Der Blick auf den Slum ist exquisit. Der flache Fels-Sporn, der aus dem Hochhausgewirr der Stadtmitte von Bombay ins Meer hinausläuft, ist von einem verschachtelten Mosaik von Hütten zugebaut. Das Koliwada, wie die alten Fischerdörfer der Stadt heissen, ist im Geflecht von dessen engen Gassen und Elendshütten nur noch zu erahnen. Nicht einmal Boote liegen mehr am Ufer. Die Sea-Link-Brücke, Bombays neue urbane Ikone, schnürt weiter draussen das Meer ab, und nun bleiben auch die Fische aus. So verkommt ein Dorf zu einem Slum.
Pittoresker Kontrast
Die vielen tausend Autofahrer auf der Brücke erhaschen bestenfalls einen Blick auf die alte portugiesische Festungsruine am Land’s End. Angezogen werden ihre Blicke wohl eher von den gezackten Bürotürmen dahinter. Wer dagegen – wie ich letzte Woche – im 19. Stock eines dieser Hochhäuser steht und auf Sea Link und Slum hinausschaut, ertappt sich dabei, den pittoresken Kontrast zwischen den glänzenden Stahlseilen der Brücke und dem Koliwada zu geniessen.
Die Ironie des Blicks von den Büroräumlichkeiten des Finanzhauses General Atlantic auf die Armut der Stadt blieb an diesem Tag wohl den wenigsten Besuchern erspart. Denn sie waren in ihrer Mehrzahl Vertreter von NGOs, also eben jener Gutmenschen, die man eher in den engen Gassen des Worli-Slums vermuten würde statt auf der grossen Veranda eines Private Equity-Anbieters.
Der breite Graben
Willkommen in der neuen Welt von Social Equity. Es sind 25 Jahre, seitdem sich Indien aus der bürokratischen Gängelung des Staatskapitalismus gelöst hat. Die Entfesselung hat, angetrieben von der Frustration verpasster Chancen, eine breite Mittelklasse geschaffen, die inzwischen 450 Millionen Personen zählt – wenn man ein Minimum von freier Verfügbarkeit über das Einkommen als entscheidendes Arbeitskriterium annimmt. Die Schaumkrone auf dieser demografischen Welle ist eine Geldaristokratie der Corporates. Sie hat noch Ärmlichkeit erlebt und weiss daher aus der Erfahrung der Eltern-Generation, was es heisst, null Chancen zu haben. Es ist eine Antriebsfeder, um reich zu werden – und für altruistisches Handeln.
Die vielen Mittelklasse-Automobilisten draussen auf der Brücke fahren einem weiteren Arbeitstag in einem Cubicle entgegen und schenken dem Slum nicht einmal einen Blick. Es ist ein Luxus – und eine Naivität – die sich die Corporates oben auf den Türmen nicht mehr leisten können. Sie kennen nicht nur die Horrorgeschichten aus der Zeit des ausweglosen bürokratischen Trotts. Viele von ihnen schauen auch auf den immer grösseren Graben, der sich, buchstäblich unter ihren Augen, zwischen ihrem überschäumenden Wohlstand und der hartnäckig tiefen Armut auftut.
Lebensgrundlagen verbessern
Sie alle kennen die Kennziffern, die diesen Graben ausmessen: Die ärmsten zehn Prozent der Inder (130 Millionen) verfügen über 0.2 Prozent des Volksvermögens; die reichsten 54 Inder teilen sich derweil 22 Prozent des Kuchens. Die meisten Corporates zählen nicht zu dieser Spezies Übermensch. Aber sie bewegen sich auf deren Augenhöhe. Vom 19. Stock des General Atlantic-Büros ist im Morgennebel gerade noch der Turm von Antilia zu sehen, dem 27-stöckigen Eigenheim der Ambanis, Indiens reichster Kleinfamilie.
Was die jungen Reichen von Brosamen-Spendern wie Ambani auch noch unterscheidet: Philanthropie ist nicht eine Tempelgabe, entrichtet, um sich ein gutes Gewissen und – wer weiss – den Sanftmut der Götter zu erkaufen. Für Sandeep Naik, unseren Gastgeber und GA-Partner, weisen soziales und profit-orientiertes Handeln sogar Ähnlichkeiten auf, bei allen Unterschieden: „Klar, im Private Equity investieren wir zum Beispiel in ein Start-up-Unternehmen; bei Toolbox dagegen in eine NGO. Aber beiden helfen wir, zu wachsen und zielorientiert zu handeln. Natürlich ist es lustig, eine Million Dollars zu verdienen. Aber es ist für mich noch viel spannender, die Lebensbedingungen von einer Million Menschen zu verbessern.“
Professionelle Beratung
Toolbox? So heisst das Social Venture, das Naik und sein belgischer Geschäftspartner vor zehn Jahren gegründet haben. Eine Werkzeugkiste also, die NGOs helfen soll, nicht nur Gutes zu tun, sondern dies gut zu tun. Die meisten arbeiten mit viel Engagement und Opferwillen. Aber nur wenige haben sich eine Strategie zugelegt, die explizite Wachstumsziele und Milestones setzt; sie wissen nicht, wie man ein Team aufbaut, wie man transparent kommuniziert, Budgets schreibt und diese einhält.
