Eine «WG der Religionen» und die Ringparabel
Im letzten Dezember lief im ersten Schweizer Fernsehen sonntags die fünfteilige Sendereihe «WG der Religionen». Fünf jüngere Menschen zwischen 45 und 23 lebten zusammen für drei Wochen in einer WG und wurden täglich von einem Fernsehteam begleitet: eine Buddhistin, eine Muslimin, ein Jude, ein katholischer Christ und – man staune – ein Atheist. Sie gestalteten gemeinsam den Alltag, ihre Austauschrunden und Gespräche zu zweit. Sie luden jeweils einmal die anderen dorthin ein, wo sie am intensivsten ihre Religion erlebten: in ein buddhistisches Zentrum, in eine Moschee, zu einem Fest in der eigenen jüdischen Familie, in ein katholisches Kloster und in eine Sternwarte. (Ein besonderer Clou war, dass der Leiter der Sternwarte dann keineswegs, wie der junge Atheist dachte, atheistisch, sondern religiös das Universum betrachtete.) Das konkrete Zusammenleben auf engerem Raum wurde genauso wichtig, wie die Gespräche und die gegenseitigen Besuche. Vorurteile wurden langsam abgebaut und das gegenseitige Verstehen wuchs, auch was den gemeinsamen Haushalt und das Kochen anging.
Wer denkt da nicht an die berühmte Ringparabel von Gotthold Ephraim Lessing mit den drei Söhnen, die alle drei vom sterbenden Vater den gleichen Erbring erhielten und dann natürlich um das Erbrecht stritten. Würde die Parabel heute neu erzählt, müsste der Vater nicht drei, sondern fünf gleiche Ringe machen lassen: für die drei monotheistischen Religionen, den Buddhismus und den Atheismus. Die Parabel ruft ja zur gegenseitigen Toleranz auf, weil alle Ringe total gleich sind. Aber die Spitze liegt in Folgendem: Der weise Schiedsrichter sagt am Ende, derjenige erweise sich als der wahrhaftige Nachfolger des gestorbenen Vaters, der dessen Wunsch und Willen für ein tief menschliches Leben der Völker am besten erfüllt hat. An den Taten entscheidet sich der Wert von religiösen Vorstellungen und Riten, welche für mich in den Ringen symbolisiert sind.
Ein alter Konflikt kocht neu hoch
Die «WG der Religionen» ist ein Beispiel, wie im Kleinen Toleranz unter den verschiedenen Weltanschauungen wachsen kann. Und wenn wir genug aufmerksam in die Welt der Religionen schauen, entdecken wir immer wieder Gruppierungen, für die Toleranz unter den Religionen zentral ist. So hinduistische Gruppen, die viele bekannte Figuren und Gründer anderer Religionen in ihrem Propheten-Himmel ehren, ohne ihre Gottheiten zu vernachlässigen. Oder die Aleviten, eine aus dem Islam erwachsene Religion, welche die Gleichstellung der Frau, die würdevolle Behandlung der Tiere und die Toleranz gegenüber den anderen Religionen leben.
Wie immer gibt es auch andere Töne. Ich denke an Phänomene wie die Neuen Atheisten. Da lesen wir Titel wie «Der Gotteswahn» (von Richard Dawkin), oder «Der Herr ist kein Hirte. Wie die Religion die Welt vergiftet» (von Christopher Hitchens). Das Gegenprogramm der Gläubigen ist allgegenwärtig im Internet, in religiösen Veröffentlichungen und zeigt sich auch in den wechselnden grossen blauen Strassen-Plakaten mit Worten wie: «Gott ist treu» oder «wer glaubt, ist gerettet».
Der Konflikt ist spätestens bekannt seit der griechischen Philosophie und den griechischen Komödien und hat seit der Neuzeit die akademische Welt durchsäuert. Jetzt flammt er mit den Neuen Atheisten wieder einmal auf.
Ein Atheist ruft zur Toleranz gegenüber den Gläubigen auf
Meine Frau kennt zu gut meine Abwehr gegenüber einem Reden von Gott. Nicht zuletzt deshalb schenkte sie mir zum letzten Weihnachtsfest das Buch von Tim Crane «Die Bedeutung des Glaubens. Religion aus der Sicht eines Atheisten». Der englische Autor Tim ist seit 2017 Professor für Philosoph an der Central European University in Budapest und ist stolz auf seinen Atheismus, möchte aber sich und andere säkularisierten Europäer und Europäerinnen zur Toleranz gegenüber den Gläubigen einladen. Er kritisiert die oben erwähnten Neuen Atheisten als wissenschaftlich unseriös. Sie konzentrierten sich auf die biblisch-monotheistische Schöpfungsvorstellung und hätten leichtes Spiel, diese aus dem Blick moderner Astronomie als eine kosmologische Irrlehre hinzustellen, aber deshalb könne man Religion nicht grundsätzlich als abergläubisch und irrational abwerten. Nicht zuletzt schöben die Neuen Atheisten dem Monotheismus die Hauptschuld für Grausamkeit und Gewalt in der Welt zu. Ein Blick allein auf die Greuel des Ersten und Zweiten Weltkrieges liesse diese Generalabrechnung nicht zu. Toleranz verlange genaues Hinschauen und Verstehen und habe nicht die Wahrheit als Ziel, «sondern Wahrung des Friedens» (154).
