Eigentlich handelt es sich bloss um einen Offenen Brief, einen Leitartikel, der auch als schmale Broschüre im Druck herauskam – und dennoch hat selten ein Text so Geschichte gemacht wie dieser. Am 13. Januar 1898 erschien in der französischen Tageszeitung «L’Aurore» ein Offener Brief an den Präsidenten der Republik, Félix Faure. Der provozierende Titel hiess «J’accuse» und war vom damaligen Chefredaktor dieser Zeitung, dem späteren Politiker Georges Clemenceau, gewählt worden.
Der Verfasser war Emile Zola, damals der bekannteste Schriftsteller Frankreichs. In seinem Brief an den Staatspräsidenten trat Zola für die Unschuld eines Hauptmanns Alfred Dreyfus ein, der wegen Spionage für das Deutsche Reich zu lebenslänglicher Haft auf der berüchtigten Ile du diable in Französisch-Guayana verurteilt worden war. Der Brief enthielt schwere Vorwürfe an die Spitzen der französischen Armee, welche der Schriftsteller beschuldigte, Dreyfus ohne stichhaltige Beweise verurteilt zu haben.
Ein Justiz- und Armeeskandal
Doch alles schön der Reihe nach. Die ganze Angelegenheit, die als «Affaire Dreyfus» in die Geschichte eingegangen ist, beginnt damit, dass die Putzfrau der deutschen Botschaft in Paris, Marie Bastian, im September 1894 einen Zettel aus dem Papierkorb des deutschen Militärattachés Schwartzkoppen fischt. Die Putzfrau steht im Dienst des französischen Nachrichtendienstes, und der Zettel, als «bordereau» in die Geschichte eingegangen, enthält geheime Angaben zur artilleristischen Bewaffnung der Armee. Der Chef des Nachrichtendienstes und das Kriegsministerium werden informiert, ebenso der Staatspräsident. Die Abklärungen lenken den Verdacht auf den Hauptmann Dreyfus, einen Juden, der dem Generalstab zugeteilt worden ist. Im Januar 1895 wird der Offizier, obwohl Zweifel an der Sorgfalt der gerichtlichen Untersuchung laut geworden sind, wegen Spionage zu lebenslänglicher Haft verurteil, im Innenhof der Ecole militaire degradiert und auf die Ile du diable verschickt.
Doch Dreyfus ist nicht ohne Freunde und einflussreiche Persönlichkeiten, die sich seiner Sache annehmen und eine Revision des Prozesses anstreben. Zu diesen gehören sein Bruder Mathieu, der Schriftsteller Bernard Lazare und der einflussreiche Senator Scheurer-Kestner. Auch der neu ernannte Chef des Nachrichtendienstes, Oberst Picquart, misstraut der Beweiskraft der gegen Dreyfus erhobenen Vorwürfe.
Zolas Bombe im öffentlichen Streit
Doch die Spitzen der Armeeführung, traditionell antisemitisch gesinnt und aus Furcht, sich eine Blösse zu geben, verschliessen sich jeder Kritik. Die Nachforschungen von Picquart werden als störend empfunden, und er wird nach Tunesien strafversetzt. Ein parlamentarischer Vorstoss bleibt ohne Erfolg. In der Presse und in der Bevölkerung wird die «Affaire Dreyfus» zum leidenschaftlich diskutierten Gesprächsgegenstand. Es kommt zu einer Polarisierung der öffentlichen Meinung, die, vereinfacht ausgedrückt, die politische Linke der «dreyfusards» mit der konservativen Rechten der «antidreyfusuards» konfrontiert.
Mitten in diesem aufgewühlten Seelenzustand des französischen Volkes zündet Emile Zola im Januar 1898 die Bombe seines Offenen Briefes an den Staatspräsidenten. Mit allen Mitteln überzeugender Rhetorik, die der französischen Literatur von den Kanzelpredigten Bossuets bis zu den Reden des Generals De Gaulle zu Gebote steht, tritt Zola für die Unschuld des Hauptmanns Dreyfus ein.
Zu Beginn seines Schreibens bezeichnet er das Urteil des Militärgerichts als ein Schandmal, welches das Ansehen des Staatspräsidenten und die Ehre der Nation beflecke. Dann fährt er fort: «Meine Pflicht ist es zu sprechen; ich will nicht Komplize sein. Meine Nächte würden heimgesucht vom Geist des unschuldig Verurteilten, der dort drüben die schlimmsten Folterqualen erleidet für ein Verbrechen, das er nicht begangen hat. Ihnen, Herr Präsident, rufe ich die Wahrheit zu, mit aller Widerstandskraft, deren ein ehrenwerter Mann fähig ist.»
