Aber halt: Inexistente Dinge sind nicht nichts; eigentlich sind sie viel aufregender als existente. Inexistente Dinge oder Personen beschäftigen uns alle: Yeti, Weihnachtsmann, geflügelte Pferde, Meerjungfrauen, Heinzelmännchen, Zahnfeen, Oger, Werwölfe, Wilhelm Tell, Siegfried oder Jeanne d’Arc; die Fantasy von heute spricht von Aliens, Androiden, Terminatoren, von Gandolf, Harry Potter oder Darth Vader. Irgendwie existieren inexistente Dinge oder Personen eben doch. Selbst wenn wir sie als Ausgeburt der Einbildung, des Wahns, des Glaubens abzuschütteln versuchen, suchen sie uns immer wieder heim, fallen uns in den Rücken.
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Der grosse Taxonom Carl von Linné reihte im 18. Jahrhundert Einhörner unter den „paradoxen Tieren“ ein, neben Hydra, Baumlamm, Drache, Sirene und anderen mytho-zoologischen Hybriden. Linné versuchte für diese Fabelwesen eine naturalistische Erklärung ihrer Anatomie zu finden. Heute, im Zeitalter der gentechnischen Hybridbildung zwischen Arten, sind solche Fabelwesen nicht nur denkbar, sondern machbare Chimären.
Ganz offensichtlich ist die Fiktion von gestern Fakt von heute. Der römische Dichter Juvenal prägte eine Metapher für „nicht existent“: „Ein rarer Vogel, gleich einem schwarzen Schwan“. Heute wissen wir, dass es schwarze Schwäne – „Trauerschwäne“ – in Australien gibt – in rauhen Mengen. Die grössten Leistungen der forschenden Neugier entstammen einem kontinuierlichen Gespräch über Dinge, die angeblich nicht existieren, auch und gerade in der Wissenschaft. Die Wissenschaftsgeschichte der Neuzeit ist eine Geschichte von Diskursen über das, was es nicht gibt: über Lichtkorpuskel bei Newton, den Wärmestoff Phlogiston in der älteren Chemie, den Lichtäther in der Elektrodynamik, den sonnennächsten Planeten Vulkan in der Astronomie, das blütenerzeugende Hormon Florigen oder morphogenetische Felder in der Biologie, Neurotelepathie in der Hirnforschung, neuerdings die dunkle Materie in der Kosmologie oder das Computronium – programmierbare Materie – in der Artificial Intelligence. In einem Artikel über die Quantenphysik Schwarzer Löcher schreiben die Autoren: „Es kann nützlich sein, Dinge zu untersuchen, die es nicht gibt.“
Vieles stellt sich als tatsächlich inexistent heraus. Allerdings gehören heute auch einige Dinge zum technischen Alltagsinventar, deren Existenz man noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts bezweifelte: Atome und Elektronen. Antimaterie – zum Beispiel das Positron – galt in den 1930er Jahren als inexistent, ja, absurd, heute braucht man sie in bildgebenden Verfahren der Medizin, in der Positronen-Emissions-Tomografie (PET). Sagen wir nie: Das gibt es nicht! Dank Genmanipulation gibt es vielleicht schon bald Einhörner mit Flügeln.
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Ob man nun an die Existenz von Einhörnern glaubt oder nicht, es geht primär nicht um die Existenz, sondern um die Glaubwürdigkeit. Glaubwürdigkeit ist ein erkenntnistheoretisches Konzept, somit kulturbestimmt. Die moderne Kultur des Westens legt grosses Gewicht auf wissenschaftliche Evidenz als Kriterium der Plausibilität. Nach dem Stadium der „kindlichen Gutgläubigkeit“ treten wir ein in das Stadium der „erwachsenen Skepsis“ gegenüber Fabelwesen wie Einhörnern. Das gehört sozusagen zu den erzieherischen Rites de Passage einer „aufgeklärten“ Kultur.
Tatsächlich glauben jedoch viele Erwachsene an Fantastisches oder Übernatürliches. Sieben von zehn Amerikanern sollen an Engel, sechs von zehn an Dämonen glauben. Das ist kein bloss amerikanischer Befund. In der Remise unseres Unbewussten stossen wir ziemlich schnell auf Kreaturen unserer „kindlichen Gutgläubigkeit“, die wir eigentlich nur abgelegt, aber nicht rational überwunden haben. Um den Buchtitel des Soziologen und Philosophen Bruno Latour leicht abzuwandeln: Wir sind nie aufgeklärt gewesen („Wir sind nie modern gewesen“).
