Seit dem vergangenen Samstag hat die syrische Regierungsarmee das Widerstandsgebiet der Ost-Ghouta, sehr nah bei Damaskus, in zwei Teile aufgespalten. Danach hat sie die grösste im Widerstand verbliebene Stadt der Ostghouta, Douma im nördlichen der beiden nun auseinandergerissenen Teile, umzingelt. Douma hatte sich schon früh, im Sommer 2011, erhoben und ist seither stets von Widerstandsgruppen gehalten worden. Noch immer haben dort die beiden islamistischen Gruppierungen „Jaish ul-Islam“ und „Faylak ur-Rahman“ das Sagen. Es gibt auch Kämpfer von HTS, der früheren Nusra-Front, die damals zu al-Kaida gehörte. „Jaish ul-Islam“ erhielt lange Zeit Unterstützung von Saudi-Arabien und den Golfstaaten. Ob diese noch andauert, ist ungewiss.
Dauerbombardierungen
Douma ist heute eine völlige Ruinenstadt. Jahrelang war sie Bombardierungen durch die Luftwaffen Syriens und auch der Russen ausgesetzt. Diese waren seit dem 18. Februar dieses Jahres so sehr intensiviert worden, dass man von einer Dauerbombardierung sprechen musste. Tag und Nacht fielen die Bomben. Die zivile Bevölkerung, Frauen, alte Leute und Kinder – 60 bis 70 Prozent sollen Kinder sein – mussten ohne Unterbruch in improvisierten und überfüllten Unterständen und Kellern leben. Die Frauen sorgten aufopferungsvoll dafür, dass die Kinder überlebten und soweit möglich ohne psychische Schäden davonkamen. Viele von Ihnen hatten den Tod oder die Verwundung ihrer Eltern und Verwandten mitangesehen. Schreikrämpfe bei Kleinkindern sind häufig.
Die Zahl der Todesopfer der letzten drei Wochen der Dauerbombardierungen betrug nach den Ermittlungen von „Médecins sans Frontières“, die alle Spitäler kontaktierten, bisher 1064 Zivilisten. Leichen, die noch unter den Trümmern liegen, nicht mitgerechnet. Es herrscht Mangel an Nahrungsmitteln und Medikamenten. Auch Wasser ist äusserst knapp, die hygienischen Zustände unhaltbar.
Die internationalen Hilfswerke in Damaskus konnten nur ein einziges Mal, am vergangenen Freitag, Hilfe nach Douma bringen. Sie hatten mehrmals Erlaubnis dazu von der Regierung in Damaskus erhalten. Die Bombardierungen hatten jedoch nicht aufgehört, so dass die Hilfskonvoys wieder umkehren mussten, ohne die Stadt erreicht zu haben.
Vetoandrohung gegen humanitäre Schritte
Der Uno-Sicherheitsrat hatte in Sondersitzungen im fernen New York einen humanitären Waffenstillstand von 30 Tagen gefordert, war jedoch auf die Androhung eines russischen Vetos gestossen. Schliesslich hatten die Russen fünfstündigen Waffenruhen pro Tag zugestimmt. Sie sprachen auch von humanitären Korridoren, die sie öffnen wollten, damit Verwundete und Zivilisten evakuiert werden könnten.
Doch in der Praxis stellte sich all dies als blosse Propaganda heraus. Die fünf Stunden waren zu kurz, um Hilfe zu bringen und zu verteilen, und die Bombardierungen dauerten trotz der verkündeten Waffenruhe an. Die Korridore konnten nicht benützt werden. Die Russen behaupteten, die Widerstandskämpfer wollten die Zivilisten nicht ausreisen lassen und schössen auf sie, wenn sie es versuchten. Diese selbst sagten, es bestehe eine doppelte Gefahr, entweder auf den Korridoren beschossen zu werden oder aber bei der Ankunft im Regierungsgebiet den Schergen der Sicherheitsdienste Asads in die Hände zu fallen. Ein Schicksal, das schlimmer ist, als erschossen zu werden.
Dass die jüngeren Männer sofort zum Militärdienst auf Seiten Asads gezwungen werden, sobald sie im Regierungsgebiet eintreffen, ist allgemein geübte und bekannte Praxis. Wie dieser Militärdienst dann genau gehandhabt wird, steht auf einem anderen Blatt.
Kriegsverbrechen auch des Widerstands
Die bittere Feindschaft zwischen den Anhängern der Regierung und jenen des Widerstands wurde über all die Jahre hin dadurch gesteigert, dass einerseits die Regierungsseite rücksichtslos bombardierte. Auf der anderen Seite griffen auch die Widerstandskämpfer zu Massnahmen, die rechtlich gesehen als Kriegsverbrechen eingestuft werden müssen – auch wenn sie hierzu viel geringere Möglichkeiten hatten. Vergehen der Aufständischen bestanden vor allem aus unterschiedslosen Angriffen auf die aussenliegenden Stadtteile von Damaskus, die in Reichweite der Mörser des Widerstands lagen.
Noch in den lezten Tagen meldete Damaskus den Tod von vier Zivilisten, die in Damaskus in einem Taxi von einer Mörsergranate aus der Ghouta getroffen wurden. Baschar al-Asad hat mehrmals öffentlich gelobt, er werde tun, was getan werden müsse, um diesen völlig ungezielten Feuerüberfällen auf seine Hauptstadt, die seit Jahren vereinzelt vorkommen, ein Ende zu bereiten.
Der politische, moralische und humanitäre Schaden, den solche Aktionen anrichten, steht in keinem Verhältnis zum möglichen militärischen Nutzen, den sie dem Widerstand bringen können. Dieser besteht eigentlich bloss in der Selbstbestätigung, dass auch der Widerstand noch immer „agieren“ kann.
