Lauter Spitzenköche, überall Fresstempel: das Elsass gilt als Schlemmermeile Grösse XXL. Herr und Frau Elsässer finden ihr Bauch-Glück aber längst nicht nur im Restaurant.
«Sinds zitig?», fragt die Frau ihren Mann. «Es geet», brummt er. An den Mirabellen scheiden sich die Geister. Für die einen sind sie zitig, also reif, wenn sie blass gelb und noch knackig sind. Die andern mögen sie nur «scheen weich», goldgelb und rot gesprenkelt.
Keine Mirabellen also. Das Paar schiebt den Handkarren vor sich her und steuert zum nächsten Tisch. Jetzt werden die Zwetschgen probiert. Und sie finden Gnade. 1,5 Kilo zu drei Euro – ça va. Ein chou vert und ein Sack voll Bohnen – einzeln ausgesucht und für «scheen» befunden – landen ebenfalls im Karren.
Danach die Äpfel. A croquer oder à cuire steht auf dem Schild. Schnitz um Schnitz werden Elstar, Akane und Gala miteinander verglichen. Drei Frühsorten stehen zur Zeit im Angebot. Man füllt einen 2-Kilo-Sack.
«Anciens francs» statt Euros
Es ist Sonntagnachmittag, drei Uhr. Eine verdächtig öde Zeit. Aber nicht hier in der Pommeraie an der Route du Vin zwischen Colmar und Ribeauvillé. Die grosse Halle gleicht einem Bienenhaus, und wer glaubt, hier tummelten sich nur Senioren, die auch zehn Jahre nach der Einführung des Euros noch in ancien francs rechnen, der irrt.
Das kauflustige Volk ist, was Alter, Herkunft und Kontostand angeht, bunt gemischt. Einig ist man sich nur im gemächlichen Tempo, in dem jedes Obst probiert, ausgewählt und schliesslich zur einzigen Kasse gekarrt wird.
Die Pommeraie von Sigolsheim ist die älteste Einrichtung dieser Art im mittleren Elsass. In den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts erwarben die Eltern von Bernard Gsell zwei Grundstücke, pflanzten Apfelbäume und boten die Ernte erst über die Strasse an, dann – bis jetzt nie da gewesen – zum Selberpflücken. Ein einfacher Unterstand als Verkaufsfläche genügte.
25 Kilometer Bewässerungsanlagen
Man brauchte kaum Personal. Die Idee war genial und schlug ein. Weitere Grundstücke kamen hinzu, mehr Bäume wurden gepflanzt. 1973 konnten ein erster Hangar und ein Wohnhaus gebaut werden, 1984 ein Lagerhaus.
Das «Selfen» war beliebt, also begannen die Gsells zu diversifizieren: Himbeeren und Heidelbeeren erwiesen als ideal, Kirschen, Aprikosen und Pfirsiche hingegen als zu empfindlich. Sie gelangen deshalb nur gepflückt zum Verkauf.
Inzwischen fährt Bernard Gsell seine Obstplantagen mit dem Auto ab. 25 Kilometer Bewässerungsanlagen sorgen für die richtige Bodenfeuchtigkeit, die regelmässig mit einer speziellen Vorrichtung gemessen wird.
Der Boden hier sei suboptimal, sagt Gsell, schnell ausgetrocknet, schnell übernässt. Droht im Frühjahr Frost, wirbelt eine «éolienne» – eine Art Riesenventilator – in den tiefstgelegenen und damit kältesten Gebieten die Luft auf und verhindert so das Ansetzen des Eises. «Die herkömmliche Methode, die Bäume mit Wasser zu bespritzen und so vor dem Frost zu schützen, würde mich viel zu viel Wasser kosten», sagt er.
Kritik an der französischen 35 Stunden-Woche
Von anfangs drei Apfelsorten hat Gsell auf zwanzig aufgestockt. Doch insgesamt produziert er weniger. «Die Leute pflücken nicht mehr wie früher 30, 40 Kilo und kellern sie dann ein. Seit im Supermarché rund ums Jahr jedes Obst zu kaufen ist, stagniert unser Absatz an selbstgepflückten Äpfeln.»
Deshalb hat er von 25 auf 15 Hektar reduziert und dafür das übrige Sortiment ausgebaut. 30 bis 40 Tonnen Äpfel erntet er dennoch pro Hektar, 100 bis 120 Äpfel pro Baum. Den Reifegrad seiner Früchte überprüft Bernard Gsell täglich und bestimmt so ad hoc, wann wie viel gepflückt werden darf. Das ist aufwändig, ermöglicht aber eine optimale Qualität.
Von wegen Qualitätsanspruch: Da muss der Chef schnell und heftig über die französische 35-Stundenwoche schimpfen. «Wie soll man da wettbewerbsfähig sein? Gegenüber Deutschland oder gar Spanien? Dort haben die doch viel laschere Gesetze. Zudem zahlen wir unsern Leuten für jede Überstunde doppelt so viel wie die Deutschen. Wir sind einfach absurd überreglementiert.»
Das «Selfen» – ein Volkssport
Er winkt ab. «C’est fou, c’est indiscutable.» Zum Staatsärger kommt hinzu, dass die Konkurrenz auch im Elsass schwer zugenommen hat. Das „Selfen“ ist zum Volkssport geworden und entlang der Weinstrasse wird alle 50 Meter Saison-Obst zum Kauf angeboten.
Gsell versucht die Arbeit weiterhin mit möglichst wenigen Angestellten zu schaffen. Aushilfskräfte aus der Region füllen die Lücken und im Herbst, der Haupterntezeit, kommen ihm seit Jahren zehn Polen ins Haus. Die logiert und verköstigt er, sie kennen den Betrieb und fahren nach getaner Arbeit wieder heim. So gehts. Und wenn er nicht nachzählt, wie viele Stunden er selber werkt.
Vorne im Hangar ist die Schlange vor der Kasse gewaltig gewachsen. Das alte Ehepaar steht auch da, es blickt zufrieden. Die Frau hat noch ein Pain d’Epices au miel in die Karre gelegt. Güet haben sie choisiert.
Niemand drängelt. Spitzenköche? Fresstempel? Schlemmermeile? Die Elsässer sind zuerst einmal das geduldigste Vor-der-Kasse-Steh-Volk. Wenn es ums Essen geht, wachsen Geduld und freudige Gier ins Ungeahnte. Derweil rennen die Kinder in der Pommeraie herum oder gehen draussen schaukeln und Rutschbahn fahren. Der Sonntagnachmittag tröpfelt weg, und er könnte schöner nicht sein.