Religiöser Impuls und Identifikation – die zwei Zentren der Religion
Wenn Crane dann auf die Religionen und Gläubigen schaut, gelingt ihm dabei tatsächlich ein innerer Rollentausch. Schlüge man ohne die geringste Vorkenntnis das Buch dort auf, wo er den «religiösen Impuls» und die «Identifikation» mit einer religiösen Gemeinschaft als die zwei Zentren jeder Religion beschreibt, müsste man denken, hier erklärt ein Gläubiger seinen Glauben. Der religiöse Impuls sei eine «vielschichtige Überzeugung», die mehr ist als eine diffuse Ahnung wie: «Es muss doch mehr geben als … » oder «Gott, das übersteigt jeden Verstand». «Zur Religiösität gehört […] wesentlich ein Bündel von aufeinander abgestimmten und zueinander passenden Vorstellungen und Praktiken.» (17). Der religiöse Impuls mit seinen Überzeugungen werde praktisch umgesetzt in der «Identifikation»: in gemeinsamen Riten, Gebeten und Festen, im Umgang mit heiligen Gegenständen und Büchern usw. Das förderte den Zusammenhalt der Mitglieder und damit auch das Selbstwertgefühl. Beide zusammen, der religiöse Impuls und die Identifikation, stärken das Gefühl, aufgehoben und wertvoll zu sein, und zwar in einer Welt, die Bedeutung hat.
Was glaubt ein Atheist?
Und wie sieht die Welt eines Atheisten aus? In einem Interview mit dem Titel «Religion ist tief in der menschlichen Psyche verwurzelt» (im Internet unter diesem Titel zu finden) bringt es Crane auf den Punkt: Es gebe für ihn viele gute belebende und erfüllende Momente, Staunenswertes, Geheimnisvolles, Bedeutsames. Gerne feiere er auch mit seinen Kindern das Weihnachtfest, wie er im Interview erzählt; dessen tiefe Symbole und Riten wolle er für sich und seine Kinder niemals missen. Aber eine übernatürliche Kraft, die der Welt oder seinem «Leben als Ganzes» Sinn oder Bedeutung verleihe, sähe er nicht. Deshalb sei er Atheist. Aber religiöse Vorstellungen und Riten seien eine «nachvollziehbare menschliche Reaktion auf das Geheimnis der Welt und des Lebens» und deshalb bis heute «gang und gäbe» (52). Für ihn, so schliesst Crane sein Buch, sei es deshalb «ein Faktum, dass weder die Religion noch der Säkularismus verschwinden werden». Toleranz setze als erstes Schritte voraus, «dass jede Seite ein angemessenes Verständnis von der Sichtweise des Gegenübers entwickelt.» (176).
Drei weitere Werke zum Thema Religion
Das kleine Buch von Tim Crane kann auf wissenschaftliche Bemühungen in den letzten 20 Jahre zurückgreifen, die Religionen neutral als wichtigen Strang in der kulturellen Entwicklung der Menschheit betrachten. Dabei setzen die Autorinnen und Autoren je verschieden an. Ich schätze besonders folgende Bücher:
- Pascal Boyer: Und Mensch schuf Gott
- Yuaval Noah Harari: Eine kurze Geschichte der Menschheit
- Carel van Schaik und Kai Michel: Tagebuch der Menschheit. Was die Bibel über unsere Evolution verrät.
Diese drei Bücher werde ich in späteren Aufsätzen genauer vorstellen. Hier möchte ich zwei Begebenheiten reflektieren, in denen meine Toleranz sehr gefordert wurde. Dabei blende ich hier und da Gedanken aus den drei weiteren Werken ein.
Geisterglaube und ein aufgeklärtes Gottesbild in der Schweiz
Ein Freund und eine Freundin, die wir über 15 Jahre kennen und die im Buddhismus engagiert sind, erzählen uns plötzlich, dass sie eine weise Frau getroffen haben und jetzt mit Naturgeistern in Kontakt stehen, diese sehen können und mit ihnen auch kommunizieren.