Flüchtlingselend unter den Bomben
Der Vorstoss der syrischen Armee nach der langen und grausamen Vorbereitung durch Dauerbombardierung wurde von Osten nach Westen geführt. Die Einnahme des Fleckens Mesraba am vergangenen Sonntag vollendete die Aufspaltung der Widerstandszone.
Tausende von Zivilisten sind vor dem Vorstoss der syrischen Armee nach Norden geflohen und haben in Douma Unterschlupf gesucht. Der dortige Stadtrat richtete über die Agentur Reuter einen Verzweiflungsaufruf an die Aussenwelt. Er sagte darin, Tausende von neuen Flüchtlingen stünden auf den Strassen oder in öffentlichen Anlagen. In den überfüllten Kellern und Schutzräumen sei kein Raum mehr für sie. Sie seien den Angriffen schutzlos ausgesetzt, wenn weitere Bomben fallen. Die Toten lägen auf den Strassen. Begräbnisse könnten keine mehr stattfinden, weil die Mittel dafür fehlten.
Baldige Evakuationsverhandlungen?
Die Regierungsarmee bereitet eine Belagerung der Ruinenstadt Douma vor. Gleichzeitig haben aber auch Verhandlungen mit der Regierung über eine mögliche Evakuation der Kämpfer und ihrer Angehörigen begonnen. Die Russen sagen, ihr „Versöhnungszentrum“, das von der russischen Luftbasis Khneimin aus operiert, sei involviert. Am Freitag erklärten die Sprecher der Widerstandgruppen, es gebe keinerlei Verhandlungen und sie gedächten nicht, solche zu führen. Doch offenbar gab es dennoch Kontakte zwischen den noch bestehenden zivilen Behörden, meist Stadt- und Dorfräte, und Regierugsvertretern. Die Widerstandsgruppen räumten ein, sie hätten Kontakt mit den internationalen Behörden und Hilfsorganisationen aufgenommen.
Verhandlungen über den Abzug der Kämpfer sind bisher stets am Ende der Belagerungen von Widerstandszentren durch die syrische Armee gestanden. Doch manchmal brauchten sie Wochen oder Monate, bis sie zum Abschluss gelangten. Die Frage ist nun, ob das unvermeidliche Ende des Ghouta-Widerstandes rasch genug herbeigeführt werden kann, um der Zivilbevölkerung die weiteren Grausamkeiten von Belagerungen der einzelnen Orte und Städte zu ersparen. Betroffen ist eine Gesamtbevölkerung zwischen 300’000 und 400’000 Personen.
Neben der Hauptstadt Douma soll auch eine zweite Stadt in der nördlichen Sektion des Widerstandsgebietes, Harasta, umzingelt sein und vor einer Belagerung stehen. Kontakte mit den syrischen Behörden und der Armee über den Abzug der Kämpfer sollen auch in einigen Orten der südlichen Sektoren aufgenommen worden sein. Genannt werden Beit Hammariya, Saqba und Jisreen.
Im besten Fall rasche Evakuation der Widerstandskämpfer
Auch wenn es zu Evakuierungen des Widerstandes und zu einer kampflosen Rückkehr der Widerstandsregion in die Hand der Regierung kommt, sind damit die Leiden der Bevölkerung schwerlich vorüber. Die nicht Evakuierten werden die rächende Hand der syrischen Sicherheits- und Geheimdienste fürchten müssen. Den Evakuierten droht ein Flüchtlingsdasein unter weiteren Bombenangriffen entweder im Süden Syriens an der jordanischen Grenze, wo es noch kleine Gebiete gibt, die vom Widerstand beherrscht werden, oder im Norden, in der Provinz Idlib, mit deren Wiedereroberung – nach noch mehr Bombardierungen – durch die Regierung über kurz oder lang zu rechnen ist.
Für Damaskus wird der endgültige Fall der relativ umfangreichen Widerstandszone der Ostghouta, sehr nah an der Hauptstadt gelegen, einen bedeutenden Sieg darstellen, der sich mit jenem über Ost-Aleppo von Dezember 2016 vergleichen lässt.
Der Krieg geht über in fremde Hände
Mit dem Ende des Widerstands in der Ghouta wird die Asad-Regierung jedoch weiterhin nicht ganz Syrien beherrschen. Die wichtigsten Regionen, die ihr noch entgehen, sind weite Gebiete im Norden an der türkischen Grenze, die sich in kurdischen Händen befinden, und südöstlich daran anschliessend die weiten Bewässserungs- und Wüstenzonen östlich des Euphrats bis zur irakischen Grenze.
Dort üben die mit der amerikanischen Luftwaffe und amerikanischen Sondertruppen zusammenarbeitenden kurdischen und arabischen Einheiten der sogenannten SDF (Syrian Democratic Forces) die Macht aus. Die Amerikaner haben erklärt, dass sie dort zu bleiben gedächten, und die Russen haben darauf reagiert, indem sie erklärten, die Amerikaner planten den syrischen Staat aufzuteilen und dadurch den dortigen Krieg zu verewigen.
Die Asad-Regierung selbst ist durch den langen Bürgerkrieg dermassen geschwächt, dass die Zukunft Syriens mehr denn je vom Verhalten der Aussenmächte abhängt, die in Syrien Macht ausüben und einander dabei konkurrenzieren. Im Spiel stehen: die Russen, die Iraner mit ihren schiitischen Hilfsvölkern, wie dem libanesischen Hizbullah und anderen „Milizen“, und auch weitgehend die Türkei auf der Seite Asads; die Amerikaner, gestützt auf die syrischen Kurden und ihre YPG Kämpfer, die Saudis und andere Golfstaaten sowie die Israeli als Gegenkräfte.