14 Jahre sind dem selbst ernannten Wegbereiter eines „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ nicht genug. Mindestens weitere sechs Jahre will Hugo Chávez an der Macht bleiben und die von ihm propagierte Bolivarische Revolution vorantreiben. Der charismatische Linksnationalist und ehemalige Fallschirmspringeroberst hat nie verhehlt, dass er nur sich selbst für fähig hält, Venezuelas Geschicke zu lenken. Und deshalb, so betonte er in den letzten Wochen und Monaten ständig, sei es wichtig, dass er in der bevorstehenden Präsidentenwahl abermals siege – und zwar „mit dem grösstmöglichen Unterschied an Stimmen“.
Gegner schliessen sich zusammen
2006 hatten ihm 63 Prozent der Wähler ihr Vertrauen ausgesprochen und ihm damit zu einer demokratischen Legitimation verholfen, von der andere Staatschefs nur träumen können. Jetzt liegt er in den meisten Umfragen abermals vorn, aber bei weitem nicht mehr so deutlich.
Dies in erster Linie darum, weil die Opposition sich jetzt im Unterschied zu früheren Wahlen auf einen Einheitskandidaten festgelegt und damit ihre Ausgangslage deutlich verbessert hat. Mehr als 20 Parteien und Gruppierungen unterschiedlicher politischer Ausrichtungen schlossen sich zur Mesa de la Unidad Democrática (Tisch der demokratischen Einheit) zusammen, verabschiedeten eine gemeinsame Wahlplattform und organisierten erstmals in der Geschichte des Landes öffentliche Vorwahlen, um den Herausforderer von Chávez zu bestimmen.
Sieger wurde Henrique Capriles Radonski. Der 40-jährige Ex-Gouverneur des Bundesstaates Miranda stammt aus einer Familie von Medienunternehmern, ist Anwalt und gehört zu den Mitbegründern der rechtsliberalen Partei Primero Justicia (Gerechtigkeit Zuerst).
Unermüdlicher Herausforderer
Capriles hat in den vergangenen Monaten das ganze Land bereist und an über 300 Kundgebungen der lokalen Bevölkerung seine Vorstellungen von einem Venezuela nach Chávez präsentiert und sich ihre Sorgen und Nöte angehört. Dabei versicherte er immer wieder, dass er Errungenschaften seines politischen Gegners wie die umfangreichen Sozialprogramme oder die stärkere politische Teilhabe der Bevölkerung nicht abschaffen, sondern anders ausgestalten wolle.
Wirtschaftspolitisch distanzierte sich Capriles in seiner Wahlkampagne hingegen deutlich von der amtierenden Regierung. Er und seine Mitstreiter wenden sich entschieden gegen Nationalisierungen und auch gegen Devisen- und Preiskontrollen. Die Erdölproduktion, die weiterhin Venezuelas wichtigste Einnahmequelle ist, soll nach ihren Vorstellungen mit Hilfe privater Investitionen erhöht und der Mehrerlös hauptsächlich zur Schaffung neuer Arbeitsplätze und für Bildungsprojekte eingesetzt werden.
Siegesgewissheit
Capriles’ Engagegement an der Basis zahlte sich aus, er legte in den Umfragen laufend zu. Nach seiner Abschlusskundgebung am vergangenen Wochenende in der Hauptstadt Caracas, an der Hunderttausende Anhänger der Opposition teilnahmen, feierte er sich selbst bereits als künftiges Staatsoberhaupt. „Unseren Schätzungen zufolge werden wir mit einem Vorsprung von mehr als einer Million Stimmen gewinnen“, verkündete er siegesgewiss.
Ob Capriles oder Chávez schliesslich das Rennen macht, hängt zu einem beträchtlichen Teil davon ab, wer der beiden von den noch unentschlossenen Wahlberechtigten mehr Stimmen erhält. Je nach Umfrageinstitut beträgt der Anteil der Unentschiedenen zwischen 12 und 23 Prozent.
Einiges erreicht…
Chávez geniesst vor allem in den unteren sozialen Schichten nach wie vor einen starken Rückhalt. Er hat sich auch viel intensiver um sie gekümmert als seine Vorgänger. Zwar hat der machthungrige Linkspopulist bei weitem nicht alle seine Versprechen erfüllt, aber er hat sowohl im Bildungsbereich als auch im Gesundheitssektor und im Rentenwesen Reformen in die Wege geleitet, die vielen Venezolanern zu mehr Lebensqualität verhalfen. Der Anteil der Armen ist während seiner Amtszeit von 43 auf 27 Prozent gesunken. Die Arbeitslosigkeit ging von 13 auf 8 Prozent zurück, allerdings sind weiterhin rund 40 Prozent der Beschäftigten im informellen Sektor tätig.
…aber auch vieles versäumt
Die Fortschritte hin zu einer gerechteren und partizipativeren Gesellschaft können jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass unter Chávez viele Probleme ungelöst geblieben sind oder sich sogar noch verschärft haben. In Venezuela wuchs die Wirtschaft in den vergangenen Jahren deutlich weniger stark als in anderen lateinamerikanischen Staaten, dafür kletterte die Inflationsrate auf mehr als 20 Prozent. Der Regierung ist es bis heute nicht gelungen, Versorgungsengpässe bei Lebensmitteln, Strom und Wasser zu beseitigen, die Wohnungsnot wirksam zu bekämpfen und für effiziente öffentliche Dienste zu sorgen. Korruption und Klientelwesen sind nach wie vor weit verbreitet, das Justizwesen ist politisiert und damit alles andere als unabhängig.
Am meisten Sorgen macht den Venezolanern die zunehmende Kriminalität; 70 Prozent der Bevölkerung sehen darin das zentrale Problem des Landes. Chávez hat seinen Landsleuten des Öfteren mehr Sicherheit versprochen, bisher konkret wenig bis gar nichts unternommen, um das Verbrechen einzudämmen. Es fehlt eine umfassende Sicherheitsstrategie, die kriminelle Strukturen konsequent angeht und entwaffnet. Venezuela hat eine der höchsten Mordraten weltweit, je nach Quelle starben dort im vergangenen Jahr zwischen 14 000 und 19 000 Menschen eines gewaltsamen Todes. Das entspricht einer Mordrate von 50 pro 100 000 Einwohner, Venezuela liegt damit in dieser Statistik deutlich vor Kolumbien (33,4), Brasilien (22,7) und Mexiko (18,7).
Den Krebs besiegt?
Chávez räumte dieser Tage ein, dass seine Regierung Fehler gemacht habe – und gelobte Besserung. „In der nächsten Amtsperiode“, versprach er öffentlich, „werde ich effizienter regieren.“
Der 58-Präsident zeigte sich während des Wahlkampfs streitlustig und selbstsicher wie eh und je, war jedoch krankheitsbedingt in der Öffentlichkeit deutlich weniger präsent als in früheren Kampagnen. Seit Juni 2011 hatte Chávez zwei bösartige Tumore entfernen lassen und mehrere Chemotherapien durchlaufen müssen. Inzwischen hat er nach eigenen Angaben sein Krebsleiden besiegt und fühlt sich „moralisch, geistig und körperlich“ in bester Verfassung, um weitere sechs Jahre die Geschicke des Landes zu bestimmen. Doch dazu muss er am Sonntag auch noch gegen Capriles gewinnen.