Findet die Katastrophe bei der Pflege und Heilung von Corona-Kranken nun ihre Fortsetzung bei der Prävention? Das Impfen einer Milliardenbevölkerung ist eine Mammut-Aufgabe, aber es gibt wenige Länder, die mehr Erfahrung mit Impf-Prävention haben. Indien ist, mit seiner riesigen genetischen Diversität und den grossen Mängeln bei der Volkshygiene, Weltmeister in der Vielzahl von Mikroben – der Traum jedes Virologen und der Albtraum jedes Gesundheitspolitikers.
Jedes Jahr werden hundert und mehr Millionen Menschen geimpft, und der Erfolg – bei Polio, Lepra, HIV, Pocken – zeigt, dass das Land fähig ist, diese logistische Herausforderung zu meistern. Es ist kein Zufall, dass die Nummer Eins in der Herstellung von Impfstoff in Indien sitzt und dass Indien zu den grössten Herstellern von Generika zählt. Das Serum Institute of India deckt in normalen Zeiten 40 Prozent der Weltproduktion ab.
Gute Voraussetzungen also für einen raschen Ausbau der Produktionskapazität und der Organisation einer landesweiten Impfkampagne, um der Covid-19-Pandemie Herr zu werden. Doch das Gegenteil ist eingetroffen. Als letztes Jahr die ganze Welt gebannt auf die Einführung eines Impfstoffs wartete, als Regierungen vorsorglich hunderte Millionen Ampullen bestellten und ebenso viel Geld vorausbezahlten, geschah in Indien – nichts.
Sonst tat der Staat nichts
Ausser beim Serum Institute. Dort verbündete sich die Besitzerfamilie Poonawalla mit dem Pharma-Multi Astra Zeneca und einem Forschungsteam der Universität Oxford. Die drei kamen rasch zu einem Vertragsabschluss mit der WHO. Er sollte sicherstellen, dass auch arme Länder bei den Impfstofflieferungen nicht zu kurz kamen. Die Gates-Stiftung investierte 150 Mio. Dollar in das SII, damit dieses neue Fabrikstrassen bauen konnte. Im Gegenzug würde SII mehrere hundert Millionen Ampullen an die Covax-Initiative exportieren. Für Indien wartete Adar Poonawalla vergeblich auf eine Bestellung.
Premierminister Modi dagegen bewegte nur den kleinen Finger: Er etikettierte die (kommerziellen) Lieferungen an 81 Länder als „Geschenk“ und setzte sich als globaler Wohltäter und Apotheker der Welt in Szene. Doch sonst tat der Staat nichts. Weder bestellte er Impfstoff, noch schoss er Investitionskapital ein, noch bereitete er eine Impfkampagne vor.
Erst Ende 2020, als sich zeigte, dass Indien international rasch ins Hintertreffen geriet, stellte es eine Impfstrategie in Form einer Milchmädchenrechnung vor: Ziel sind 800 Millionen Geimpfte bis Ende 2021. Mitte Januar wurde bei den 30 Millionen „essential workers“ begonnen. Im März sollten die 400 Millionen Senioren (45+) folgen, im August dann die restlichen 500 Millionen Erwachsenen.
Knapp 3 Prozent der Bevölkerung geimpft
Was folgte, war, nur Tage (!) vor dem Beginn der Impfkampagne eine Bestellung von 50 Mio. und später 100 Millionen Ampullen bei SII und 65 Millionen beim zweiten Hersteller, Bharat Biotech, (bei einem Gesamtbedarf von zwei Milliarden Spritzen für die zweifache Anwendung). Doch dann war Wahlkampf angesagt, es gab religiöse Massenfeste, und Herr Modi verkündete das Ende von Covid in Indien, mit ihm als Retter.
Das Impfen lief nebenher, solange die Kapseln eben reichten. Doch mit dem Schrumpfen der Impfstoff-Lieferungen explodierte plötzlich die Zahl positiver Tests. Das Gesundheitssystem brach unter der Last von Hospitalisierungen ein. Endlich dämmerte den Regierungspolitikern, was die Welt schon lange wusste: Die einzige Rettung lag, auch für das Land der vielen Götter, in einer raschen und umfassenden Impfkampagne.
Die Zentralregierung sprach plötzlich zinsfreie Darlehen an SII und Bharat Biotech, bestellte mehrere hundert Millionen Dosen. Doch mit dem Hochfahren der Produktion kamen die ersten schweren Engpässe. Importe von Ausgangsmaterialien, die Lieferung von Spritzen und Fläschchen, das millionenfache Anreichern von Proteinen. Alles kam ins Stocken. Es zeigte sich, dass es Monate dauern würde, bis die tägliche Verabreichung von vier Millionen erreicht würde. Bereits ist ein halbes Jahr verstrichen, und Indien hat knapp 3 Prozent seiner erwachsenen Bevölkerung geimpft.
Weiterer Tiefschlag
Nun hatte Narendra Modi eine brillante Idee, um den Prozess zu beschleunigen. Auch dies war eine Kopfgeburt, ohne Konsultation mit den Bundesstaaten und der wissenschaftlichen Taskforce. Die Zentralregierung würde nur noch die Hälfte der Ampullen übernehmen und sie den Provinzen zur Impfung der Senioren weitergeben. Für den Rest waren diese selber verantwortlich – zu Preisen, die sie mit den Herstellern aushandeln müssen.