Solche Dinge gehören zur Grundausrüstung von MBA-Absolventen. Warum dieses Geschäftswissen nicht NGOs vermitteln, die wichtige sozialpolitische Ziele verfolgen und den Mut haben, sich diesem schwierigen Umfeld zu stellen? Aber um Skalierungseffekte zu erzielen, genügt es nicht, ein Dutzend Toolbox-Mitarbeiter zu finanzieren, die bei NGOs hospitieren. Warum nicht eine Organisation, die das grosse Sammelbecken von hochqualifizierten Geschäftsmitarbeitern anzapft, die bereit sind, ihr Wissen als Volontäre einzubringen?
Nachhaltiger Wachsen
Dies ist das Geschäftsmodell von Toolbox. In den zehn Jahren haben Freiwillige insgesamt 25'000 Tage bei NGOs verbracht, und zwar verteilt über Wochen und Monate – in einigen Fällen sogar zwei Jahre. „We are not only facilitators“, sagt die Toolbox-CEO Vijaya Balaji, „we are co-owners of our NGO partner.“
Beim kleinen Jubiläumstreff erzählte die Vertreterin einer NGO für Behinderten-Schulen, wie Toolbox ihr half, eine Finanzplanung einzuführen. Diese erlaubte es ihr inzwischen, eine neue Schule zu eröffnen, ohne das Budget zu erhöhen. Sie hat dabei auch gelernt, wie man effizienter für Geldmittel wirbt und wie man die Fähigkeiten der Mitarbeiter systematischer erkennt und nutzt.
Die Schweizer Dalyan-Stiftung (mit der ich verbunden bin) nimmt die Expertise von Toolbox für eine NGO aus Delhi, mit Abfallsammlern als Zielgruppe, in Anspruch. Die Vorgabe: Wie man Charisma, Vision und Energie der Gründerin besser auf die Stärkung der Organisation ausrichten kann, damit sie nachhaltiger wachsen kann.
Die Komplexität des Slums
Wachstum – Scaling-up – ist das magische Wort, das jeden umtreibt, der in diesem Feld arbeitet. Indiens Armutssockel von 800 Millionen ist nicht nur enorm gross, er ist auch hartnäckig konstant. Jeder Social Investor ist herausgefordert, nicht als Tropfen auf dem sprichwörtlichen heissen Stein einfach zu verdampfen. Er tut es durch Koalitionen mit anderen Stiftungen, thematisch fokussierte Interventionen in Schlüsselbereichen (zum Beispiel Schulbildung von Mädchen im Teenager-Alter) oder der Befähigung einer Organisation, schnell und nachhaltig zu wachsen.
Gerade beim Wort „schnell“ zucken viele NGOs zusammen. Denn dieses Mantra der Geschäftswelt, sagen viele, lässt sich nicht einfach auf Armutsbekämpfung übertragen. Armut ist nicht nur ein ökonomischer Sachverhalt. Sie hat mit patriarchalischen Rollenmustern zu tun, mit tiefsitzenden Einstellungen, systemischer sozialer oder institutioneller Diskriminierung, Bildungsdefiziten, einem morbiden Gesundheitsprofil. Ein Businessplan, der meint, die Zeitvorgaben mit dem erhöhten Einsatz von Finanzmitteln rasch und massiv zu senken, ist von vorneherein zum Scheitern verurteilt.
Dies sind die Lehren, an denen die enthusiastischen Freiwilligen oft am schwersten kauen. Annabel Mehta von der NGO Apnalaya warnte davor, das Volontärsmodell als Einwegstrasse zu betrachten. „If you want to succeed“, sagte sie an die Adresse von Toolbox, „you must first use NGO leaders as volunteers to train your volunteers.“ Das hochstrukturierte Arbeitsumfeld eines Corporate Office sei eine denkbar schlechte Vorbereitung für die funktionierende Anarchie eines Slums. Als wir später bei Kaffee&Kuchen auf das Koliwada blicken, sagt sie schelmisch: „Down there you have to grapple with many more parameters than even in the most complex MBA Case Study.“