Michael R. Gordon war während Jahrzehnten „Korrespondent für nationale Sicherheit“ bei der New York Times und gilt als Prototyp des „eingebetteten Journalisten“. Im September wird Gordon zusammen mit anderen prominenten Mitarbeitern der Zeitung pensioniert.
Zusammen mit russischem Militär im Schützengraben
Dem Berufskollegen Gordon begegnete ich im Tschetschenien-Krieg. Dort war er ein „embedded journalist“ der russischen Armee. Seine Berichte in der NYT widerspiegelten die Sichtweise des russischen Militärs. Für Gordon, den ich in einem Schützengraben beobachtete, waren die russischen Soldaten die einzigen Bezugspersonen. Kritische Bemerkungen zum Einsatz der russischen Armee in Tschetschenien, über die hohe Zahl der zivilen Opfer oder die schweren Menschenrechtsverletzungen der Militärs waren nicht zu lesen. Die russische Militärführung garantierte ja auch für Gordons Sicherheit und unbehelligtes Arbeiten vor Ort. Unter diesen Umständen halten sich Journalisten mit Kritik und der Darstellung negativer Seiten der Militäreinsätze zurück.
Während der ersten Phase des Irakkrieges war Michael Gordon der einzige Zeitungsreporter, der eine Militäreinheit als „embedded journalist“ begleiten durfte. So hatte Gordon die Gelegenheit, unter Führung von General Tommy R. Franks die Invasionstruppen zu begleiten.
Spätes „Schuldgeständnis“ der New York Times
Zusammen mit Judy Miller hat Gordon die meisten der Berichte in der NYT über das angebliche Vorhandensein von sogenannten Massenvernichtungswaffen im Irak vor der Invasion im Jahr 2003 veröffentlicht. Diese Artikel führten 2004 zu einem „Schuldbekenntnis“ auf der Titelseite der NYT. Dort heisst es: „Ein grosser Teil dessen, das die Times aus dieser Zeit berichtete, war ein genaues Spiegelbild der aus Geheimdienstunterlagen zusammengestellten Fakten, die selbst wiederum auf bruchstückhaften Informationen basierten. Es gab eine Reihe von Instanzen der Times, die diese Informationen nicht streng genug geprüft haben oder dazu nicht qualifiziert genug waren. Einige Kritiker haben die Schuld dafür einzelnen Reportern gegeben. Unsere Prüfung zeigt jedoch, dass das zugrundliegende Problem komplizierter Natur ist und nicht an Einzelnen festzumachen war.“
Mit Recht nimmt der Medienexperte Michael Massing in der New York Review of Books die führenden US-Medien aufs Korn. In seinem ausführlichen Beitrag „Now they tell us“ (26. Februar 2004) fragt Massing: „Wo wart ihr alle vor dem Krieg? Warum erfuhren wir nicht über diese Betrügereien und Verheimlichungen in den Monaten, als die Bush-Regierung sich mit allen Kräften für einen Regimewechsel im Irak eingesetzt hatte?“ Zu Beginn des Sommers 2002 habe innerhalb der Geheimdienste eine heftige Debatte darüber stattgefunden, wie die Bush-Regierung die Daten über Irak manipuliert hätten. Viele Journalisten hätten davon gewusst, aber nur wenige hätten darüber berichtet.
Kritische Stimmen nicht berücksichtigt
Massing kritisierte, dass viele Stimmen, die sich gegen die Behauptungen der US-Regierung bezüglich des Vorhandenseins von Massenvernichtungswaffen richteten, von Gordon und Miller nicht berücksichtig worden seien. Gordon habe sich zudem nur mit wenigen Kritikern getroffen.
