Schwere russische Militärlastwagen rollten am Dienstag auf die Grenze zu der umstrittenen armenisch bevölkerten Region Berg-Karabach zu, nur wenige Stunden nachdem Präsident Wladimir Putin einen von Russland vermittelten Waffenstillstand zur Beendigung eines sechswöchigen Krieges im Kaukasus angekündigt hatte. Russland plant die Entsendung von mehr als 1600 Soldaten, um das Abkommen zu sichern.
Die Vereinbarung sieht vor, dass Aserbaidschan seine zurückeroberten Gebiete behalten kann und eine Landverbindung zu seiner Enklave Nachitschewan erhält, die Frontline sonst aber unverändert stehen bleibt. Es gibt also keine Rückkehr zum Zustand ante bellum und das Abkommen könnte das Antlitz der Region auf Jahrzehnte prägen.
Sehr problematisch daran sind die Frage, wie der Landkorridor nach Nachitschewan funktionieren soll, und die Tatsache, dass Status und Verbleiben der Armenier in Berg-Karabach nicht garantiert ist. Die Aussicht auf einen Landkorridor ist aber das Zückerchen, das Aserbaidschan dazu brachte, auf ein sofortiges Überrollen der gesamten Region Berg-Karabach zu verzichten. Die Armenier müssen den Landkorridor, der Armenien mit Berg-Karabach verbindet, bis auf einen fünf Kilometer breiten, von Russland überwachten Streifen räumen. Und einen grossen Teil des Cordon sanitaire um das armenische Kerngebiet von Bergkarabach haben die Armenier bereits aufgrund der Kampfhandlungen verloren.
Russland und die Türkei gewinnen, die USA und Europa verlieren
Es war fünf vor zwölf. Seit dem 27. September tobte ein Krieg, brach ein Konflikt wieder aus, den man, diplomatisch ausgedrückt, als «eingefroren» betrachtete.
Der russische Präsident rief die beiden Länder zur Ruhe wie zwei Schulbuben. Armenien konnte der militärischen Übermacht seines Gegners keinen Widerstand mehr entgegensetzen. Ohne Waffenstillstand wären die Streitkräfte Berg-Karabachs völlig aufgerieben und die letzten Gebiete von aserbaidschanischen Truppen eingenommen worden. Die müden armenischen Truppen, schlechter ausgerüstet als diejenigen Aserbeidschans, ohne Unterstützung durch einen mächtigen Nachbarn und durch eine unkontrollierte Verbreitung des Coronavirus geschwächt, hatten dem Druck der Azeris nichts mehr entgegenzusetzen. Die Azeris hatten im Süden eine Bresche in die armenische Verteidigung geschlagen und sogar die Stadt Schuschi eingenommen, nur etwa 15 Kilometer entfernt von Stepanakert, dem Hauptort von Berg-Karabach.
Warum wartete der russische Präsident zu und warum griff er dann doch ein? Auf der einen Seite kann er so Armenien zeigen, dass dieses kleine christliche Land, eingeklemmt zwischen den muslimischen und ihm feindlich gesinnten Staaten Türkei und Aserbeidschan, ohne russische Unterstützung verloren ist. Anderseits wird er nun den armenischen Ministerpräsidenten Nikol Paschinjan los, einen Politiker, der ihm schon länger ein Dorn im Auge war und der diese Niederlage nicht überleben wird. Und drittens sichert sich Russland die militärische Kontrolle, denn sowohl Armenien als auch Aserbaidschan hatten russische Friedenstruppen in und um Berg-Karabach lange abgelehnt. Dadurch kann Russland seinen Einfluss auf die gesamte Entwicklung in der Region auf Jahrzehnte absichern und dem Hegemoniestreben der Türkei in der Region letzte Grenzen setzen – dazu sind die USA und Europa offenbar nicht fähig.
Und schliesslich ist das Abkommen vorteilhaft für die Türkei, die sich durch massive militärische Unterstützung seines Verbündeten Aserbaidschan eine starke Position gegenüber dem um die Übermacht im Kaukasus wetteifernden Russland verschafft. Das Land hat die Azeris in den letzten Jahren hochgerüstet und teils auch direkt unterstützt, zum Beispiel mit Kampfflugzeugen amerikanischer Bauart.
Das Abkommen zeigt, dass Russland und die Türkei die entscheidenden Akteure in der Region sind. Westeuropa und die USA haben sich durch ihr Desinteresse jeden Einfluss im Kaukasus verscherzt. Und hinter dem Getöse der Präsidentenwahlen in den USA sind vollendete Tatsachen geschaffen worden. Die Region ist aber wichtiger als man meint: Nachschublinien für Rohstoffe und Energieprodukte verlaufen durch dieses Gebiet. Eine Möglichkeit ist auch, dass die wiederbelebte Seidenstrasse – die Transportwege für chinesische Produkte – in Zukunft ebenfalls teilweise durch den Kaukasus verläuft. Und dieses Gebiet wird nun durch die beiden Autokraten Erdogan und Putin kontrolliert.
Unaussprechlich schmerzhaft
Für Armenien ist der Deal, wie Paschinjan ausdrückt, «unaussprechlich schmerzhaft, für mich persönlich und für unser Volk».
Die Armenier wurden bereits im Jahr 301 n. Chr. (oder nach anderer Quelle 314) christianisiert. Die Erhebung des Christentums zur Staatsreligion gilt deshalb als wesentlicher Eckpfeiler der nationalen Identität.