Scharfe Anschuldigungen, flammender Protest
In der Folge schildert Zola eingehend den Verlauf der Untersuchung gegen Dreyfus, weist auf Unklarheiten, Unstimmigkeiten und Vertuschungen hin, und lenkt das Interesse auf einen Offizier namens Esterhazy, einen schlecht beleumdeten, aber von seinen Vorgesetzten gedeckten Lebemann, den schon Picquart als Verfasser des «bordereau» ausgemacht hatte. Seine Analyse schliesst Zola mit den Worten: «Das ist die simple Wahrheit, Herr Präsident, und sie ist erschreckend, sie wird der Schandfleck Ihrer Präsidentschaft sein. Ich weiss wohl, dass Sie in dieser Angelegenheit machtlos, dass Sie ein Gefangener der Verfassung und Ihrer Umgebung sind. Und dennoch haben Sie eine Menschenpflicht, die Sie bedenken und die Sie erfüllen müssen. Nicht dass ich im geringsten an meinem Triumph zweifelte. Denn die Wahrheit ist im Vormarsch und nichts wird sie aufhalten.»
Dann nennt Zola die Hauptverantwortlichen für den Justizirrtum beim Namen. Eine ganze Reihe von Generälen wird mit einer Deutlichkeit, welche die Leser als unerhört empfinden mussten, der Mittäter- und Komplizenschaft beschuldigt. Und der Schriftsteller schliesst seinen Brief mit den Worten: «Mein flammender Protest ist nur der Schrei meiner Seele. Wage man es doch, mich vor das Schwurgericht zu zitieren. Sollen doch die Untersuchungen im Licht der Öffentlichkeit geführt werden. Ich warte.»
Emile Zolas «J’accuse» erregte unerhörtes Aufsehen. Man riss sich die Zeitung aus den Händen, vervielfältigte den Text, klebte ihn an alle Mauern von Paris. Der Verfasser wurde wegen «Beleidigung der Armee» zu einem Jahr Gefängnis verurteilt und flüchtete ins Exil nach England. Zwar irrte sich Zola in manchen Punkten seines Offenen Briefes und urteilte mit einer Empörung, die nicht überall gerechtfertigt war. Aber nach dieser Publikation war die Frage nach der Rechtmässigkeit des Urteils gegen Dreyfus nicht mehr zu unterdrücken.
Langer Weg bis zu Dreyfus’ Rehabilitation
Im August 1898 gestand einer der schlimmsten Gegner des Hauptmanns, der Nachrichtenoffizier Henry, ein falsches Dokument angefertigt zu haben. Er wurde inhaftiert und schnitt sich mit einem Rasiermesser, das man ihm vorsorglich in die Zelle mitgegeben hatte, die Kehle durch. Nun kam die Position der Gegner von Dreyfus ins Wanken. Doch der Weg zu einer Revision des Prozesses und zur völligen Rehabilitierung von Dreyfus war noch weit.
Das Ringen zwischen «dreyfusards» und «antidreyfusards» setzte sich in Presse und Öffentlichkeit fort, und bald gewann die eine, dann wieder die andere Seite die Oberhand. Im Jahre 1899 schien eine Rehabilitation von Dreyfus möglich; doch ein Militärgericht, das in Rennes tagte, begnügte sich damit, die Strafe des Hauptmann Dreyfus auf zehn Jahre Zwangsarbeit herabzusetzen und mildernde Umstände geltend zu machen.
Es dauerte bis zum Juli 1906, bis das Urteil von Rennes aufgehoben und die völlige Unschuld des Hauptmanns Dreyfus festgestellt wurde. Im selben Innenhof der «Ecole militaire», in dem Dreyfus vor über zehn Jahren degradiert worden war, erhielt er den Orden der Ehrenlegion überreicht. Oberst Picquart, eine Figur von seltener Integrität im üblen Intrigenspiel der Militärs, wurde zum General befördert. Die Frage, wer in Wahrheit der Spion war, der dem Militärattaché Schwartzkoppen die geheimen Informationen zuspielte, ist noch heute nicht völlig geklärt. Der stärkste Verdacht fällt fraglos auf Esterhazy. Aber es könnte sein, dass dieser Esterhazy nur eine Marionette in den Händen von rechtsradikalen Dunkelmännern war, welche den Juden schaden wollten. Fest steht freilich dies: Der Hauptmann Alfred Dreyfus war unschuldig, und seine Rehabilitation erfolgte völlig zu Recht.