Es braucht nicht viel Verstand, um die Folgen abzusehen: Die Staaten würden sich im Preiskampf zerfleischen, und durchsetzen würden sich am Ende die reicheren Bundesländer mit mehr politischem Muskel, statt jene – armen – mit den am stärksten gefährdeten Bevölkerungen. An Stelle einer Korrektur folgte ein weiterer Tiefschlag, ebenfalls als grosszügige Geste verpackt: Die Gliedstaaten dürften ab sofort globale Ausschreibungen machen.
Man stelle sich dieses Szenario vor: Statt dass Indien, ein zahlungskräftiger Mega-Konsument, rasch günstige Ampullen aushandelt und bestellt, soll nun ein Zwerg wie Goa oder Sikkim bei Pfizer oder Moderna, Russland oder China antreten – gegen Interessenten wie Argentinien oder Brasilien oder Ungarn.
Verzicht auf Patentschutz?
Ähnlich stümperhaft gebärdet sich Delhi nun in einer multilateralen Auseinandersetzung, die es selber losgetreten hat. Zusammen mit Südafrika beantragte es bei der Welthandelsorganisation WTO eine Ausnahmeregelung, die das TRIPS-Abkommen über geistiges Eigentum ausdrücklich zulässt: Der Verzicht auf Patentschutz im Fall einer globalen Krise. Dies würde es Staaten erlauben, Pharma-Firmen zu zwingen („compulsory licensing“), patentgeschützte Medikamente oder eben Impfstoff herzustellen ohne deren Einwilligung.
Noch bevor die WTO über den Antrag abgestimmt hat, reichte die Regierung letzte Woche beim eigenen Obersten Gericht ein Gutachten ein. Darin bittet sie das Gericht, das Compulsory Licensing – nein, nicht in Kraft zu setzen, sondern es im Gegenteil zu ... verbieten. Sie fürchtet offenbar, die internationalen Konzerne gegen sich aufzubringen, da diese der TRIPS-Ausnahmeregelung ablehnend gegenüberstehen. Das mag eine berechtigte Befürchtung sein. Aber dies zu tun, noch bevor die WTO über den eigenen Antrag befunden hat, kommt einer Kapitulation noch vor Beginn der Kriegshandlungen gleich.
Die USA als weitaus wichtigste „Patent-Macht“ haben sich dem Antrag Indiens und Südafrikas angeschlossen. Das hat viele erstaunt, gehören die USA doch zu den härtesten Verfechtern (und Nutzniessern) des Schutzes geistigen Eigentums. Doch vielleicht steht die Einsicht dahinter, dass der weltweite Sieg über die Pandemie erst dann errungen sein wird, wenn alle Länder – und gerade so riesige wie Indien – sie bezwungen haben.
Keine Kontrolle in Amsterdam
Ein Land mit 1,4 Milliarden Einwohnern, mit einem riesigen Gen-Pool an potentiell lebensgefährdenden Mikro-Organismen, muss diesen Kampf gewinnen, will die Welt ihn gewinnen. Gegenwärtig steigt die Zahl der Infektionen vermutlich im Gleichschritt mit der Zahl von Impfungen – das Land tritt vor Ort. Statt dass neue Impfzentren öffnen, müssen viele schliessen, weil kein Impfstoff vorhanden ist. Meiner Wohnregion, dem Sub-Bezirk Alibagh mit rund 150’000 Einwohnern, sind gegenwärtig 4000 Impfkapseln pro Tag zugeteilt. Geliefert werden 200.
Ein weiteres Argument für internationales Engagement: Die zahlreichen Mutationen werden sich nicht hinter nationalen Grenzschleusen unter Verschluss halten lassen. Die rasche internationale Verbreitung eines einzigen „Variant of concern“, wie jene des Mutanten B.1.617, zeigt, dass eine totale Abschottung in einem globalisierten Verkehrs- und Austauschnetz eine Chimäre ist. (Selbst das notorisch abgeschottete Nordkorea meldet inzwischen zahlreiche Covid-Infektionen.)
Wie porös diese Grenzen sind, habe ich diese Woche selber erlebt. Wir flogen am Dienstag via Amsterdam in die Schweiz zurück. Wir hatten einen PCR-Test gemacht und diesen pflichtschuldig beim Einchecken in Mumbai vorgewiesen. Doch dann hatten wir freie Bahn: Keine Kontrollen (nicht einmal der Pässe) in Amsterdam.
Keine Kontrolle in Zürich
Aber, so dachte ich, in Zürich werden sie uns herausfischen. Denn zwischen unserem PCR-Test in Mumbai und dem Besteigen des KLM-Flugs lagen 24 Stunden, in denen wir notwendige Einkäufe machten, Taxi fuhren und Leute trafen, wie dies eben ist bei einer Ausreise mit einem ungewissen Rückkehrdatum. Wir hätten uns also anstecken können. Doch in Kloten tauchte kein einziger Beamter auf – weder gab es eine Passkontrolle, noch war der Zoll besetzt, und keine Zürcher Krankenschwester wollte uns einen Schnelltest verpassen.
Wir hätten ohne weiteres die gefürchtete Indien-Variante des Virus einschleppen können. Doch nur das aus Amsterdam mitgereiste Curling-Weltmeister-Team wurde mit Kuhglocken in Empfang genommen – für uns interessierte sich niemand. Als ich einer Freundin von unserer klanglosen Ankunft erzählte, hatte sie eine plausible Antwort parat: „Die haben Alle Reissaus genommen, als sie Euch erblickten.“