Was uns heute unbegreiflich scheinen mag: Mozart war damals umgeben von italienischen Konkurrenten, die ihm in Wien eindeutig die Schau stahlen. Salieri gehörte bekanntermassen zu ihnen, aber auch Komponisten wie Cimarosa, Sarti, Paisiello oder der in Italien zu hohem Ansehen gekommene Katalane Martín y Soler.
Kaiser Joseph II., der Musik liebte, förderte nunmehr in bevorzugter Weise die italienische Oper, nachdem seine Bemühungen um das deutsche Singspiel am Wiener Hof weniger gut angekommen waren. In der Hofburg wimmelte es inzwischen von vornehmen adeligen Intriganten, die zugunsten ihrer Lieblinge mit allen dezenten und indezenten Mitteln die Fäden zogen.
Vergnügungssüchtiges Publikum
Der Kaiser hatte auch den mit allen Wassern gewaschenen Librettisten Lorenzo da Ponte an den Hof geholt. Dieser versorgte nun die für den Hof arbeitenden Komponisten mit meist abgekupfterten, leicht angepassten Libretti. War jemand fürs Geschäft des Zurechtstutzens aber so geeignet wie Da Ponte, lieferte dieser den Musikern auch ganz hervorragende Texte, deren Eleganz, Pfiffigkeit und Witz man nur bewundern kann. Wenn dann ein Genie wie Mozart sich ans Komponieren machte, kam – etwa mit den sogenannten drei «Da-Ponte-Opern» – das Allerbeste heraus, was man in der Operngattung überhaupt kennt.
In jenem Jahr 1786 kamen sogar zwei Opern von Martín y Soler in Wien zur Uraufführung, die auf Libretti von Da Ponte basierten. Da Solers Vertonung von «Il burbero di buon cuore» (etwa: Der gutherzige Griesgram) beim Publikum so gut ankam, beauftragte man den Hofdichter gleich noch einmal, für diesen Komponisten ein neues Libretto zu schreiben, was er nach eigener Aussage innert Monatsfrist auch lieferte. Aber wir wissen aus seinen Memoiren: Da Ponte nahm es mit Kalenderdaten nie allzu genau!
Jedenfalls wurde daraus die Oper «Una cosa rara», Solers berühmtestes Werk, das im Titel auch noch heisst: «o sia bellezza ed onestà». Übersetzt ergibt das Ganze: «Der seltene Fall, dass Schönheit und Ehrbarkeit Hand in Hand gehen». Es ist Solers einzige Oper, die – zumindest in Italien und Spanien – gelegentlich noch im Repertoire eines Opernhauses erscheint, obwohl der Erfolg bis zu den Tagen, als Rossini am Horizont erschien, ein europaweiter war.
Ein Grund dafür mag auch sein, dass hier wiederum die grossartige und alle Musikfreunde bezirzende Nancy Storace die Rolle der Berglerin Lilla sang. Man wusste schon immer ziemlich genau in Wien, womit man das Publikum am erfolgreichsten lockt und umgarnt. Jedenfalls stellte Solers «Una cosa rara» Mozarts «Le nozze» damals an Beliebtheit weit in den Schatten. Mozart machte sich einen freundschaftlichen Scherz daraus, indem er in seiner folgenden Da Ponte Oper «Don Giovanni» eine Weise von Solers Musik zitierte und vom Diener Leporello folgendermassen kommentieren lässt: «Bravi! Cosa rara!» Die Melodie muss im damaligen Wien ein Gassenhauer gewesen sein!
Wie aus einem Adeligen ein edler Mensch wird
Wenn wir heute Solers Oper hören, ist unsere Überraschung gross, wie schnell man sich schon damals mit moralischer Korrektheit und musikalischer Gefälligkeit zufriedengab. Eine junge Frau aus bäuerlichen Verhältnissen widersteht den Avancen eines edel geborenen Thronfolgers. Und schon ist die aufklärerische Moral – wonach jeder Mensch, ob adelig oder bäuerlich, arm oder reich, ein liebenswertes Subjekt sei – gerettet und bühnentauglich. Sittenlosigkeit, Mätressentum und das Jus primae noctis sind zwar immer noch nahe genug. Es galt nun aber «sotto queste pastorali spoglie» die Virtù zu entdecken: das heisst: Ehrbarkeit nicht nur in höfischen Kreisen zu vermuten, sondern diese zu erkennen, selbst wenn sie «in Schäferkleidern» daherkam.