Affäre Dreyfus als Krise im Modernisierungsprozess
Emil Zolas Offener Brief wird heute in vielen französischen Lycées gelesen als ein Text, in dem Inhalt und Form, Leidenschaft und Vernunft, sich in vollkommener Balance halten. Die «Affaire Dreyfus» ist aber auch ein Lehrstück, an dem die vielfältigsten Formen menschlicher Wesensart, Bösartigkeit und Herzensgüte, Dummheit und Perfidie, Niedertracht und Edelmut, Feigheit und Zivilcourage, zu studieren sind. Wer die Geschichte des Hauptmanns Dreyfus kennt, möchte man meinen, dem kann im Leben nichts Unerwartetes mehr begegnen; denn ihm ist nichts Menschliches mehr fremd.
Aber auch in geschichtlicher Hinsicht ist die «Affaire Dreyfus» von grosser Bedeutung. Mit ihr und durch sie wurde der Blick auf das 20. Jahrhundert frei. Die Dominanz der Militärs, die in Frankreichs Geschichte immer wieder zu politischen Interventionen führte, wurde in Schranken gewiesen. Die republikanische Auseinandersetzung zwischen sozialistischer Linken und konservativer Rechten wurde zum Grundmuster des politischen Diskurses im 20. Jahrhundert. Die Presse wurde zu dem wichtigen Medium politischer Meinungsbildung, das sie bis heute geblieben ist. Im Zusammenhang mit der «Affaire Dreyfus» wurde erstmals der Begriff des «Intellektuellen» geprägt, des Schriftstellers, dem in der modernen Gesellschaft der Auftrag zugewiesen ist, den Standpunkt des Moralisten in die Politik einzubringen.
Zolas Idee eines Sittengemäldes der Zeit in Romanform
Dabei zielte Zolas Ehrgeiz ursprünglich in ganz andere Richtung. Als Sohn eines italienischen Ingenieurs und einer Französin in Aix-en-Provence aufgewachsen, war Zola 1862 nach Paris gezogen, hatte sich in verschiedenen Berufen schlecht und recht durchgeschlagen und war Angestellter des Verlagshauses «Hachette» geworden. Hier lernte er Schriftsteller kennen und beschloss, selbst einer von ihnen zu werden. Im Jahre 1868 fasste der junge Mann, der ohne rechte Schulbildung zum Journalisten geworden war, den verwegenen Plan, in einer Reihe von Romanen ein mächtiges Sittengemälde seiner Zeit hervorzubringen. Was Balzac mit seiner «Comédie humaine» für die erste Hälfte des Jahrhunderts vollbracht hatte, wollte Zola für das «Zweite Kaiserreich» mit seiner Familiengeschichte «Les Rougon-Macqart» leisten.
Es wurde ein mächtiges Werk von zwanzig Bänden, und sein Verfasser durfte sich rühmen, den gesellschaftlichen Wandel seiner Zeit mit wissenschaftlicher Genauigkeit und Detailtreue, «naturalistisch», wie er es nannte, dargestellt zu haben. Niemand wird heute im Ernst alle Werke Zolas lesen; aber einzelne Romane lohnen noch immer die Lektüre. So der Roman «Germinal», der unter Bergleuten in einem nordfranzösischen Kohlerevier spielt und soziale Missstände eindringlich vor Augen führt. Manche Werke des Schriftstellers sind auch hervorragend verfilmt worden. So im Jahre 1938 der Sex and Crime-Klassiker «La bète humaine» durch Jean Renoir, mit Simone Simon, Jean Gabin und einer Dampflokomotive als Hauptfiguren.
Und irgendwann wird gewiss auch die Zeit kommen, da Zolas Romane dramatisiert werden, den Weg ins Zürcher Schauspielhaus finden und von schreienden, wild gestikulierenden und dürftig bekleideten Schauspielern einem duldsamen Publikum vorgeführt werden. Wie auch immer: Zola wird weiter leben. Andauernden Weltruhm haben dem Schriftsteller jedoch nicht seine dickleibigen Romane eingebracht. Weltweit unvergessen wird Emile Zola wegen jenes Offenen Briefes bleiben, den er unter dem Titel «J‘accuse» am 13. Januar des Jahres 1898 auf der ersten Seite der Pariser Tageszeitung «L’Aurore» an den Staatspräsidenten richtete.