Viel ist in den vergangenen Tagen und Wochen darüber zu lesen gewesen, dass sich eine völlig neue Protestform entwickelt hat. Keine ideologisch definierbaren Gruppierungen mehr, sondern buchstäblich bunt gemischte Ansammlungen von Menschen, die sich zu grossen Teilen gar nicht über Politik definieren. Ganz im Sinne der zeitgenössischen Event-Kultur stehen hier das Erlebnis, die Selbstfindung und die Selbstverwirklichung im Vordergrund.
Sie brauche jetzt keinen Urlaub mehr, sagte eine Demonstrantin einem Journalisten, sie sei jetzt total entspannt und treffe hier so tolle Menschen – wie sonst nur im Urlaub. Diese Proteste sind mit einer ähnlich perfekten Logistik ins Werk gesetzt wie andernorts Sportveranstaltungen oder Kreuzfahrten. Aber darauf kommt es nicht an.
Breites Verständnis
Denn hinter der heiteren Fassade und dem bekannten Katz- und Maus-Spiel zwischen Protestlern und Polizei liegt eine Glaubwürdigkeitskrise der Politik, die sich in verblüffender Klarheit auch in der Presse zeigt. Bis weit ins bürgerliche Lager hinein wird den Blockaden und Demos extrem viel Raum gegeben, und die begleitenden Kommentare sind erstaunlich verständnisvoll. Die Online-Ausgabe der "Financial Times Deutschland", sicherlich kein Blatt der Alternativen und Linken, hat ihre Leser nach ihrer Meinung befragt. Von 3.500 Abstimmenden haben bis Montag Abend 52 Prozent Verständnis für die Proteste bekundet. Und das, obwohl die Kosten aufgrund des weitaus geringeren Widerstands gegen einen Castor Transport vor genau zwei Jahren schon mit 20 Millionen Euro beziffert wurden.
Der Kontrast könnte grösser nicht sein. Während die 68er Studentenbewegung auf überwiegende Missbilligung der Presse stiess, die Grünen in den 80er Jahren in den Leitmedien auch noch einen schweren Stand hatten, wird jetzt den Protestbewegungen eine Sympathie entgegen gebracht, die auf die Politiker wie eine schallende Ohrfeige wirken muss – und zum Teil auch so gemeint ist.
Dass seitens der Regierenden keine glaubwürdigen Auskünfte zur Problematik der Lagerung abgebrannter Brennstäbe zu erhalten sind, löst Irritationen aus. Dass darüber hinaus in einem fast handstreichartigen Verfahren die Verlängerung der Laufzeiten für Atomkraftwerke um weitere zwölf Jahre beschlossen worden ist, sorgt nach einer Art Schrecksekunde für immer mehr Empörung. Sie bekommt dadurch zusätzliche Nahrung, dass die EU-Kommission die Bundesregierung Anfang November gemahnt hat, endlich für verlässliche Endlager zu sorgen.
Die Mechanismen der Demokratie
Es ist nicht neu, dass Politiker taktieren und ihre Verantwortung mehr rhetorisch als faktisch wahrnehmen. Neu ist die Offensichtlichkeit – der Täuschung. Wer will, kann in kurzer Zeit das Wissen von Experten in allgemein verständlicher Form abrufen. So fragwürdig die eine oder andere Meinung auch sein mag, doch unter dem Strich, Summa Summarum, wissen die Menschen heute genauer als früher, welche Probleme auf sie zukommen und worüber die Regierenden so beredt schweigen.
Hier liegt die grosse Gefahr. Den Kern der Demokratie sah ihr wohl wichtigster moderner Theoretiker Karl Raimund Popper darin, dass eine schlechte Regierung abgewählt werden kann. Dieses Spiel läuft schon lange leer. Genauso, wie man in den Polit-Talkshows immer wieder dieselben Gesichter sieht, geben sich Regierung und Opposition abwechselnd die Klinke in die Hand. Der Mechanismus des Machtverlustes und des Machtgewinns funktioniert nicht mehr. Die Politik befindet sich in einem Zustand der Entropie. Statt heiss oder kalt haben wir nur noch lauwarm.
Gefahr des Systemwechsels
Was die Menschen an der Basis aufregt – Probleme, Informationen – sorgt auf der politischen Ebene nicht mehr für wirkliche Alternativen, über die abzustimmen wäre. So wurde die Laufzeitverlängerung deswegen beschlossen, weil damit schwierige Diskussionen im Bundesrat (Länderkammer) umgangen werden können. Und auch innerhalb des Parlaments wurde ein Schweinsgalopp veranstaltet, was die heftige Kritik des Parlamentspräsidenten Lammert, auch CDU, hervorrief.
Mit dem Herunterbrechen aller Probleme auf das Niveau tagespolitischer Taktik befindet sich die Demokratie in der Krise. Einst wurde der Linken vorgeworfen, sie wolle „eine andere Republik“. Heute haben wir sie, natürlich ganz anders, als dazumal befürchtet. Man muss aber denjenigen, die früher die Gefahr eines Systemwechsels allzu alarmistisch an die Wand malten, eines lassen: Sie hatten ein Gespür für die Gefahr, die mit der Schwächung demokratischer Institutionen wächst.
Nach den langen Jahrzehnten der Nachkriegszeit in vergleichsweise gut funktionierenden Wohlfahrtsstaaten ist der Sinn für die Fragilität getrübt. So berechtigt die Protestbewegungen sein mögen, so klar und deutlich müssen sie sich die Frage gefallen lassen, wo der Protest wieder in die Mechanismen demokratischer Institutionen münden soll. Man darf gespannt sein, welche Brücken dazu von politischer Seite gebaut werden.