Zur dritten Goldenen Palme für Michael Haneke hat es mit „Happy End“ dieses Jahr in Cannes nicht ganz gereicht. Der Film war dort unter den Favoriten, fand aber – im Unterschied etwa zu „Liebe“, Hanekes Siegerfilm in Cannes 2012 – keine ungeteilt begeisterte Aufnahme. Einzelne Kritiker vermissten die stille Wucht des Kammerspiels, wie Haneke sie in „Liebe“ inszeniert hatte oder auch den grossen dramatischen Atem seines Meisterwerks „Das weisse Band“ (2009).
Hanekes Filme sind immer sperrig, und „Happy End“ ist trotz einer an Soap Operas gemahnenden Ästhetik nicht weniger vertrackt und hintergründig als die vorangegangenen Werke. Erzählt wird die Saga einer Bauunternehmerfamilie im nordfranzösischen Calais. Der hinfällige, oft etwas verwirrte Patriarch Georges Laurent – eine dem alten Jean-Louis Trintignant auf den Leib geschneiderte Rolle – hat das Kommando seiner energischen Tochter Anne übergeben. Der grossartigen Isabelle Huppert reicht ein Bruchteil ihres Könnens, um diese abgründige Figur geradezu beiläufig, als hätte sie nebenher Wichtigeres zu tun, auf die Leinwand zu bringen.
Bröckelnde Welten
Gediegenheit und Solidität des grossbürgerlichen Lebens in der Unternehmervilla können nicht über das allgegenwärtige Rieseln, Bröckeln und Abstürzen hinwegtäuschen. Schon das erste Dîner en famille lässt, noch bevor der Streit am Tisch ausgebrochen ist, die Luft gefrieren.
In diese Löwengrube gerät nun auch die 13-jährige Eve, Tochter von Annes ebenfalls in der Villa wohnendem Bruder Thomas. Sie lebte bis anhin bei ihrer von Thomas verlassenen Mutter, die eben an einer Überdosis Schlaftabletten gestorben ist. Selbstmord? Haneke stürzt den Zuschauer in Zweifel. Die kurzen Handyvideos zu Beginn zeigen den verächtlichen Blick der kleinen Eve auf ihre Mutter und ihren eiskalten Tierversuch mit ebendiesen Schlaftabletten, dem das Meerschweinchen zum Opfer fällt. Ist die niedliche Eve etwa ein kleines mörderisches Biest?
Anaïs, die Noch-Partnerin von Eves Vater Thomas – dieser hat eine pornographische Chat-Liaison mit einer Cellistin am Laufen – meint Eve trösten zu müssen, umarmt sie und sagt: „Alles wird gut.“ Da sieht der alte Patriarch Georges wohl klarer. Sein knurriger Gruss an die Kleine: „Willkommen im Club!“
Vor Anaïs kann Thomas seine Eskapaden geheimhalten, nicht aber vor Eve. Sie hat ihren Vater längst durchschaut und ausspioniert. Als sie bei ihm im Auto in Tränen ausbricht und er hilflos reagiert, spielt sie ihre Karte: „Schicke mich nicht ins Heim, wenn du Anaïs verlässt!“
Katastrophen in Calais
Bei den Laurents bröckelt es nicht nur im Verborgenen, sondern auch massiv, grossformatig und tödlich. Auf einer Baustelle der Firma stürzt die riesige Baugrube ein und reisst einen Arbeiter in die Tiefe. Das stoische Bild einer Überwachungskamera mit eingeblendeter Laufzeit rapportiert den Vorfall distanziert und clean. Und genauso reagiert Anne. Ihre einzige Sorge gilt der Zurückweisung jeglicher Verantwortung. Dem offensichtlich überforderten Sohn Pierre entzieht sie die Aufgabe des Managing Directors der Firma.
Als Pierre die Familie des getöteten Arbeiters besuchen will, wird er erst nicht hereingelassen und dann vom Sohn jämmerlich verprügelt. Derweil fädelt Anne mit ihrem baldigen Verlobten, dem Engländer Lawrence, heimlich bereits den Verkauf des Unternehmens ein.
Mit einem Kastenwagen der Baufirma versucht der alte Georges sich das Leben zu nehmen. Doch der Baum, gegen den er fährt, reicht nur für einen Beinbruch. Georges bleibt stur. Selbst im Rollstuhl büxt er wieder aus. Diesmal will er offenbar bei Flüchtlingen, die in Grüppchen durch die Strassen streifen, Drogen kaufen. Es misslingt genauso wie der Versuch, den Coiffeur als Sterbehelfer zu akquirieren.