Wir brauchen hier die Ereignisse der zweiaktigen Oper nicht im Einzelnen zu schildern. Sie verfügt über alle Ingredienzien, die ein höfisch-bürgerliches Opernpublikum damals liebte: eine Monarchin, einen Infanten, einen Jägerchor, einen Oberstallmeister, einen Bürgermeister, zwei verliebte Paare, darunter ein naives und glückgläubiges Paar und daneben ein etwas raffinierteres und inzwischen bereits lebensklug gewordenes. Unschuldige Anhänglichkeit liegt in der Luft genauso wie Untreue und Verrat, und selbstredend ist auch Begehrlichkeit nach Aufstieg und Reichtum – sprich: nach einer guten Partie – mit im Spiel.
Das Publikum liegt einem zu Füssen, wenn die Herrschenden nobel agieren und zu verzichten verstehen, und wenn die einfachen und ehrlichen Leute am Ende aufgrund ihrer Treuherzigkeit, Zuneigung und Aufrichtigkeit belohnt werden. In aufgeklärten Zeiten seien Frauen zwar nicht mehr Gut und Eigentum der Männer, obwohl es diesen schwerfalle, dies als eine Tatsache zu akzeptieren. Es müsste nicht ein Text von Da Ponte sein, wenn er von der Bühne herab nicht auch die männliche Sicht der Dinge verkünden liess. So darf der Oberstallmeister kundtun: «Häufig leugnet die Frau dem bittenden Liebhaber gegenüber, was sie innerlich wünscht und geniesst: mit Gewalt genommen zu werden oder mit List.» Das aufgeklärte 18. Jahrhundert war am Habsburger Hof noch meilenweit entfernt von Gleichberechtigung oder gar einer «Me-too-Bewegung»!
Eine Arie der Lilla
Was den Theaterpraktiker Martìn y Soler aber zum Publikumsliebling unter den Hofkomponisten machte, war seine Begabung, einfache und eingängige Melodien zu erfinden, die geradezu unmittelbar die tieferen Schichten der Seele zu berühren schienen. Oder wie man damals sagte: «dolcissime melodie, che si senton nell’anima», zärtlichste Weisen, die man bis in die Seele hinein spürt.
Als solche darf mit Sicherheit die hier ausgewählte Arie der Lilla gelten. Sie steht im zweiten Akt der Oper in der 12. Szene. Lilla versucht ihren Geliebten Lubino davon zu überzeugen, dass sie weder fremdgegangen sei mit einem der ihr nachstellenden Männer noch dass sie je einen anderen als ihren Lubino geliebt habe. Sie erteilt ihm, dem von Zweifeln an ihrer der Liebe und Treue Zerrissenen, eine richtige Lektion: «Consola le pene!» Er möge endlich seinen Zorn lindern, denn seine Vorwürfe und seine Klagen würden ihr den Tod bringen. Er möge sich der Leiden erinnern, die sie für ihn durchzustehen hatte, dann müsse er doch ihrer Liebe und ihrer Treue gewiss werden.
Niemand dürfte beim Hören dieser Arie daran zweifeln, dass Martín y Solers Kompositionskunst im Beschreiben innerer Gefühle geradezu Mozartsche Qualitäten aufweist. Ergreifend schön ist diese Bitt-Arie einer liebenden Frau, ihr Geliebter möge das Selbstquälerische seines Wesens endlich abstreifen und sich allein ihr und ihrer Liebe zuwenden. Denn nur dann wird in der Liebe alles doch noch gut!
Wollte man den kleinen verbleibenden Unterschied zur Kunst Mozarts markieren, könnte man es so sagen: Soler bleibt immer eine Spur zu eindeutig pastoral, während bei Mozart immer noch etwas Unheimliches mitschwingt aus dem Seelenfundus seiner Figuren, das über Rührung und Betroffenheit noch hinausgeht und das Reich des Geheimnisvollen, zwischen dem Überirdischen und dem Dämonischen schwebend, zu streifen scheint.
Die Rolle der Lilla wird hier gesungen von der unvergessenen Sopranistin Montserrat Figueras, in einer Gesamtaufnahme von Martin y Soler’s Oper aus dem Gran Teatro del Liceu in Barcelona im Jahr 1991 unter der Leitung von Jordi Savall.