Demut hat derzeit eindeutig keine Konjunktur. Nicht einmal die Kirchen trauen sich noch, sie bei ihren Schäfchen anzumahnen, weil die das als übergriffig empfinden könnten. Demut passt nicht in den Zeitgeist, denn sie steht in diametralem Gegensatz zum Mass an Selbstbestimmung, über das wir uns heute im Westen definieren. Von der Aufklärung bis zu Nietzsche hat sich die Religionskritik am Konzept der Demut abgearbeitet, hat sie als reines Machtmittel denunziert, als eine Geissel, unter der die Menschen sich ducken sollten.
Und was die traditionelle – sowohl kirchliche wie politische – Praxis rund ums Demutsgebot betrifft, ist jene Kritik natürlich im Recht. In der Tat diente es primär dem Zweck, die Menschen klein zu halten, damit sie sich den herrschenden Mächten unterwarfen. Wer das Gebot einmal verinnerlicht hat, wird sich schuldig fühlen, sobald er nur den Schatten eines Anspruchs in sich aufsteigen fühlt. In der Folge muss er Abbitte leisten, indem er sich geradezu überkugelt vor Selbstaufgabe.
Die andere Seite der Demut
Dieser Schuldmechanismus verträgt sich selbstverständlich nicht mit der Vorstellung vom mündigen Subjekt. So ist sie denn auf dem Müllhaufen der Geschichte gelandet. Doch ganz lässt sich das Ideal der christlichen Demut nicht auf jenen Schuldmechanismus reduzieren. Demut kann durchaus auch etwas anderes bedeuten als blinde, passive Unterwerfung, nämlich eine freiwillige Selbstzurücknahme im Interesse von etwas Grösserem, eine Einsicht in die Eitelkeit individueller Begierden und Ansprüche, das schlichte Zugeständnis, dass die Welt sich nicht um einen selbst zu drehen hat.
In dieser Funktion dient Demut sogar der Selbstermächtigung, weil sie einen über die Borniertheit des eigenen Standpunkts hinausführen kann. Wer demütig ist in einem solchen Sinn, der braucht weder zu hadern noch zu hassen. Er ist frei, sich dem zu stellen, was ihm gerade geschieht, und damit flexibel bzw. resilient, um es einmal in modischer Terminologie auszudrücken. Diese Art von Demut würde auch Mächtigen gut anstehen, und dass deren Selbstinszenierung diese Tugend zurzeit weitgehend vermissen lässt, nehmen sogar viele als Manko wahr.
Wiederkehr des Verjagten
Keine Frage, um diese befreiende Seite ging es nicht, wenn Demut jeweils von den Kanzeln herunter gepredigt wurde; sie bildete da allenfalls das Zückerchen, das über die Peitsche hinwegtrösten sollte. Ziel der kirchlichen Ansprache war gewiss nicht die souveräne innere Haltung, sondern der äussere Habitus der Selbstaufgabe: gekrümmte Rücken und schuldverzerrte Mienen.
Souverän gelebte Demut hätte den Institutionen ja einen Spiegel vorhalten und sie – zu ihrem Nachteil – am eigenen Anspruch messen können. Das galt es zu vermeiden, und genau darüber ist Demut nach der Aufklärung zum Unwort geworden, ja, letztlich zum Inbegriff einer Sklavenmoral, welche einfach nur die Knechte bei der Stange halten soll.
Doch wenn Wörter mit grossem Getöse aus dem diskursiven Universum verjagt werden, dann heisst das noch lange nicht, dass auch die entsprechende Sache emigriert. Sehr häufig übersteht diese den Exorzismus, verschiebt sich einfach an einen anderen gesellschaftlichen Standort und tarnt sich unter dem Schleier einer neuen Begrifflichkeit. Das Demutsgebot war ohne Zweifel Ausdruck eines Machtanspruchs; dessen direkte, ungeschminkte Form ist durch die antiautoritäre Kultur im späten 20. Jahrhundert zwar diskreditiert; aber damit sind Machtansprüche noch längst nicht aus der Welt. So wäre zu eruieren, unter welchen begrifflichen Etiketten sie denn heute vorgetragen werden.
Semantische Zwillinge
Auf den ersten Blick scheint Flexibilität – ein Zentralbegriff der Coaching-Kultur – mit Demut praktisch nichts gemeinsam zu haben. Erstere ist konnotiert mit Dynamik, mit Kreativität auch, letztere dagegen mit der opportunistischen Anpassung an einen starren Rahmen. So steht das eine für eine hoffnungsvolle Vision, das andere für eine autoritäre Tradition, die sich niemand bei klarem Verstand zurückwünschen kann.
