Am 1. Oktober ist in der ARD die 18-teilige Serie «Weissensee» abgeschlossen worden. Die erste Staffel über die Zeit von 1980 wurde schon 2010 gesendet, die zweite über das Jahr 1987 kam 2013 heraus. Die dritte Staffel behandelte die Phase vom Mauerfall bis zur Stürmung der Stasi-Zentrale im Januar 1990 und kam ab 29. September im Abendprogramm von «Das Erste» zur Ausstrahlung. Die von Annette Hess (Buch) und Friedemann Fromm (Regie) kreierte Serie wurde mehrfach ausgezeichnet und von der Kritik begeistert aufgenommen.
Eine Generation liegt der Untergang der DDR nun zurück, und schon wechselt er gleitend aus der Sphäre des Erinnerns in die der Geschichte. Nicht nur für Deutschland, sondern für Europa und darüber hinaus ist diese Wende Teil jener historischen Zäsur, mit der die Schrecken des 20. Jahrhunderts ein Ende nahmen.
Der Generationenabstand ist ein guter Zeitpunkt, um mit dem Instrumentarium des noch immer populärsten und wirkungsträchtigsten Mediums eine grosse Erzählung zu schaffen über das Leben in diesem Staat, über die Kämpfe und Dramen vor und bei dessen Kollaps. Die ARD hat diese Aufgabe geschultert und sich die nötige Zeit eingeräumt, um sie auf der Höhe der Anforderung zu bewältigen. Was dabei herausgekommen ist, haben verschiedene Kritiken als «Wunder» taxiert. Offenbar hatte man dem Fernsehen nicht mehr zugetraut, dass es Geschichten von solcher Eindringlichkeit und Wirklichkeitsnähe hervorbringen könnte.
Tableau des Lebens in der DDR
Die achtzehn Folgen zu je fünfzig Minuten bieten zuviel Stoff, als dass er hier zusammengefasst werden könnte. Deshalb hier nur eine Skizze des Kerns, um den der Erzählkosmos sich gruppiert. Zwei gegensätzliche Figuren stehen im Mittelpunkt: Falk Kupfer ist strammer Karrierist bei der Stasi. Sein jüngerer Bruder Martin, im Unterschied zu Falk ein aufrechter Charakter, dient als Volkspolizist, jedenfalls anfangs. Ihr Vater Hans Kupfer, einstiger Widerstandskämpfer im Dritten Reich, zählt als ranghoher Stasi-Offizier zur Machtelite. Falk eifert dem Vater nach und ringt um seine Anerkennung und Liebe. Um väterliche Liebe muss Martin sich nicht sorgen, obwohl er aus Vaters Sicht in bedenklichem Ausmass eigensinnig und ideologisch unzuverlässig ist.
In allen Verwicklungen und Intrigen lässt die in der TV-Serie ausgebreitete Geschichte diesen archaischen, schon in der biblischen Erzählung von Kain und Abel dargestellten Konflikt durchscheinen: der Kampf des vermeintlich oder tatsächlich zurückgestellten Sohnes um die väterliche Zuwendung und gegen den bevorzugten Bruder. Die Geschehnisse in der Serie sind jedoch derart zwingend in die historischen Verhältnisse verwoben, dass sie der Gefahr der vorschnellen Reduktion auf ein archetypisches Muster entgehen.
Die zweite Familie neben den Kupfers besteht einzig aus der Sängerin Dunja Hausmann und ihrer Tochter Julia. Die alkoholgefährdete Mutter eckt öfter mit unerwünschten Liedern – etwa von Tucholsky – an, wird aber protegiert von Hans Kupfer. Mit ihm hatte sie einst eine Affäre, und die Glut ist nicht erloschen. Unter dem Eindruck von Gorbatschows Reformkurs folgt Hans Kupfer immer mehr seinem kritisch-intellektuellen Gewissen. Mit beidem bringt er seine hohe Position in Gefahr. In die unerschrockene Julia wiederum verliebt sich Martin, was dessen Stasi-Vater und erst recht den Streber-Bruder aufs höchste alarmiert. Vor allem der letztere ist zu allem bereit, was er im Staats- und Parteiinteresse für geboten hält.