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Wir sind sozusagen geistige Amphibien, Bewohner zweier Welten, jener der Fakten und jener der Fabeln. Unsere Fantasie ist durchsetzt mit Realitätsstücken, und unsere Realität ist gespickt mit fantastischen Einsprengseln. Unser Wahrnehmungsapparat arbeitet auf solider physiologischer Grundlage. Aber er ist nicht rein physiologisch. Der Imaginationsapparat moduliert sich ihm auf, prägt und steuert die Wahrnehmung der Realität. Realität „wie sie ist“ entpuppt sich bei genauer Reflexion als konstruiert und abstrakt.
Kernbestandteil dieses Imaginationsapparats ist – zumindest bisher – die Sprache. Inexistente Dinge sind quasi kognitive Parasiten. Sie zehren von ihrem Wirt, der Sprache, deren normale semantische Funktion – ihre Referenz, das Feststellen von Sachverhalten – sie ausnutzen, um mit ihr auf inexistente Dinge zu verweisen: Fake-Referenz. Literarische Werke sind in der Regel voll von solcher Fake-Referenz. In diesem Sinn ist Sprache eine kollektive Autorität, kraft derer wir an inexistente Dinge „andocken“ können. Man sollte daher in inexistenten Dingen nicht bloss eine kognitive Pathologie sehen. Besässen wir nicht dieses wundervolle „Andock“-Vermögen, wäre uns das Reich des Geistes, das Universum des Konjunktivs, verschlossen.
Aber diese Autorität kann mächtiger als unser Realitätssinn werden, der auf die Autorität des Faktischen baut. Inexistente Dinge verschwinden deshalb auch nicht einfach wie individuelle Sinnestäuschungen, die sich etwa durch genaueres Hinsehen oder Nachdenken korrigieren lassen. Sie sind Geistestäuschungen, kollektiv gewusste Falschheiten. Sie behaupten hartnäckig und womöglich agressiv ihre Inexistenz. Kollektive neigen zum Status quo. Sie sind kognitiv träge, konformitätssüchtig, kritikresistent. Wenn man seine Welt einmal bequem und häuslich mit Einhörnern eingerichtet hat, dann will man diese Einrichtung nicht gleich umbauen oder gar einreissen, nur weil jemand den Nachweis erbracht hat, dass Einhörner nicht existieren. Na und? Dann leben wir halt mit inexistenten Einhörnern zusammen.
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In diesem Sinn sind wir heute vielleicht mehr denn je von Einhörnern umgeben. Mittlerweile hat es sich herumgesprochen, dass wir im Zeitalter des Fakes leben. Treffender erschiene mir die Bezeichnung „Zeitalter der inexistenten Dinge“. In unseren elektronischen Lebenswelten voller Simulationen wird die Frage, ob etwas existiert, zunehmend unwichtiger. Hauptsache, wir „teilen“ gewisse Meinungen, tauschen sie aus, profilieren uns damit, „liken“ oder „retweeten“ sie, schlagen mit ihnen auf andere ein. Es ist, genau betrachtet, eine gespenstische Szenerie. In der Zuckerberg-Galaxis konstituieren sich unzählige Sprachgemeinschaften mit ihren eigenen Fake-Referenten, monadisch abgeschlossene Parallelwelten, die nichts voneinander wissen oder wissen wollen.
Man sollte also nicht erstaunt sein, dass Menschen an alternative Fakten glauben. Wir handeln meistens nicht auf der Grundlage des Wissens, sondern des Glaubens. Deshalb kümmert den Zigarettenraucher die verlässliche Evidenz nicht, dass Tabak kanzerogene Stoffe enthält; deshalb kümmern uns der Kohlendioxidausstoss in die Atmosphäre und der damit zusammenhängende Klimawandel nicht. Für uns zählt in der Regel das Glaubwürdige, nicht das faktisch Begründete. Das heisst, eigentlich leben wir in einer Welt der Fiktion, nicht der Fakten.
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Die Aussage, Magie und Fantasie hätten der wissenschaftlichen Ratio Platz gemacht, gehört zur Kolportage einer missverstandenen Aufklärung. Man sagt, Einhörner gebe es nicht Aber was heisst das? Ganz einfach: Niemand hat bisher den Nachweis ihrer Existenz geliefert, es sind auch keine Nachweismethoden bekannt oder allgemeinverbindlich definiert. Und von Donald Rumsfeld wissen wir zudem: absence of evidence is not evidence of absence. Hier öffnet sich das logische Schlupfloch des Inexistenten, des Fantastischen und Übernatürlichen. Es begleitet uns ständig durch den Alltag. Deshalb aufgepasst: Gleich um die nächste Ecke lauert auf Sie ein Einhorn mit Flügeln.