Im „Mona Lisa“-Saal drängen sich die Leute. In der Grande Galerie herrscht Dichtestress. Doch in anderen Sälen des Museums findet man sich beinahe allein mit den Kunstwerken. Offenbar sind diese Teile des Museums vielen Besucherinnen und Besuchern kaum bekannt, obwohl manche der hier gezeigten Werke höchst anregenden Genuss bereiten und fraglos Weltkunst-Rang beanspruchen können. Erst muss man sie jedoch finden. Notfalls muss man das Museum mehrmals aufsuchen, weil wegen Wartungsarbeiten täglich je andere Säle geschlossen sind – so im obersten Geschoss des Richelieu-Flügels, wo die beiden Louvre-Vermeers hängen und die Rembrandt-Kollektion sowie, wenn man sich aufs Suchen versteht, weiter hinten auch zwei Werke von Caspar David Friedrich.
Romantisches aus dem Norden
Doch nicht davon soll hier die Rede sein, sondern von anderen Beispielen wie den Landschaftsstudien des Norwegers Peder Balke (1804–1887), dem man hierzulande leider kaum je begegnen kann. (Das Kunsthaus Zürich erhielt kürzlich ein Gemälde Balkes geschenkt, hat es aber bisher noch nicht ausgestellt.) Peder Balke ist spannend, weil er 1832 als erster Maler Nordnorwegen aufsuchte und das Nordlicht in Ölskizzen festhielt, die sich als kleine Kostbarkeiten in der Nationalgalerie Oslo befinden, und weil er den Nordkap-Felsen in mehreren Bildern in ganz verschiedenen, meist extremen Lichtverhältnissen malte.
1846 bat ihn Louis Philippe, Frankreichs „Bürgerkönig“ von 1830 bis 1848, um nordische Landschaftsbilder. Louis Philippe war selber ein Bewunderer des Nordens. Er war während seines Exils mehrere Jahre auch in Skandinavien unterwegs, und er war der erste Franzose, der den Nordkap-Felsen bestieg. Eben diese 26 kleinformatigen Bilder Peder Balkes, die Louis Philippe erwarb, sind im Louvre im letzten Obergeschoss-Saal des Richelieu-Traktes zu sehen. Die Werkgruppe setzt sich aus lichtintensiven, farblich sich aber weitgehend auf Grauwerte beschränkenden hoch romantischen Landschaften zusammen. Sie lässt die Besucher nachdenken über die Geschichte der Nordkap-Sehnsucht im 19. Jahrhundert, aber auch über die komplexe und bisweilen stürmische Entwicklung der französischen Monarchie im Nachgang zur grossen Revolution.
George de la Tours Falschspieler
Sonst ist dieses oberste Louvre-Geschoss schwergewichtig der französischen Malerei gewidmet. Wir begegnen hier Charles Le Brun, an dessen riesigen Historienbildern, welche die französische Monarchie des 17. Jahrhunderts lobpreisen, wir gerne vorbeiziehen – um vor den Werken von George de la Tour Halt zu machen, dessen Lichtspiele in der Nachfolge Caravaggios das gleiche Jahrhundert doch viel sympathischer repräsentieren. Das gilt vor allem von seinem Meisterwerk „Le Tricheur“, das mit karikierender Böswilligkeit oder mit liebevollem Spott, wie man’s nimmt, einen Falschspieler entlarvt. Höchst spannend ist es zu beobachten, wie die Personen dieses Ensembles – wohl eine Bordell-Szene – sich gegenseitig sprechende oder gar tötende Blicke zuwerfen.
Ins wiederum gleiche Jahrhundert gehören die Meisterwerke von Claude Lorrain, dessen klassische Kompositionen und Lichtführungen 170 Jahre später auch Turner so faszinierten, dass er sie paraphrasierte. Turner wollte seine sich auf Lorrain berufenden Werke in der Londoner National Gallery neben jene seines bewunderten Vorgängers gehängt wissen. Es lohnt sich, Lorrains Malereien auch von ganz nahe zu besichtigen – und zu staunen ob der Virtuosität, die er jedem auch kleinsten Detail angedeihen liess.
Wenn der Affe malt
Einige Schritte weiter überrascht Jean Siméon Chardins „Le Singe Peintre“, gemalt um 1740, die Besucherinnen und Besucher: Wir sehen einen Affen in Jacke und mit Dreispitz auf dem Kopf, der eine kleine barocke Statuette abmalt. Auf der Leinwand sind erst ein paar skizzierende Striche zu sehen. Das Tier gibt seiner Pinselführung mit einem über die Leinwand gelegten Stab wie ein wahrhaftiger Profi Sicherheit.
Vielleicht sind wir ratlos ob des ungewohnten Sujets, das so ungewohnt aber gar nicht ist: Der Affe als Maler oder Maler als Affe – und auch in ganz anderen menschlichen Alltagssituationen – ist durch die Jahrhunderte ein Malerei-Sujet, bis hin zu Gabriel von Max, der um 1900 in seinem Münchner Haus als Anschauungsmaterial eine Schar Affen hielt, die er zum Beispiel als Kunstkritiker porträtierte. Chardin malte auch einen Affen als Numismatiker, und auch sein jüngerer Zeitgenossen Jean-Baptiste Deshays de Colleville widmete sich einem malenden Affen. Der trägt das gleiche Kostüm wie jener Chardins, doch ihm posiert eine nackte junge Frau mit wohlgeformtem Rücken – eine pikante Situation, denn sie entsteigt eben einem Alkoven voller weisser Bettlaken.
