eine kurdophone Provinz. Doch die kurdische Grenzenklave von Afrin schliesst nördlich an Idlib an, und auf sie hat Ankara ein wachsames, um nicht zu sagen begehrliches Auge gerichtet.