Doch dieser Hunnensturm will nicht tabula rasa machen, sondern von Konfuzius Leitspruch geleitet sein, wonach eigener Erfolg eintritt, wenn man anderen dazu verhilft.
Einer der Lichtpunkte in meinem Geschichtsunterricht war die Behandlung der Seidenstrasse. Sie kam kurz nach den Schrecken der Horden Dschingis Khans, und sie duftete – mit Marco Polo als Helden – von Entdeckungsfahrt und Abenteuer, Silber und Seide. Doch das zugrundeliegende geopolitische Tableau war wohl in allen Gymnasien Europas dasselbe: Europäische Händler reisen bis nach China und bringen von dort Kostbarkeiten zurück – Textilien, Porzellan, Schiesspulver, Gewürze, Edelsteine.
Die Länder und Landschaften zwischen Europa und China bestanden für uns aus Wüste und Oasen, Karawansereien und Zeltlagern. Erst meine kürzliche Lektüre des Buchs des Oxford-Historikers Peter Frankopan hat dieses selbstgefällige eurozentrische Weltbild als Fata Morgana entlarvt. Mit viel historischer Evidenz zeigt er in „The Silk Roads: A New History of the World“, dass diese Regionen nicht Transitstationen waren. Es waren im Gegenteil diese Völker, die den Handel zwischen Europa und China erst eigentlich zum Erblühen brachten, indem sie Europa mit China und Indien verbanden.
Persien, die erste Supermacht
Sogdianische Händler aus der Gegend des Aralsees waren es, die im 8. Jahrhundert AD in Mainz Sklaven kauften – nicht umgekehrt. Während rund 2000 Jahren – bis Europa mit der Revolution in maritimen Technologien nach 1500 zur Weltmacht aufstieg – war es das persische Grossreich, das als erste Supermacht gelten kann, weit mehr als das Römische Reich. Es war ein loser Vielvölkerstaat, mit nomadisierenden und sesshaften Völkern an der Peripherie. Der Welthandel blühte, er reichte von Chinas Osten bis nach Irland, und mit ihm entwickelte sich eine Hochkultur, die auch die grossen Weltreligionen gründen half.
Soweit ich mich erinnere, unterschlugen unsere Geschichtsbücher auch, dass Marco Polo, kaum war er in der Verbotenen Stadt dem mongolischen Herrscher Kublai Khan begegnet, in dessen Dienste trat. Auf Geheiss Khans trat er die Rückfahrt an und knüpfte auf dem Weg zahlreiche Kontakte für Handelsgüter aus China an. Unsere selbstbezogene Geschichtsbetrachtung unterschlug damit auch, dass Länder wie China und Indien nicht einfach Lieferanten und Abnehmer waren, sondern bis ins 16. Jahrhundert die grössten Handelsnationen der Welt.
Drei Seidenstrassen
Jetzt haben wir wieder Gelegenheit, uns daran zu erinnern. An diesem Wochenende trat in Beijing eine Konferenz mit 29 Staatschefs und Delegationen aus 110 Ländern zusammen. Es war das erste Forum der Belt and Road Initiative (BRI), die China 2013 lanciert hat. Sie wird auch OBOR genannt, für One Belt One Road. Beides ist eine Übersetzung von Yidai Yilu, „(maritime) Strasse und (Land-)Gürtel“. Aber vermutlich wird sich der altvertraute Ausdruck Seidenstrasse durchsetzen, die geglückte Formulierung des deutschen Geologen Ferdinand von Richthofen im 19.Jahrhundert.
Sie wird auch von Präsident Xi Jinping öfter in den Mund genommen, denn mit dieser gewaltigen Infrastruktur-Initiative will China an die Zeit anknüpfen, in der China bereits ein dominanter Faktor im Welthandel darstellte. Und wie die historische Seidenstrasse ist auch die neue nicht ein einzelner Land-Korridor. Drei Stränge verbinden China mit dem „Westen“, sowie mehrere Verästelungen nach Süden und Norden. Dazu kommt die maritime Seidenstrasse, die eine Perlenkette von Häfen entstehen lässt, in denen auch die Überlandstrassen münden.
Titanisches Unterfangen
Doch um was geht es genau? Mit einem Aufwand von rund 100 Milliarden Dollar (pro Jahr!) baut China ein viele Kilometer breites Transportband von Strasse, Schiene, Kabel, Pipelines, Kanälen, Häfen. Es ist eine Infrastruktur, um die sich Industrien und Dienstleistungen ansiedeln sollen, Städte hochschiessen, Arbeitsplätze – und neue Abnehmer chinesischer Produkte – geschaffen werden; eine Milliarde Neu-Konsumenten sollen es in zehn Jahren sein. Der Grossteil dieses beinahe titanischen Unterfangens liegt im Ausland. Insgesamt vierzig Staaten sind eingeladen, weshalb das BRI-Forum in Beijing von solcher Wichtigkeit ist.
Der nördliche Land-Strang beginnt in der inneren Mongolei und führt nördlich von Kasachstan nach Russland, in die Ukraine und von dort nach Westeuropa. Die mittlere Trasse läuft über die zentralasiatischen Republiken, Iran und die Türkei ans Mittelmeer. Die südliche Strasse verästelt sich bereits in China und läuft nach Vietnam, Thailand, Myanmar, Bangladesch und Pakistan.
