Tunesien hat am vergangenen Freitag seine neue Verfassung offiziell gefeiert. Vertreter der internationalen Staatenwelt waren dabei. Unter ihnen auch Präsident François Hollande und Bundesrätin Simonetta Sommaruga. Sie war eingeladen worden, weil die Schweiz bei der Suche nach einem Kompromiss und bei der Ausarbeitung der Verfassung wesentlich beteiligt gewesen war. Zwei Jahre waren nötig, um das Dokument fertig zu stellen. Begleitet waren die Arbeiten oft von bitteren Auseinandersetzungen.
Der Text kann als ein neuartiges und möglicherweise wegweisendes Dokument für die ganze arabische Welt gelten. Dies in erster Linie, weil es versucht, das überall bestehende wichtigste Problem neu zu lösen, die Frage nämlich: "Wie soll das Verhältnis des Islams zum Staat festgelegt werden?"
Verbale Verkleidung
Bisher wurde diese Frage in den meisten arabischen Verfassungen durch eine Art verbaler Verkleidung gelöst. Formeln, die besagten, die Gesetzgebung des Staates "beruhe" auf der Scharia, oder sogar "beruhe ausschliesslich auf der Scharia", waren in den Einleitungsparagraphen der Verfassungen üblich.
Dies klang islamisch und diente denn auch dazu, jene Geister zu befriedigen, die einen "islamischen Staat" anstrebten. Doch solche Formulierungen waren in Wirklichkeit unverbindlich, weil "die Scharia" eine sehr weite Gesetzeswelt mit beinahe unbeschränkten Auslegungsmöglichkeiten darstellt. Diese gehen so weit, dass praktisch alle Gesetze, die denkbar sind, irgendwie als auf „der Scharia beruhend“ erklärt werden können.
Der Staat schützt die Religion und verbietet ihren Missbrauch
Die heftigen Spannungen in Tunesien zwischen "Säkularisten" und "Islamisten" haben dazu geführt, dass in der neuen Verfassung die Dinge konkreter angegangen worden sind. Ein echter Kompromiss konnte gefunden werden. Dies zeigt sich am deutlichsten in Paragraph 6 des neuen tunesischen Grundgesetzes. Dieses spricht überhaupt nicht von der Scharia, was eine bedeutende Konzession der tunesischen Mehrheitspartei, an-Nahda, darstellt.
Paragraph 6 sagt wörtlich: „Der Staat schützt Religion und garantiert Freiheit von Glauben, Gewissen und Gottesdienst. Er schützt heilige Dinge und sorgt für die Neutralität von Moscheen und Stätten der Anbetung, um Instrumentalisierung durch Parteilichkeit zu vermeiden. Der Staat verpflichtet sich, die Werte von Toleranz und Ausgewogenheit zu fördern, das Heilige zu schützen und vor Angriffen zu bewahren. Er ist auch verpflichtet, Anschuldigungen über Abfall vom Glauben ("Takfir") zu verbieten sowie Aufstachelung zu Hass und Gewalt zu bekämpfen.“
Beschränkung der Meinungsfreiheit?
Es gibt in der Verfassung auch einen Artikel 30. Dieser garantiert "Freiheit von Meinung, Denken, Ausdruck, Medien und Veröffentlichungen".
Einige Kritiker auf der säkularistischen Seite haben angemerkt, dass zwischen dem "Schutz des Heiligen" von Artikel 6 und der Ausdrucks- und Veröffentlichungsfreiheit von Artikel 30 "möglicherweise" Widersprüche bestehen. Dabei kommt es natürlich darauf an, wie beide Begriffe verstanden werden. Man kann sehr wohl zwischen Beleidigung des Heiligen und der Äusserung von Meinungen über Religionsfragen aller Art unterscheiden. Grenzfälle allerdings kann es geben, und die Gesetzgebung sowie künftige Gerichte werden zuständig dafür sein, die Grenzlinien festzulegen.
Eine "Takfiri"-Todesdrohung
Während die Verfassungsversammlung tagte, war einer der Abgeordneten in einer Radiosendung des Unglaubens bezichtigt worden. Er erhielt Todesdrohungen und teilte dies der Versammlung mit. Diese entschloss sich deshalb nach einer leidenschaftlichen Diskussion, das einzigartige Verbot von „Takfir“ in der Verfassung festzuschreiben. „Takfir“ bedeutet: Wer des Unglaubens oder des Abfalls vom Glauben beschuldigt wird.
Daraufhin legte die „islamische Seite“ Widerspruch ein. Ihre Vertreter machten geltend, dass der Staat, wenn er Angriffe auf den Unglauben verbiete, auch Angriffe auf den Glauben zu untersagen habe. Was dann nach weiteren Diskussionen dazu führte, dass zwei Mal festgeschrieben wurde, dass der Staat zum "Schutz des Heiligen" (genauer: "der Heiligen Dinge") verpflichtet ist.