Haneke lässt seinen Film nicht zufällig in Calais spielen. Die Kopfstadt des Kanaltunnels war lange Schauplatz einer total aus dem Ruder gelaufenen Migrantenszene. Zur Zeit der Filmhandlung ist das berüchtigte, „Dschungel“ genannte Camp aufgelöst und die Autobahnzufahrt zur Verladestation mit hohen Zäunen gesichert. Eine der ersten Einstellungen des Films zeigt Anne, die telefonierend im Auto an dieser endlosen Einzäunung entlangfährt.
Moment der Wahrheit
Nicht nur Georges möchte sein Leben loswerden. Auch Eve unternimmt einen Suizidversuch. Als ob sie die Verbindung zwischen ihnen beiden ahnte, sucht sie den Grossvater in seinem Zimmer auf, steht, von ihm wenig freundlich zum Entscheid „rein oder raus“ gedrängt, lange zögernd in der Tür, setzt sich schliesslich zu ihm. Es folgt die einzige Szene mit einem Anhauch von Wärme. Georges erzählt Eve, was bislang niemand weiss: Er hat seine Frau nach langem, hoffnungslosem und entwürdigendem Leiden im Bett erstickt.
Es ist die Geschichte des Films „Liebe“, die Haneke genau wie weitere Elemente aus seinen früheren Werken hier in die Handlung einflicht. Die Filme „Liebe“ und „Happy End“ werden damit nicht erzählerisch verknüpft, die neue Geschichte schliesst nicht an die vorherige an. Der Bezug hat eine andere Funktion: Haneke benützt die Reminiszenz, um den Moment der Wahrheit, der sich in der Begegnung ereignet, dramaturgisch herauszuheben und zu beglaubigen.
Mit einer noblen grossen Party am Meer feiern Anne und Lawrence ihre Verlobung. In der Festivität lässt Haneke die in die Story eingebauten Sprengsätze spektakulär hochgehen. Es fängt schon damit an, dass Thomas’ heimliche Geliebte in einem blutrot fliessenden Samtkleid den Anlass mit einem schwülstigen Cellostück eröffnet. Als eben das Essen beginnt, platzt Annes Sohn Pierre herein, im Schlepptau einen Trupp Flüchtlinge, die er als Ehrengäste hereinnötigt.
Die Situation ist an Peinlichkeit nicht zu überbieten. Die dunkelhäutigen Gestalten: aufs Übelste missbraucht für eine familiäre Racheaktion, mit der sie nichts zu tun haben – die Gäste: in eine unsägliche Position manövriert, in der es kein angemessenes Verhalten gibt – die Familie und besonders die Mutter: blamiert und aufs äusserste aufgebracht durch Pierres Sabotage.
Im Chaos der in die Luft gesprengten Verlobungsfeier fordert Georges seine Enkelin auf, ihn hinauszufahren. Er dirigiert sie zur steilen Bootsrampe und lässt sich ins Meer rollen. Eve bleibt stehen, nimmt ihr Handy und filmt den mit dem Rollstuhl versinkenden Grossvater und die alsbald herbeieilenden, panisch gestikulierenden Familienmitglieder.
Was formt die Menschen?
Eve und ihrer Handykamera gehören nicht nur Eingang und Schlusssequenz des Films. Obschon jede der weiteren Hauptfiguren – Georges, Anne, Thomas, Pierre – als ein Fixpunkt der Saga gesehen werden kann, ist es am Ende Eve, auf die sich die Aufmerksamkeit konzentriert. Sie ist in ihrer Abgründigkeit ein Produkt jener verrotteten Bürgerlichkeit, die Haneke blossstellt. Mit ihren nicht ganz dreizehn Jahren ist sie kein Kind mehr. Haneke sorgt so diskret wie gründlich dafür, dass man nicht auf die Idee kommt, ihr das Attribut der Unschuld zuzuschreiben.
Und doch ist sie in einem anderen Stand als die Erwachsenen. Genau die Frage nach diesem Stand ist von allen Beunruhigungen dieses Films die folgenreichste: Wie werden Menschen zu dem, was der Beobachter Haneke feststellt? Was formt sie für dieses eingezäunte Leben?
In der 2005 geborenen Belgierin Fantine Harduin hat Michael Haneke eine Darstellerin der Eve gefunden, die diese Rolle ohne Aktivismus verkörpert. Sie entwickelt im Innehalten und Schweigen, mit undurchdringlichem Blick, durch schiere Präsenz eine Kraft, mit der sie neben den Allergrössten des Kinos – Jean-Louis Trintignant und Isabelle Huppert – mühelos besteht. Der Besuch des Films lohnt sich allein schon, um Fantine Harduin zu erleben.
Das Zurich Film Festival dauert noch bis zum 8. Oktober.