Am Montag, den 18. Mai 2020, gelang es den Milizen der libyschen „Regierung der nationalen Eintracht“ in Tripolis (GNA), den Luftwaffenstützpunkt al-Watīya von Khalīfa Haftars Libyscher Nationalarmee (LNA) zurückzuerobern. Damit hat sich die GNA einen strategisch günstigen Ausgangspunkt für eine Rückgewinnung der noch von den LNA-Einheiten gehaltenen Regionen südlich von Tripolis geschaffen.
Die Basis, etwa 150 km westlich von Tripolis und 60 km südlich der Mittelmeerküste gelegen, war seit 2014 Haftars Faustpfand in Tripolitanien. 1942 von den USA gegründet und nach dem Flughafen Mitiga der zweitwichtigste Luftwaffenstützpunkt im Land bietet al-Watīya Unterkunft für bis zu 10’000 Armeeangehörige. Der LNA sei es, nach eigenen Angaben, gelungen, grosse Teile ihres Personals und ihrer Waffen rechtzeitig abzuziehen; die GNA hingegen behauptet, massenhaft Waffen, darunter ein russisches Boden-Luft-Raketensystem vom Typ Pantsir, das laut GNA in Kürze einsatzbereit sein wird, erbeutet zu haben.
Der gescheiterte Sturm
Haftars im Februar angekündigte „Sturm des Vaterlands“-Offensive endete wie das Hornberger Schiessen. Dies zeigt die Brüchigkeit der sozialen Allianzen, die Haftar mit lokalen Machthabern und Milizen eingegangen war. Die Luftwaffenbasis unterstand bislang der Oberhoheit der Warashfāna, einer Stammesföderation, die in erbitterter Fehde mit den Tripolitanern stand. Doch schon Ende April 2020 deutete sich an, dass die LNA die Unterstützung der Stämme in Westtripolitanien zu verlieren drohte. Die LNA musste anerkennen, dass die GNA-Truppen einen „moralischen Sieg" errungen hätten.
Haftar hatte wohl den Bogen überspannt, als er deklarierte, er sei vom libyschen Volk zur Führung der Nation auserwählt worden. Viele seiner Alliierten haben vermutet, dass Haftar gegen die Regierung des ostlibyschen „Repräsentantenhauses“ in Tobruk geputscht habe und damit ausstehende Solidaritätsleistungen an seine Alliierten verweigern könnte. So regte sich Widerstand gegen Haftars Selbstermächtigung. Haftar versuchte vorzubeugen, indem er am 12. Mai mit dem Präsidenten des Repräsentantenhauses Aguila eine Übereinkunft zu erzielen suchte, in der er seinen Putsch „zurücknahm“ und anerkannte, dass das Repräsentantenhaus „ein demokratisch gewähltes Gremium, das das gesamte libysche Volk repräsentiert“ sei und dass es „nur durch freie und gerechte Wahlen wie im Jahr 2014 aufgelöst“ werden könne.
Die Macht der Stämme
Dies hat die LNA so geschwächt, dass ein einheitliches Kommando in ihren Machtgebieten in Tripolitanien unmöglich wurde. Der GNA nutzt das Momentum und versucht nun, auch die Stellungen der LNA in den südlichen Aussenbezirken von Tripolis zu erobern. Um hier erfolgreich zu sein, müsste die GNA aber eine Vereinbarung mit den mächtigen Tarhūna- und Warfalla-Milizen treffen, die bislang das Rückgrat der LNA-Macht in Tripolitanien darstellten.
Die Stadt Tarhūna war im Februar 2020 Ort einer grösseren Konferenz libyscher Stämme gewesen, die Haftars LNA die Treue bekundet hatten. Eingeladen hatten die Führer der Tarhūna, die fast die gesamte Bevölkerung der namensgleichen Stadt stellen. Angeblich verstehen sich fast eine Million Menschen als Angehörige der Tarhūna, die zusammen mit den fast gleich starken Warfalla im benachbarten Banū l-Walīd als loyale Anhänger des Gaddafi-Regimes galten. Als sie Ende September 2011 die Seiten wechselten, Tripolis angegriffen und Gaddafi zur Flucht nach Syrte zwangen, stellten sie klar, dass jede Loyalität auf einer Allianz zu gründen habe, die auch den Stämmen hinreichend Schutz und Wohlfahrt gewährleisten sollte. Die Allianz mit Haftar ist also nicht als Unterwerfung zu verstehen, sondern als strategisches Bündnis, das jederzeit aufgekündigt werden kann. Dies könnte eine Achillesferse der LNA sein: Haftar ist gezwungen, zahllose Kompromisse mit bislang loyalen Verbänden einzugehen. Das aber hat die ökonomischen und sozialen Ressourcen der LNA massiv erodiert.
Söldnerkrieg
Die Erfolge der „Regierung der nationalen Eintracht“ in Tripolis gründen auch auf die türkische Waffenhilfe, die seit Februar deutlich aufgestockt wurde. Vor allem die türkischen Drohnen und seegestützten Kurzstreckenraketen sind zu einem wichtigen Gegengewicht zur Luftwaffe der LNA geworden.