Erinnerungen an Salman Rushdie
"Takfir" ist eine gefährliche Waffe der islamistischen Extremisten. Sie wurde 1988 höchstpersönlich von Khomeini gegen den Schriftsteller Salman Rushdie verhängt. Rushdie wurde unter den Schutz von Scotland Yard gestellt, doch einem der Übersetzer seines Buches in Japan hat sie den Tod gebracht. Zwei weitere Personen wurden wegen des Buches lebensgefährlich verletzt. "Takfir" wird von radikalen Islamisten auch gegen Regierungen verhängt. Ihre angebliche "Ungläubigkeit", die mit "Abfall vom Islam" gleichgesetzt wird, dient den "Takfiri"-Terroristen zur Rechtfertigung von Morden.
Fast gleichzeitig mit dem Abschluss der Verfassungsdiskussionen hatte die tunesische Polizei einen Erfolg zu verzeichnen. Sie entdeckte in einem Haus in einem der Vorstädte von Tunis bewaffnete Extremisten. Offenbar wurde die Polizei durch einen Hinweis aus der Bevölkerung darauf aufmerksam gemacht. Die Polizei belagerte das Haus 20 Stunden lang. Schliesslich kam es zu einer Schiesserei. Dabei verloren ein Polizist und sieben der Bewaffneten ihr Leben.
Zwei Morde
Die Polizei ist der Ansicht, dass sich unter den Toten Kamil Ghadghadi befindet. Er wird verdächtigt, zwei Anschläge auf tunesische Politiker durchgeführt zu haben. Diese Morde hatten im vergangenen Jahr das Land nahe an den Zusammenbruch geführt.
Der erste Mord ereignete sich am 6. Februar 2013. Getötet wurde damals der Linkspolitiker und Abgeordneten Chokri Belaid. Am 25. Juli des gleichen Jahres wurde der Abgeordneten Muhamed Brahmi erschossen. Die "säkulare" Opposition machte die regierende Nahda-Partei für die Taten verantwortlich. Sie warf der Regierung vor, entweder allzu nachlässig bei der Überwachung der extremen Islamisten vorgegangen zu sein, oder sogar heimlich dafür gesorgt zu haben, dass die Mordtaten geschahen.
Übergangsregierung im Amt
Die Opposition boykottierte nach dem zweiten Mord die Verfassungsversammlung, die auch als Parlament wirkte und demonstrierte auf den Strassen. Dadurch wurde die politische Arbeit monatelang lahmgelegt. Auf Druck der Gewerkschaftsunion wurde schliesslich ein Kompromiss erarbeitet. Darin erklärte sich die Nahda-Regierungspartei bereit, einer neutralen Übergangsregierung Platz zu machen. Diese soll Wahlen vorbereiten.
Diese Übergangsregierung ist nun eingesetzt. Auch die Ernennung ihres Ministerpräsidenten, Mehdi Joma, gelang erst nach heftigen Auseinandersetzungen zwischen den beiden feindlichen Lagern. Ihre nächste Aufgabe wird sein, ein Wahlgesetz zu formulieren, in dem wohl auch das kommende Wahldatum festgelegt werden wird.
War es ein "Staatsverbrechen"?
Am Jahrestag des Mordes an Belaid haben seine Hinterlassenen, Freunde und Anhänger ihre Enttäuschung darüber geäussert, dass der mutmassliche Mörder getötet, statt lebend gefasst wurde. Es gibt eine "Vereinigung zur Suche der Wahrheit" über den Mord von Chokri Belaid. Ihre Sprecher fordern eine neutrale Kommission zur Untersuchung der Hintergründe. Sie erklärten, es handle sich um ein "Verbrechen des Staates". Der nun tote Ghadghadi sei nur der ausübende Arm gewesen. Die en-Nahda-Regierung habe Informationen über die wahren Täter und ihre Motive unterdrückt. Die neue Übergangsregierung, so fordern sie, müsse die Sache endgültig aufklären.
Diese harte Haltung im Lager der Opfer zeigt, dass die Gegensätze zwischen den "Säkularisten" und den "Islamisten" noch immer nicht ausgeräumt sind. Sie sollen nun in den Wahlen, wie zu hoffen ist, mit friedlichen Mitteln, ausgetragen werden.
Terroristen auf der Flucht
Im Versteck der mutmasslichen Terroristen wurden auch ein bedeutendes Waffenlager und 600 Kilo Sprengstoff entdeckt. Dies scheint darauf hinzuweisen, dass ein Anschlag in Tunis vorbereitet wurde. Unter den Waffen befanden sich solche, die im Besitz der 20 Soldaten gewesen waren, die im vergangenen Jahr in den Chaambi-Bergen an der algerischen Grenze überfallen und getötet wurden. Nach Angaben der Polizei befinden sich noch mindestens vier weitere namentlich bekannte mutmassliche Terroristen auf der Flucht.
Einer von ihnen ist Saifullah Benahssine, bekannt als Abu Yad. Er soll im September 2012 den Angriff auf die amerikanische Botschaft in Tunis organisiert haben. Abu Yad gilt als Anführer einer Gruppe, die sich "Ansar al-Sharia" nennt (Helfer der Sharia). Sie wird von der Regierung beschuldigt, die Morde begangen zu haben. "Ansar al-Sharia" bestreitet jede Verantwortung.
Die Aktivitäten der Terroristen werden erleichtert durch die chaotische Lage im benachbarten Libyen. Dort besteht ein riesiger unkontrollierter Schwarzmarkt für Waffen.