Der 90-jährige Zürcher Psychoanalytiker Arno Gruen hat gerade ein Buch vorgelegt, in dem er die Macht des Einfühlungsvermögens, die Empathie, beschreibt. Weil wir dieser Macht misstrauten, weil wir mehr an Kampf und Konkurrenz glaubten, seien wir, so der Buchtitel, „Dem Leben entfremdet“. Wer das schreibt, war nicht auf Rosen gebettet. Als Sohn jüdischer Eltern musste Arno Gruen 1936 von Berlin aus in die USA emigrieren. Was Menschen in ihrer Niedertracht anrichten können, hat er selbst erlebt. Warum aber beharrt er auf dem guten Kern des Menschen? Dass die Empathie zu unserer biologischen Grundausstattung gehört, ist eine These, die seit Jahren auch von einigen Neurobiologen vertreten wird. Denn wir verstehen ganz direkt, was in anderen Lebewesen vor sich geht, wenn sie zum Beispiel Schmerz empfinden, etwas essen oder sich freuen. Es gibt so etwas wie einen direkten Draht zwischen den verschiedenen Gehirnen. Der amerikanische Bestsellerautor Jeremy Rifkin hat vor Jahren deswegen schon die „empathische Zivilisation“ ausgerufen. Allerdings sind die Argumente gegen diese positive Sicht des Menschen erdrückend. Um am Menschen zu verzweifeln, muss man nur die täglichen Nachrichten verfolgen. Aber um nicht zu verzweifeln, kann die Sichtweise Arno Gruens hilfreich sein. Denn wer das Positive im Menschen sieht, stellt sein Verhalten darauf ein. Er weckt die Geister, die er ruft. Und er ist, wie Arno Gruen darlegt, kreativer. Die positive Einstellung ist eine „self fulfilling prophecy“. (Stephan Wehowsky)