Weiterdenken – bis zu Rémy Zaugg
Ein erstaunliches Sujet: Ist es Ironie und lacht da jemand über sich selber? Der Maler, der die Natur nachäfft? Entwickelt der Maler eine Affenliebe zu seinem Sujet? Lassen die berühmten drei weisen Affen grüssen, die nichts sehen, nichts hören, nichts sagen? Es ist gut, dass Unsicherheit und damit Spielraum zum Weiterdenken bleibt. Sonst wäre die Kunst langweilig. Langweilig ist das Motiv definitiv nicht, wenn man in Betracht zieht, dass der Schimpanse „Congo“ (er starb 1964 im Alter von zehn Jahren) als Dreijähriger in einem Experiment des britischen Verhaltensforschers und Künstlers Desmond Morris Bilder malte – im Stil des abstrakten Expressionismus. (Was anderes könnte er denn?) Ihm soll lediglich Zeichenmaterial in die Hand gedrückt worden sein; er soll also ohne Anleitung gemalt haben. Nach seinem Tod wurden auf einer Auktion in London für drei Bilder „Congos“ 14’400 Pfund geboten.
Was hätte Chardin wohl dazu gesagt? Ein Weiterdenken über all die ikonographischen Winkelzüge lohnt sich – zum Bespiel über das weite Themenfeld der Tier-Metaphorik, oder – um bei Chardins Sujet zu bleiben – über Rémy Zauggs Projekt „Le Singe Peintre“ im Aargauer Kunsthaus 1982. Das war, unter der Ägide des damaligen Kunsthaus-Direktors Heiny Widmer, eine ausserordentlich radikale Installation, in der der Konzeptkünstler in allerlei intellektuellen Rösselsprüngen Grundfragen der Malerei aufrollte.
Und warum nicht weiter ausgreifen – und zum Beispiel Hans Werner Ingensieps Buch „Der kultivierte Affe“ (2013) konsultieren? Chardins „Singe Peintre“ ist hier kein Thema, doch der Naturphilosoph zeichnet die verschlungenen Pfade nach, auf denen Menschenaffen den Weg in die europäische Kultur- und Geistesgeschichte fanden – auch in Chardins Bilder und weiter bis zu King Kong und anderen Schreckensgeschichten: Ein Buch voller überraschender Details.
Der Rubin im Nabel
Die ruhigen Louvre-Säle des Richelieu-Traktes bieten, sofern man nach ihnen sucht, zahlreiche Kostbarkeiten. Hier nur noch ein weiteres Beispiel: In den Räumen, die den Grabungsfunden aus Mesopotamien gewidmet sind, steht in einer Vitrine eine kleine nackte Frauenfigur aus Alabaster, vielleicht eine alte babylonische Göttin oder das Bild einer Verstorbenen. Die Figur stammt aus hellenistischer Zeit und aus dem parthischen Kulturkreis im heutigen Iran. Sie trägt einen Halbmond auf dem Kopf, goldene Ohrringe sowie einen goldenen Reif um den Hals.
All das ist nicht aussergewöhnlich. Aussergewöhnlich ist aber, dass kleine Rubine Augen und Bauchnabel markieren – und dass diese Rubine aus Burma stammen. Es sollen die ersten Steine sein, die den weiten Weg von Burma bis in den vorderen Orient gefunden haben: Wir werden Zeugen des transkontinentalen Handels bereits in der Antike. Das Wort Globalisierung gab es damals nicht, die Sache selber hingegen schon.
Und die Leonardo-Show?
Die Hauptattraktion des Musée du Louvre in diesen Monaten ist die Ausstellung zu Leonardo da Vincis 500. Todesjahr. Wer sie besucht, darf das Museum über einen Roten Teppich betreten. Ich habe das prestigeträchtige Grossunternehmen nicht gesehen. Ein Fehler? Vielleicht. Aber: Im Louvre befinden sich ohnehin ständig sechs gesicherte Leonardo-Werke. Darüber hinaus fanden nicht sehr viele Malereien Leonardos den Weg nach Paris – nicht die Felsengrotten-Madonna von London, nicht die schöne Dame von Krakau, nicht die Madonna von München, auch nicht „Salvator Mundi“, 450 Millionen Dollar wert, obwohl fast jedermann an seiner Echtheit zweifelt. Und die meist kleinformatigen Zeichnungen, die in der Ausstellung gezeigt werden, lassen sich kaum wirklich studieren: Schauen sich zwei Leute eines der Blätter an, sieht ein Dritter nichts mehr.
Die „Mona Lisa“ steht am alten Ort und wurde nicht in die Ausstellung im Untergeschoss transferiert. Sie präsentiert sich hinter neuem spiegelfreiem Panzerglas gut. Wer möchte, darf sich ein Selfie mit der schönen Dame schiessen. Vor Chardins malendem Affen sah ich niemanden ein Selfie machen.