Von diesem Exposé her entspinnen sich die Kabalen und Katastrophen, Zwänge und Zerrüttungen der Figuren. Es sind ebenso die Bilder des Alltagslebens wie die Kette der Ereignisse, welche die Realitäten der so unterschiedlichen Perioden von 1980 (Zeit der Stagnation), 1987 (erstarkende Oppositionsgruppen) und 1989 (Fall des Eisernen Vorhangs und der Mauer) evozieren. «Weissensee» ist das detaillierte Tableau eines Existierens unter der Herrschaft der Apparatschiks, das allerdings auch für die an der Machtausübung Beteiligten «kein Leben» ist. Es ist dies ist eine der eindrucksvollen Stärken dieser Serie: Sie zeigt sämtliche Protagonisten als Gefangene des Systems, verfällt aber nicht in den Fehler, die moralische Unterscheidung zwischen Tätern und Opfern zu unterschlagen.
Realitätsgesättigter Stoff in populärer Form
«Weissensee» ist formal konventionell. Die Hauptfiguren sind übersichtlich in zwei Familien gruppiert, die Handlungsstränge in stetigem Wechsel dicht verschränkt, die Ereignisse unablässig vorangetrieben mit einer Abfolge dramatischer Wendungen – es sind erprobte Serienrezepte, die auch hier das Publikum fesseln. Dramaturgie, Bildgestaltung, Schnitt, Dialoge und Musik halten sich an die Standards der audiovisuellen Alphabetisierung, die mitteleuropäische Zuschauerinnen und Zuschauern in langer Übung an den TV-Bildschirmen absolviert haben. Diese Form ist wohl nichts für Cinéasten (einzelne Kritikerinnen meinten das deutlich kundtun zu müssen), aber sie funktioniert wunderbar für populäre Formate.
Was «Weissensee» zu etwas besonderem macht, das ist neben der realitätsgesättigten Erzählung und der differenzierten, menschlich glaubhaften Zeichnung der Hauptfiguren nicht zuletzt eine hinreissend stimmige Ausstattung. Sie macht die Serie beiläufig auch zum audiovisuellen Museum der DDR, konzentriert auf die Hauptstadt mit ihren unterschiedlichen Milieus. Es ist alles da: das stumpfe Grau der Häuserzeilen mit abblätterndem Verputz, das schmutzige Beige (Bürowände, Spitalkorridore, Trabbi-Karossen), das tote Grün (Uniformen), die abgelebte Bürgerlichkeit in der Künstlerwohnung, die schäbige DDR-Modernität im Haus der Funktionärsfamilie – und der fortgeschrittene Zerfall in dem, was «Ausbauwohnung» hiess.
Der stupende Aufwand, mit dem in «Weissensee» visuelle Stimmigkeit geschaffen wurde, ist nicht Selbstzweck, sondern Vehikel für den Transport der Geschichte. In deren Fokus liegt die lebensweltliche Unterseite der Diktatur: die Verheerungen im Leben verschiedener Menschen sowie die Verformung der Gesellschaft unter totalitärer Herrschaft und ideologischer Anmassung.
In diesem System, so die für die Serie leitende Einsicht, gab es kaum ein Leben, das nicht beschädigt war. Genauso kommt aber auch zum Ausdruck, dass trotz den systematischen Lügen des Machtapparats, trotz moralischer Kompromittierung von Opfern und Tätern, trotz hinterhältiger Zersetzung von Beziehungen die Menschen nicht vollends dem ideologischen Schema unterworfen werden konnten – die Mitläufer nicht restlos und die Opponierenden schon gar nicht. Die Hauptfiguren in «Weissensee» sind durchwegs wirklichkeitsnah gezeichnete Menschen mit vielschichtigem Charakter und inneren Widersprüchen. Selbst die widerwärtigste Figur, die des Opportunisten Falk Kupfer – mit beklemmender Präzision gespielt von Jörg Hartmann –, hat ihre menschlichen Regungen und Momente.
Am Ende haben die unterdrückten Menschen den Unrechtsstaat hinweg gefegt, zum Erstaunen der ganzen Welt gewaltlos. Doch «Weissensee» thematisiert die Wende nicht als Heldenerzählung, sondern bleibt auch hier beim Lebensalltag der politischen Geschichte. So ist nach dem 9. November 1989 zwar die Mauer gefallen, aber die Stasi ist noch da. Falks Rolle ist noch nicht ausgespielt. Und Martins Ankunft in der Freiheit ist kein Cowboy-Ritt ins Abendrot. «Weissensee» löst die dramatischen Verstrickungen nicht in einem triumphalen Happy End auf, sondern hält bis zum Schluss das Konzept durch, mit den Mitteln einer unterhaltenden TV-Serie auf den Spuren der Wahrheit zu bleiben.
Die drei Sechserstaffeln von «Weissensee» sind als DVD oder im Blu-ray-Format im Buchhandel erhältlich.