Sobald wir allerdings die Semantik der impliziten Handlungsanweisungen betrachten, relativiert sich der Gegensatz und es treten mehr und mehr Übereinstimmungen hervor. Da ist vor allem einmal die Aufforderung zum Loslassen: Flexible Menschen, genauso wie demütige, fixieren sich nicht, sind bereit, von persönlichen Erwartungen abzurücken, desgleichen von Zielen, die sie eben noch für unverzichtbar hielten. Sie sind gewissermassen in der Lage, auf den Wellen zu surfen, welche die aktuellen Umstände schlagen, stellen sich also nicht quer und kommen genau dadurch besser mit dem Unausweichlichen zurecht.
Ob nun Demut oder Flexibilität, beides sind Tugenden, stellen Stärken dar, und zwar als innere Haltungen, die aus freier Einsicht gewonnen und letztlich gegen narzisstische Bequemlichkeit durchgesetzt wurden. Wer aus Eigenem, das heisst ohne äusseren Druck, dahin kommt, weist sich über ein hohes Mass an Selbstbestimmung aus. Ganz anders sieht es aber für die vielen aus, welche in der Furcht leben, einfach von der Kante gestossen zu werden. Ihnen wird vermittels offener Drohung ein gekünstelter Habitus aufgedrückt. War’s einst der Verlust des Seelenheils, so steht heute die Arbeitsmarktfähigkeit und damit das wirtschaftliche Fortkommen auf dem Spiel.
Herr und Knecht – der gekappte Gegensatz
Es gibt also, was die Selbsthingabe betrifft, zwei ganz gegensätzliche Varianten: auf der einen Seite die freie des Herrn, auf der andern die erzwungene des Knechts. Erstere tut der Würde keinen Abbruch, im Gegenteil, sie erhöht sogar noch das Selbstgefühl. Anders die zweite: Sie bricht die Menschen und entwürdigt sie damit. Diese Demütigung aber lädt ihre Opfer mit einer versteckten Wut auf, mit Ressentiments gegen alles, was nicht wie sie selbst bereits in den Staub getreten ist.
Das Wesen jeder Herrschaftsideologie besteht nun darin, dass sie diese Differenz einebnet und den Knechten Herrlichkeit in Aussicht stellt, wenn sie sich nur flach genug zu Boden werfen. Bezüglich der Demut ist dieser Trick schon längst durchschaut und funktioniert deshalb kaum noch. Doch was die Flexibilität angeht, scheinen die postindustriellen Gesellschaften noch immer einer Art von quasi-religiöser Trance zu unterliegen. Zumindest bleibt bei denen, die nicht offensichtlich abgehängt werden, ein Aufschrei gegen die Zumutungen der Flexibilität aus.
Natürlich, bereits Ende der Neunziger hat der US-Soziologe Richard Sennett die damals neuen sozialen Kompetenzen luzid auf ihren Ideologiegehalt abgeklopft. Seine Studie zum «flexiblen Menschen» macht deutlich, dass Flexibilität nichts anderes ist als eine neue Form von Anpassung, jetzt einfach an einen höchst beweglichen Rahmen. Trotz bestechender Klarheit sind diese Einsichten in den folgenden zwei Jahrzehnten nicht in den Mainstream vorgedrungen. Es macht den Anschein, dass skeptische Stimmen schlicht nicht ankommen gegen das Gedröhn einer Coaching-Kultur, die Unfreiheit exklusiv an längst vergangenen Formen festmacht, um damit von den aktuellen abzulenken.
Vielleicht ist unser Zeitalter aber einfach nur weniger aufgeklärt, als wir denken. Vielleicht ist das Bedürfnis, sich gängeln zu lassen, nicht schwächer als zu Kants Zeiten. Es scheint noch immer den Wunsch zu geben, sich die eigene Unfreiheit durch eine Art Weihrauch vernebeln zu lassen, auch wenn der inzwischen vorwiegend aus psychologischen Töpfen qualmt. Von mündigen Menschen jedenfalls wäre zu erwarten, dass sie auf das marktkonforme Flexibilitätsgeschwafel nicht minder allergisch reagieren als auf die Zumutung eines religiös motivierten Kniefalls.