Meine Frau und ich waren getroffen: Wie können geistig geschulte Menschen in diese Geister-Welt hineingeraten? Emotional bewegt berichten die beiden von ihren Erfahrungen, und zwar so, als wenn ihnen die Welt neu aufgegangen wäre. Um mich zu fassen, erinnere ich mich an Wichtiges aus den genannten Büchern. Hier melde sich, so meinen Carel van Schaik und Kai Michel unsere «erste Natur» mit unseren genetisch verankerten Gefühlen, Reaktionen und Vorlieben, die seit der Jäger-und-Sammler-Zeit in uns als «Intuition und Bauchgefühl» leben. Bei Geistervorstellungen gehe es um die Erfahrung, dass alles atmet und quasipersonalen Charakter hat (bis dahin, dass Tiere und Bäume sprechen können). Pascal Boyer belegt minutiös, dass religiöse Phänomene nichts Besonderes sind, sondern sich der allgemein menschlichen Kräfte, Prozesse, Organisationen und Erkenntnisvollzüge bedienen. Gerade die Vorstellung von «übernatürlichen Akteuren» wie Ahnen, Geister, Götter und Gott entspräche dem menschlichen Urbedürfnis, Gewohntes mit Aussergewöhnlichem zu kombinieren. Yuval Noah Hariri setzt beim Urvermögen zum «Fiktiven», d. h. zu dem, was (noch) nicht vorhanden ist. Ohne dieses Urvermögen gäbe es keine Kultur, Religion und Kunst. Trotz all dieser klugen Erklärungen blieb meine Irritation und Abwehr, dass gerade meine geschätzten Freunde aus der buddhistischen Szene den Naturgeistern huldigen.
Etwas später diskutieren meine Frau und ich wieder einmal über das leidige Thema «Gott». Sie beharrt auf der christlichen Gottesvorstellung. Ich spreche dagegen. Angeregt durch die vier oben genannten Bücher fragte ich genauer nach: Gibt dir die Gottesvorstellung einen Sinn im Leben? Nein, – Pause – aber vielleicht so etwas wie Sicherheit. – Brauchst du sie? – Ja, ich finde das einfach gut, von einer göttlichen Kraft zu wissen. – Hat diese Kraft personale Qualität? – Nein, auf keinen Fall. Gott ist doch keine Person, das war früher so. Gott schuf den Menschen doch als sein Ebenbild, also verkörpern wir Gott. – Aber in der Kirche redet man sie doch mit Du an wie im Weihnachtsgottesdienst. – Das ist mehr symbolisch. – Und dann sagte ich: Mir kommt deine Gottesvorstellung vor wie die Visionen von einem Weltgeist bei Aristoteles oder dem hinduistischen Atman als Kraft, die alles durchatmet … – Mag ja sein, aber das interessiert mich nicht wirklich. – Und was interessiert dich? – Die Riten, Hochzeit, Begräbnis usw., Gottesdienste, gleich welcher Konfessionen, die wecken gute Gefühle; und vor allem will ich sozial etwas verändern; dazu hat doch Jesus, den du immer nur «Joshua» nennst, aufgerufen.
Alles ist im Wandel und vermischt sich – so auch die religiösen Grössen
Das Gespräch mit meiner Frau hat mir bewusst gemacht, dass wir heute einen Wandel des Gottesbildes in Richtung eines universalen Prinzips feststellen können. Im 20. Jh. wurde von den meisten Christen die Personalität Gottes noch sehr betont und sogenannte Pantheismen (Gott ist alles oder aufgelöst in allem) skeptisch betrachtet. Aber heute wird die mehr apersonale Gottesvorstellung salonfähig. Auch wurde mir wieder bewusst, wie sich Anteile verschiedener Religionen zu Neuem vermischen können: Buddhistische Ausrichtung, apersonale Gottesvorstellung und jesuanisch-sozialer Impuls, das alles lebt bei meiner Frau ohne Probleme zusammen. Das vergessen wir oft: Synkretismus (Zusammenwachsen) ist ein Merkmal aller Kulturen und Religionen. Humorvoll schreibt Yuval Noah Harari: «Der Durchschnittschrist von heute glaubt an einen monotheistischen Gott, einen dualistischen Teufel, polytheistische Heilige und animistische Geister. […] Dieser Synkretismus ist vielleicht die einzige Weltreligion.» (273). Aber selbst das stimmt nicht für meine reformiert aufgewachsene Frau und viele unserer Bekannten hier ihn Zürich, die kirchlich engagiert sind. Teufel, Heilige und Geister sind denen überhaupt nicht wichtig, eher unsympathisch.
Buddhismus als ein dritter Weg jenseits von Theismus und Atheismus?