Am Ende des 19. Jahrhunderts erstreckte sich das Siedlungsgebiet der Armenier nebst dem Kerngebiet des heutigen Staates über grosse Teile des ottomanischen Reiches und die kaukasischen Teile des Zarenreichs. Während des Ersten Weltkriegs wurden jedoch die Armenier im Osmanischen Reich durch Völkermord systematisch vernichtet, ein Genozid, den die Türkei bis heute leugnet. Mit seinem Jahrhundertroman «Die vierzig Tage des Musa Dagh» setzte der österreichische Schriftstellers Franz Werfel dem Leiden der Armenier ein Denkmal.
Die zur Sowjetunion gehörende Armenische Sozialistische Sowjetrepublik erlangte mit dem Zerfall der Sowjetunion 1991 ihre Unabhängigkeit. Ebenso die Aserbeidschanische Sozialistische Sowjetrepublik. Da die Armenier östlich der Grenzen des osmanischen Reiches den Todesmärschen und dem Gemetzel der Türkei entrinnen konnten, bestand dort weiterhin ein flickenteppichartiges armenisches Siedlungsgebiet. Nebst dem Kerngebiet des heutigen Staates Armenien lebten Armenier auch in Nachitschewan, einer aserbeidschanischen Enklave, die durch einen armenischen Sperrriegel vom übrigen Aserbeidschan abgetrennt ist. 1920 war noch ein Drittel der Bevölkerung dieser Enklave armenisch.
Aufgrund anhaltender Repressionen verliess aber bereits bis zur Unabhängigkeit praktisch die ganze armenische Bevölkerung die aserbeidschanische Enklave. Weitere armenische Siedlungsgebiete gab es nach dem Ersten Weltkrieg östlich des genannten Sperrriegels. So war und ist die Region Berg-Karabach praktisch ausschliesslich armenisch besiedelt, verfügte aber über keine ethnisch homogene Landverbindung ins übrige Armenien.
Schon damals entbrannte ein blutiger Streit um die Region. Berg-Karabach wurde dann 1923 per Dekret ein Autonomes Gebiet der Aserbeidschanischen SSR. Bereits seit Mitte der Achtzigerjahre mottete der Konflikt wieder. Die Armenier Karabachs verlangten Anschluss an Armenien. Aserbeidschan reagierte mit Pogromen an Armeniern, die im aserbeidschanischen Kernland lebten. Als beide Länder, Armenien und Aserbeidschan, 1990 unabhängig wurden, entflammte der Streit vollends. Karabach erklärte den Anschluss an Armenien, während die Azeris eine Wirtschaftsblockade über Berg-Karabach verhängten.
Im darauffolgenden Krieg konnten die Armenier nicht nur das armenisch besiedelte Berg-Karabach erobern, sondern auch noch eine breite Landverbindung ins übrige Armenien und einen grossen Cordon sanitaire um das ganze Gebiet herum. Beide Seiten schenkten sich nichts: es starben zwischen 25’000 und 50’000 Menschen, über 1,1 Millionen wurden auf beiden Seiten vertrieben.
Europa und die USA schweigen
Das war praktisch die Situation ante bellum, wie sie bis Ende September bestand. In der Folge wurde viel verhandelt, aber ohne Resultat. Angesichts der leidvollen Geschichte der Armenier, der Geschichten von Genozid, Vertreibungen und Repression ist es zwar verständlich, dass die Regierung in Eriwan jeden Kompromiss ablehnte, aber staatspolitisch war es nicht der Weisheit letzter Schluss. Das einigermassen demokratisch regierte, aber arme Armenien hoffte auch insofern auf eine völkerrechtliche Anerkennung seiner Herrschaft über Berg-Karabach, als bei der völkerrechtlich ähnlich gelagerten Frage um die Unabhängigkeit des Kosovo die meisten Staaten der Welt diese Unabhängigkeit akzeptierten.
Das autokratisch regierte und mit der Türkei eng verwandte und verbündete Aserbaidschan verfügt über bedeutende Ölreserven. Ein rascher Wirtschaftsaufschwung in den letzten Jahrzehnten führte dazu, dass es seine Armee mit modernster Technik ausstatten konnte. Das verschob das Gleichgewicht entscheidend zugunsten der Azeris.
Aserbeidschan warf aber seine Trümpfe nicht bei den Verhandlungen in die Waagschale. Mit Unterstützung seines Verbündeten in Ankara brach das Land einen richtigen Angriffskrieg vom Zaun, genau geplant und ausgeführt. Es braucht kein besonderes Vorstellungsvermögen, um sich auszumalen, was das Schicksal der armenischen Zivilbevölkerung auf dem Berg-Karabach gewesen wäre, wenn die Azeris nicht im letzten Moment von Moskau gestoppt worden wären.
Die Tatsache, dass hier ein Angriffskrieg geführt wurde, hätte Europa und die USA zu einer klaren und unzweideutigen Stellungnahme veranlassen müssen. Diese ist aber ausgeblieben. Was das Osmanische Reich 1915 begonnen habe, die Ausrottung der Armenier, das wolle die Türkei ein Jahrhundert später fortsetzen, sagt der armenische Ministerpräsident Nikol Paschinjan. Tatsache ist mindestens, dass der Westen der Türkei wiederum freie Bahn liess. Es war Putin, der Aserbeidschan und seinen Verbündeten Erdogan im letzten Moment stoppte.
Die Armenier werden sich also in ihrer Einschätzung bestärkt fühlen. Und Erdogan wird in Bezug auf seine Pläne im Mittelmeer, in der Ägäis und auf Zypern ebenfalls seine Schlussfolgerungen ziehen. Nämlich, dass er von den USA und Europa nichts zu befürchten hat, seinen Einfluss weiterhin ausdehnen und die Region weiterhin ungestraft destabilisieren kann.