Auf die Kritik von Massing erwiderte Gordon: „Ich bleibe bei meiner Behauptung, dass es eine weit verbreitete Annahme von Experten innerhalb und ausserhalb der US-Regierung war, dass der Irak Massenvernichtungswaffen herstellen wollte. Das Thema ist weitaus komplexer als Massing es darstellt.“
In einem Interview einer Sendung des Public Broadcasting Service im Januar 2007 hatte Michael Gordon ausdrücklich eine Erhöhung der US-Truppen im Irak unterstützt. Daraufhin veröffentlichte der Ombudsmann der NYT seine Missbilligung darüber, dass der Chef-Korrespondent für nationale Sicherheit der Zeitung seine persönliche Meinung über den Irak im nationalen Fernsehen veröffentlicht habe. Gordon entschuldigte sich für diesen Fauxpas.
Den politischen Kontext im Irak verdrängt
Zusammen mit General Bernard E. Trainor hat Gordon seine Erfahrungen in zwei Büchern „The General‘s War“, das den Zweiten Golfkrieg 1991 thematisiert, und den Bestseller „Cobra II: The Invasion and Occupation of Irak“ zum Irakkrieg 2003 festgehalten. The General‘s War wurde unter anderem vom damaligen Verteidigungsminister Dick Cheney gelobt. Die liberale Wochenzeitschrift The New Republic kritisierte hingegen, dass Gordon und Trainor „in der militärischen Fehleranalyse wie gefangen erscheinen und so unbeabsichtigt das grundlegende Problem im Irak verdrängen, das ein Politisches ist“.
Auch im Ukraine-Konflikt eine unrühmliche Rolle
Der Fall Gordon hat Zweifel an der unabhängigen Berichterstattung der NYT geweckt. Erneut ins Gerede kam die NYT, als das Weltblatt im April 2014 auf der Frontseite eine Fotoreportage veröffentlichte, die beweisen sollte, dass russisches Militär in der Rebellion der Ostukraine direkt involviert sei und eine getarnte russische Invasion bevorstehe. Nach kritischen Reaktionen aus der Leserschaft sah sich die Redaktion zu einem Rückzieher veranlasst. Sie musste der Leserschaft mitteilen, dass die Zeitung das Bildmaterial aufgrund eines Lecks im US-Aussenministerium erhalten habe. Im US-Aussenministerium, so entschuldigte die Redaktion ihren Fehler, habe man die Fotos mit falschen Legenden versehen. Die damalige Ombudsfrau der NYT, Margaret Sullivan, tadelte die Redaktion, sie hätte die Echtheit der Bilder überprüfen müssen. Die „Verwechslung“ der Fotos und Legenden kann aber auch anders interpretiert werden: Die NYT wurde vom US-Aussenministerium bewusst instrumentalisiert, weil sie weltweit ein Leitmedium ist.
Dies erinnert wiederum an die unrühmliche Rolle der NYT, als sie sich nach den Anschlägen vom 11. September 2001 von der Regierung manipulieren liess und behauptete, der Irak sei im Besitz von Massenvernichtungswaffen. Im Zentrum der Kritik stand erneut der „eingebettete Journalismus“, der sich von den Spin-Doctors der Bush-Regierung von einer „vierten Gewalt“ zu einer „vierten Front“ umfunktionieren liess, wie es Tommy Franks, der Oberbefehlshaber der US-Truppen im Irak, genüsslich formulierte. Der US-Journalismus als Institution stürzte in eine Vertrauenskrise, von der er sich bis heute noch nicht erholt hat.
Angst, gegen den Mainstream schwimmen zu müssen
Verantwortlich für die manipulierte Berichterstattung über den Irak-Krieg waren nicht nur die Journalisten, sondern auch die Verlagsmanager und TV-Bosse. Sie hatten Angst, gegen den patriotischen Mainstream schwimmen zu müssen und dadurch Leser, Zuschauer und Werbung zu verlieren. Der Medienkritiker Michael Massing nennt das „Pack-Mentality“: „Der Kontrast zwischen dem Auftreten der Presse nach dem Ende des Krieges und ihrer Ängstlichkeit vorher zeigt eine der beunruhigendsten Eigenschaften des amerikanischen Journalismus auf.“
* Roman Berger war Washington- und Moskaukorrespondent des Tages Anzeigers.