Ängste
In den drei letztgenannten Ländern knüpfen die Strassen an die maritime Seidenstrasse an, die vom südchinesischen Meer über die Strasse von Malakka Umschlaghäfen und chinesische Flottenstützpunkte baut. Am 11. April, einen Tag, nachdem ein Güterzug London auf dem Weg nach Yiwu verliess, begann im Hafen von Kyaukphyu in Myanmar ein Öltanker mit der Löschung seiner Ware – direkt in eine Pipeline, die nach Kunming führt.
Eine derartige ökonomische Machtkeule weckt natürlich auch Ängste vor einer neuen imperialen Kolonialmacht. Die englischsprachige Global Times – in Indien wird sie gratis Zeitungen beigelegt – beteuerte kürzlich, es gehe China nicht um „eine Einwegstrasse durch koloniale Ausbeutung, sondern um interconnectivity im Gegensatz zur europäischen Kolonialisierung“. Die Agentur Xinhua gab ein Konfuzius-Zitat als Losung aus: „Wer Erfolg sucht, sollte andere befähigen, Erfolg zu haben.“ Auch wenn Rhetorik dahintersteht – in diesen Trumpschen Zeiten verdient ein solcher Spruch zumindest Beachtung.
Win-Win-Formel?
Und natürlich steht Eigennutz dahinter. Mit den massiven Investitionen von nahezu 1000 Milliarden Dollar will China seine Kenntnisse, Anlagen, Arbeitskräfte und Dienste einsetzen und die Überkapazitäten im eigenen Land besser auslasten. Mit den terrestrischen Seidenstrassen, die mit Ausnahme des Nordstrangs alle im Westen des Landes beginnen, soll dieser relativ unterentwickelte Teil des Landes den gleichen Aufschwung sehen, wie ihn die reichen Provinzen im Süden und Osten erlebt haben.
Ob die Initiative für alle eine Win-Win-Formel ist, wird sich erst noch zeigen. Bereits hat die brachiale Wucht, mit der China dreinfährt, Proteste ausgelöst, etwa in Myanmar und Sri Lanka. Pakistan dagegen, weltweit politisch isoliert, hat sich dem geschenkten Gaul regelrecht vor die Füsse geworfen. Umschlaghafen und Flottenstützpunkt in Gwadar – nicht allzu weit weg von der Golfregion – sind bereits eingeweiht, und der Korridor vom Karakorum-Pass hinunter ins Industal ist schon jetzt ein riesiger Bauplatz.
Indien, in stiller Wut
Die pakistanische Armee hat eigens eine Division von rund 10‘000 Mann ausgehoben, die nur dem Schutz der Arbeiten dient. Dennoch kommt es immer wieder zu Zwischenfällen, wie letzte Woche, als Mitglieder der Baluchistan Liberation Army zehn Arbeiter erschossen. Dessen ungeachtet gehen die Arbeiten weiter. 56 Mia. Dollar sind für den China-Pakistan Economic Corridor (CPEC) vorgesehen, und zum Anlass des Seidenstrasse-Forums haben Präident Xi und Premierminister Sharif weitere sechs Verträge unterzeichnet.
Indien sieht diesem Treiben in stiller Wut und beinahe machtlos zu. Es bezahlt nun den Preis dafür, meinte der Strategie-Experte Raja Mohan im Indian Express, dass es seine Nachbarn während Jahrzehnten vernachlässigt oder ohne Not vor den Kopf gestossen hat. Erst vor einer Woche sprang – nach Pakistan, Sri Lanka, Bangladesch und den Malediven – auch Nepal auf den BRI-Zug. Es unterzeichnete Verträge für den Ausbau der Strasse und den Bau einer Eisenbahnlinie von Lhasa nach Kathmandu, sodass die Regierung ebenfalls einen Vertreter nach Beijing entsenden konnte.
Verlockende Konfuzius-Formel
Delhi dagegen lehnte eine Teilnahme am Forum ab. Es machte geltend, dass der CPEC durch das pakistanisch besetzte Kaschmir verläuft, das von Indien beansprucht wird. Dies war allerdings nur ein Vorwand, denn der langjährige Ausbau des Karakorum Highway durch chinesische Arbeiter hatte Indiens Diplomatie bisher nie besonders aufgebracht.
Auf die Dauer wird sich Delhi aber eine kooperativere Politik einfallen lassen müssen, um der verlockenden Konfuzius-Formel – „Willst Du Erfolg, hilf Andern erfolgreich zu sein“ – etwas entgegenzusetzen; sonst werden ihm seine Felle davonschwimmen. Es war symptomatisch, dass der (soeben abgeschlossene) Besuch von Premierminister Modi in Colombo lange Zeit in der Luft hing. Er wollte unbedingt beim Buddha Purnima-Fest in Kandy dabei sein. Sri Lankas Premierminister Wickremesinghe dagegen brannte darauf, ans BRI-Forum nach Beijing zu reisen. Am Ende konnten ihn die indischen Diplomaten bewegen, seinen Abflug bis zum Freitagabend zu verschieben.