Gute Freundinnen, denen ich von meiner oft heftigen Abwehr gegen daherkommende Gottesrede erzählte, meinten verschmitzt, ich könnte doch vom Buddhismus lernen, besser damit umzugehen. Ja, ich schätze den Buddhismus, nicht zuletzt, weil er in seiner ursprünglichen Form ohne Geister, Götter und Gott auskommt; in der Volksfrömmigkeit tauchen sie später wieder auf. Deshalb war ich ja über die Geister-Begeisterung meiner Freunde irritiert, weil sie ja auch in der buddhistischen Szene engagiert sind. Aber im Buddhismus geht es um weit mehr und anderes. Yuval Noah Harari würdigt im 12. Kapitel den Buddhismus einfühlsam als «Naturgesetz-Religion». Siddhartha Gautama habe lange nach den Naturgesetzmässigkeiten geforscht und Folgendes gefunden: Alles und wir alle vergehen in einem fortlaufenden Prozess, wie aufkommende und untergehende Wellen im Weltenmeer. Zugleich ist alles mit allem verbunden, ja alles lebt nur aus dem andern heraus. Vor allem: Unnötiges Leiden entsteht dadurch, dass wir uns zu wichtig nehmen und dabei, subtil oder offenkundig, automatisch Angenehmes haben und Unangenehmes abwehren wollen. Aber in uns lebt ein Weisheitskern, der uns jede kleinste Form von Gier und Aversion erkennen und auflösen lässt. Für mich war es nicht völlig überraschend, dass Yuval Noah Harari dann im vorletzten Kapitel 18 über die moderne Glücksuche die buddhistische Weisheit als «Schlüssel zum Glück» anbietet. Wahres Glück entstehe, wenn wir uns selbst auf die Schliche kommen und uns «selbst erkennen».
Toleranz als innere «WG der Religionen»
In der Tat: Wenn ich die buddhistische Weisheit als Schlüssel zum Glück wirklich ernst nehme, dann muss ich wahrnehmen, dass ich mit meiner oft aufwallenden Abwehr gegen bestimmte religiöse Vorstellungen und Reden den gläubigen Menschen und vor allem mir selbst Leid zu füge. Aber das allein genügte noch nicht zum «Selbst-Erkennen». Als Psychotherapeut liebe ich die psychodramatische Methode. Ich sehe innere Figuren miteinander im Konflikt und schaue, wie sie gut miteinander leben können. Also kam mir der Impuls, eine innere «WG der Religionen» in mir aufzumachen und mich nacheinander in die Rollen der Religionen zu versetzen. Islam und Judentum liess ich aus. Als ich mich in die innere Gestalt des Christentums versetzte, kam Freude darüber auf, dass meine Frau Sicherheit beim Gottesglauben empfindet. Als innere Gestalt des Buddhismus merkte ich, dass die buddhistische Weisheit auch einen Glauben, ein tiefes Vertrauen fordert, nämlich dass das mit dem Naturgesetzlichen und dem Weisheitskern wirklich stimmt. Und als ich dann in die Rolle des inneren Atheisten ging, merkte ich, wie viel Angst vor Zwang und Sehnsucht nach Weite in dieser Gestalt steckt. Und ich empfand auch Freude darüber, wie meinen Freunden beim Geisterglauben die Welt neu und weiträumiger aufgeht. Und als ich dann von aussen alle drei inneren Gestalten zusammen vor mir sah, kam mir der Satz: «Ihr könnt es verdammt gut miteinander haben.»
Liebe Leserinnen und Leser, ich hoffe, in weiteren Artikeln genauere Einblicke in die drei erwähnten Bücher zu geben. Damit möchte ich meine eigene Reise durch das Thema beschreiben, wie Kultur und Religion untrennbar früher zusammen gehörten und heute in neuen Gestalten zusammenleben.
Angaben zu den Bücher:
- Tim Crane: «Die Bedeutung des Glaubens. Religion aus der Sicht eines Atheisten». Engl. Original 2017: deutsche Übersetzung 2019.
- Pascal Boyer: «Und Mensch schuf Gott». Franz. Original 2002; englische erweiterte amerikanische Fassung 2003, mit dem sachlich genaueren Titel: «Religion explained. The Evolutionary Origins of Religious Thought»; deutsche Übersetzung 2004; benutzte 4. Auflage 2017.
- Yuaval Noah Hariri: «Eine kurze Geschichte der Menschheit». Hebräisches Original 2011; englische Fassung vom Autor 2012; deutsche Übersetzung 2013; benutzte Ausgabe 2018.
- Carel van Schaik und Kai Michel: «Tagebuch der Menschheit. Was die Bibel über unsere Evolution verrät». Amerik. Original 2016; deutsche Fassung 2016; benutzte 3. Auflage 2016.