Der Angriff des „Islamischen Staats“ (IS) auf die Stadt Kobane, der am vergangenen Donnerstag früh begann, erwies sich eher als ein kurzfristiges Eindringen denn als ein Eroberungsversuch. Die kurdischen Kämpfer meldeten am Samstag, die IS-Eindringlinge seien zurückgeschlagen worden. Einige, die sich verstecken wollten, würden noch gesucht. Von anderen acht Bewaffneten werde angenommen, dass sie über die Grenze in die Türkei geflohen seien. Zivilisten, die während der Kämpfe aus Kobane geflüchtet waren, haben begonnen, in ihre zu 70 Prozent zerstörte Stadt zurückzukehren. (Siehe Karte unten.)
Die Eindringlinge - manche sollen kurdische Uniformen getragen haben – hatten zum Ziel, möglichst viele Zivilisten in Kobane zu töten. Sie drangen in die bewohnten Häuser und Wohnungen ein und ermordeten dort alle Bewohner, auch Frauen und Kinder. Bisher sind 207 Leichen von Zivilisten mit Einschusswunden entdeckt worden. Möglicherweise werden noch mehr gefunden. Es gab auch Versuche, Geiseln zu nehmen. Einzelheiten sind noch nicht bekannt. Was man weiss, kommt von Sprechern der kurdischen Kämpfer, die sich über Handys und Satellitentelefone mit der Aussenwelt in Verbindung setzten. Die türkischen Behörden halten den Grenzübergang für Hilfsorganisationen und für ausländische Journalisten vorläufig geschlossen. Verwundete aus Kobane werden in die Türkei eingelassen. Doch Flüchtlinge aus der Stadt mussten auf der syrischen Seite der Grenze vor dem von türkischer Polizei bewachten Stacheldraht ausharren. Es gibt Bilder von der türkischen Seite, die zeigen, dass sie sich direkt am Stacheldrahtzaun Plastikdächer als Sonnenschutz errichtet haben.
Rache
Präsident Erdogan wehrt sich energisch gegen die Behauptung, die IS-Eindringlinge seien aus der Türkei gekommen. Der türkische Präsident nennt solche Berichte eine "grosse Lüge". Er betont, die Türkei werde auf keinen Fall zulassen, dass an der syrischen Grenze ein "neuer Staat" entstehe.
Mit ihrem Feldzug am Donnerstag und Freitag wollte der „Islamische Staat“ Rache nehmen. Die IS-Kämpfer waren im Januar aus Kobane vertrieben worden. Ziel war es jetzt zu demonstrieren, dass der IS nach wie vor eine Gefahr für die Kurdenstadt darstellt. Das Massaker, das sie in Kobane anrichteten, zählt zu den schlimmsten, die der „Islamische Staat“ bisher verübt hat.
IS-Angriff auf Hassake
Kampfhandlungen werden aus Hassake (siehe Karte) gemeldet, der etwa 200 km entfernten Hauptstadt der Nachbarprovinz. Sie liegt nordwestliche von Rakka, der "Hauptstadt" des "Islamischen Staats". In Hassake soll es den IS-Kämpfern gelungen sein, einige Quartiere im Südwesten der Stadt zu erobern. Doch die Kurden leisten weiterhin erbitterten Widerstand. Unterstützt werden sie von der syrischen Regierungsarmee, die bisher das Stadtzentrum beherrschte. Dabei dürfte es eine Art von Arbeitsteilung geben: Die Kurden einerseits und die syrischen Soldaten anderseits verteidigen "ihre" Stadtteile.
Möglicherweise war das Massaker in Kobane nicht nur ein Akt der Rache. Vielleicht war es auch dazu gedacht, kurdische Kämpfer in Kobane zu binden, während der Hauptangriff sich auf Hassake richtete. Etwa 60 000 Zivilisten sollen inzwischen aus der Stadt geflohen sein.