Saudi-Arabien hat sich erwartungsgemäss eine günstige Ausgangsposition im Rennen um den besten Vorschlag für eine Friedenslösung in Gaza gesichert. Das Land bietet die Normalisierung der Beziehungen zu Israel gegen die Schaffung eines unabhängigen palästinensischen Staates an.
Saudi-Arabien findet dabei die uneingeschränkte Unterstützung der Vereinigten Arabischen Emirate. Nicht ohne Grund: Die durch den Norden Saudi-Arabiens verlaufende Landbrücke vom Golf zum Mittelmeer gewinnt angesichts der drei bedrohten Engpässe des Welthandels (Strasse von Hormus, Bab al-Mandeb zum Roten Meer und Suezkanal) nicht nur für Saudi-Arabien immer mehr an Bedeutung.
Strategische Bedeutung
Bereits jetzt reagieren Transportunternehmen, die Israel mit Gütern vom Golf beliefern, auf eine drohende Blockade mit einer verstärkten Nutzung der Landverbindung zwischen Golf und Mittelmeer über den Jubail-Arar-Highway und die in den letzten Jahren massiv ausgebaute Eisenbahnlinie vom Golf in Richtung Jordanien. Die Wiedereröffnung der zwischen 1947 und 1950 gebauten Transarabischen Ölpipeline von Qaisuma in Saudi-Arabien nach Sidon im Libanon steht noch zur Debatte. Nach dem Golfkrieg 1990/91 wurde der Betrieb der Pipeline eingestellt. Geblieben ist die alte Werksstrasse, die heute den Highway 85 bildet. Ihr folgt im Osten teilweise die Trasse der Eisenbahnlinie von den Verarbeitungs- und Exportanlagen in Ras Al-Khair in der Ostprovinz an der Küste des Arabischen Golfs über den Eisenbahnknotenpunkt al-Baitha in der Provinz Qassim bis zum jordanischen Grenzort al-Haditha.
Die strategische Bedeutung des gut 1’500 km Luftlinie langen Korridors vom Golf zum Mittelmeer nimmt angesichts der politischen Entwicklungen im Fruchtbaren Halbmond zu. Trotz des Scheiterns des MedEast-Projekts, das Öl und Gas über eine Pipeline vom östlichen Mittelmeer nach Europa bringen sollte, wird die Ostküste von al-Arisch im nördlichen Sinai über Gaza bis nach Sidon im Libanon eine starke geopolitische Aufwertung erfahren. Gaza kommt dabei eine Schlüsselrolle zu.
Umbau der Gesellschaft
Denn was Saudi-Arabien bisher strategisch fehlt, ist ein sicherer Hafen am Mittelmeer, der als Pendant zu den Produktions- und Transportanlagen am Golf dienen könnte. Nicht wenige Planer in Saudi-Arabien und den Emiraten schwärmen geradezu davon, Gaza zu einem Singapur am Mittelmeer auszubauen, natürlich unter dem politischen Einfluss der Golfstaaten.
Die strukturellen Voraussetzungen dafür sind nicht schlecht. Gaza verfügt (wie die Westbank) über eine gut ausgebildete, technikaffine Bildungselite, hat aufgrund der Jugendlichkeit der Gesellschaft das Potenzial für einen florierenden Arbeitsmarkt und braucht, so bitter es klingen mag, einen integrierten Wiederaufbauplan für den Wiederaufbau der zu 60 Prozent zerstörten Wohn- und Industriegebiete. So oder so wird dies die sozialen Grundlagen der Gesellschaft in Gaza grundlegend verändern. Sicher ist auch, dass Gaza, wenn es nicht zu einer neuen Fluchtbewegung kommt, das neue, dynamische politische Zentrum Palästinas werden könnte, das dem eher konservativ orientierten Hinterland in der Westbank den Takt vorgibt.
Freihafen für Golfstaaten
Der politische Wiederaufbau Gazas ist auf eine enge Kooperation mit Israel angewiesen. Aus saudischer Sicht darf Israel jedoch nicht die politische Souveränität über das Projekt ausüben, da dies eine Hegemonie Israels über das östliche Mittelmeer befördern würde, die aufgrund der Erfahrungen der Golfstaaten mit dem iranischen Hegemoniestreben am Golf sowohl für die Saudis als auch für die Emiratis inakzeptabel erscheint. Beide Staaten drängen daher auf die Durchsetzung der Zweistaatenlösung. Diese würde den Golfstaaten die Möglichkeit eröffnen, ein arabisches Gegengewicht zu schaffen.
Langfristig könnten Pläne greifen, Gaza zu einem Freihafen der Golfstaaten zu machen. Gaza könnte sogar Partner der Neom-Planstadt werden, die im Nordwesten Saudi-Arabiens auf einer Fläche fast so gross wie Israel entstehen soll. Geplant ist eine urbane Modellwelt für Tourismus, Dienstleistungen, Industrie und Wohnen für bis zu 9 Millionen Menschen. Die vom saudischen Kronprinzen Muhammad Bin Salman propagierte Vision 2030 würde damit auch zur Grundlage einer neuen nahöstlichen Ordnung, in der die Landbrücke vom Golf zum Mittelmeer zum strategischen Gegenentwurf zum chinesischen Seidenstrassenprojekt würde.
Von Neom in Saudi-Arabien bis zur Küste in Gaza sind es in der Luftlinie knapp 400 km. Eine direkte Strassenverbindung würde entlang der israelisch-ägyptischen Grenze direkt nach Rafah in Gaza führen. Damit erhält der Raum von Neom über Eilat/Aqaba nach al-Arish und Gaza eine neue geopolitische Bedeutung.
Den Kairos nutzen
Saudi-Arabien schickt sich an, diesen Kairos zu nutzen. Dies setzt allerdings auch eine enge Kooperation des Königreichs und der Emirate mit der Palästinensischen Autonomiebehörde voraus, die nach wie vor als Exekutive des Staates Palästina angesehen wird. Nur fällt auf, dass die saudische wie die emiratische Diplomatie derzeit kaum von der Autonomiebehörde spricht, sondern immer nur den Staat Palästina erwähnt und betont, dass die Zweistaatenlösung nicht als Endpunkt, sondern als Ausgangspunkt einer politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklung zu sehen sei. Dies kann wohl auch so verstanden werden, dass beide Staaten mit der Zweistaatenlösung eine tiefgreifende Reform der palästinensischen Institutionen verbinden, um diese für eine Fortschreibung der Vision 2030 fit zu machen.
Dazu gehört die möglichst vollständige Ausschaltung der Hamas und des Islamischen Dschihad. Spätestens seit Beginn des Arabischen Frühlings sind alle Organisationen, die einen wie auch immer gearteten islamischen Nationalismus vertreten, zum Staatsfeind Nr. 1 Saudi-Arabiens und der Emirate geworden. Das betrifft nicht nur die Muslimbruderschaft, die bis 2019 einen Brückenkopf in Katar hatte, sondern alle Gruppierungen, die sich einer islamischen Ideologie zur Rechtfertigung einer staatlichen und gesellschaftlichen Normenordnung bedienen. Als die Hamas und andere der Muslimbruderschaft nahestehende Gruppen 2015 einen ideologischen Schwenk hin zur iranischen «Achse des islamischen Widerstands» vollzogen, verschmolzen sie aus Sicht der Golfstaaten mit iranischen imperialen Interessen und wurden zu Proxies eines iranischen Expansionismus.
Das saudisch-emiratische Plädoyer für eine Zweistaatenlösung ist daher klar an die Bedingung geknüpft, dass diese ohne Hamas und Islamischen Dschihad umgesetzt werden muss. Die Wiederherstellung der staatlichen Souveränität der Palästinensischen Autonomiebehörde über Gaza muss daher mit der Auflösung von Hamas und Islamischem Dschihad einhergehen. Die von Katar vorgeschlagene Umwandlung der Hamas in eine politische Partei unter dem Dach der PLO dürfte von den anderen Golfmonarchien strikt abgelehnt werden.
Sicher ist, dass Saudi-Arabien eine Konfliktlösung im Kontext der eigenen strategischen Interessen anstreben wird, und hier lauert trotz aller Normalisierungsbemühungen immer noch der saudisch-iranische Gegensatz im Hintergrund, der jederzeit virulent werden und die Transformationsvision des Kronprinzen zerstören kann.