Der libysche Krieg wird mehr und mehr zu einem Söldnerkrieg. Gerüchte über den Einsatz syrischer Kämpfer, die sich als Söldner dem GNA angedient hätten, wollen nicht verstummen. Angeblich sollen fast 8’000 syrische Rebellen als Söldner die GNA-Milizen unterstützen; das Regime in Damaskus habe seinerseits syrische Söldner an die LNA vermittelt. Die LNA setzt sudanesische Söldner ein, die durch die VAE rekrutiert und bezahlt werden. Die Söldner haben den militärischen Vorteil, nicht an bestimmte soziale Felder in Libyen gebunden zu sein oder auf die Einhaltung einer Solidaritätsleistung zu bestehen. Da diese Leistungen offensichtlich immer seltener garantiert werden können, ziehen sich einheimische Kämpfer, vor allem jene, die sich für den LNA engagiert haben, mehr und mehr aus dem Kriegsgeschehen zurück.
Dass die Türkei, Russland, die VAE und Saudi-Arabien aber weiter bereitbleiben werden, den Krieg in Libyen zu bezahlen, ist mehr als fraglich. Die Kosten übersteigen inzwischen schon deutlich den Nutzen, die die Regionalmächte aus dem Krieg ziehen können. Doch keine Seite scheint bereit, den ersten Schritt eines Rückzugs zu wagen, wohl wissend, dass die andere Seite einen solchen Rückzug ausnutzen wird. Also werden sich die Kriegsparteien auf ein Patt einigen müssen, dass die Machtteilung in Libyen festschreiben wird.
Haftar wird sich damit abfinden müssen, dass seine LNA ihre Position in Tripolitanien räumen wird. Er wird versuchen, die Erdölfördergebiete in Fezzan und die Frontlinien bei Syrte am Mittelmeer zu halten. Allerdings konkurriert er dort mit Sayf al-Islam Gaddafi. Nach der Eroberung von Syrte durch die LNA hatte sich der Sohn von Muʿammar Gaddafi schon in der Rolle eines Friedensrichters in Libyen gesehen und offen seine Ambitionen auf das Amt eines libyschen Präsidenten bekundet. Gaddafi geniesst nicht nur die Unterstützung seines eigenen Stamms, sondern auch die von Teilen der Warfalla in Banī Walīd. Haftar wird daher bemüht sein, seine Macht so zu konsolidieren, dass ihm in Gaddafi kein Konkurrent erwächst.
Misrāta und Tripolis
Die GNA in Tripolis hat andere Sorgen. Sie verfügt über keine eigene Armee, sondern ist ganz auf Milizen angewiesen. Die GNA ist eine Regierung in Tripolitanien, als dessen Metropole die Stadt Tripolis gilt. Doch verteidigt wird die Stadt vor allem von den Milizen aus der Nachbarstadt Misrata, knapp 200 km östlich von Tripolis gelegen.
Misrātas Milizen, etwa 25’000 Mann stark, sind kampferprobt und unterstehen einem wohlgeordneten und wohlstrukturierten Kommando. Zudem lebt die Erinnerung an die fürchterlichen Folgen der zweimonatigen Belagerung der Stadt mit ihren 400’000 Einwohnern 2011 durch Gaddafis Truppen weiter, verbunden mit dem Stolz, dass sich die Stadt nie ergeben hatte. Dies hat der Stadt den Ruf als „Sparta Libyens“ eingebracht. Knapp die Hälfte der GNA-Milizen sind mit Misrāta verbunden. Eine einheitliche Kommandostruktur hatte es vor allem in der Zeit gegeben, als die Milizen unter dem Namen „Morgenröte“ (fajr, 2014/16) in den Krieg um Tripolis eingegriffen hatten. Formal wurde die „Morgenröte“ 2016, als der GNA gebildet wurde, aufgelöst, doch behielten die etwa 200 Milizen, die sie konstituiert hatten, ihre bis heute funktionsfähige Kommandostruktur bei. Das Bindungskapital zwischen den Milizen, deren Spektrum von ultraislamischen Kampfbünden über Muslimbrüder, Ibaditen, Säkularisten, konfessionslose Republikanern bis zu konservativen Kaufmannsfamilien reicht, besteht ausschliesslich aus der Zugehörigkeit zur Kommune von Misrāta. Wie in anderen libyschen Städten auch bildet die Kommune die Grundlage für ein verzweigtes System informeller und formeller Verwandtschaft, durch das ein sehr enges Netz an Solidaritätsbeziehungen geknüpft wurde.
Misrata ist eine Stadt, die in der Zeit der direkten osmanischen Herrschaft 1835–1918 die engsten Beziehungen zur Metropole Istanbul unterhalten hatte und in der es auch noch heute viele Familien gibt, die stolz auf ihre gemischte türkisch-libysche Herkunft sind. Misrāta war soziologisch immer die modernste Stadt Tripolitaniens gewesen; schon die Osmanen hatten in der Mitte des 19. Jahrhunderts die Stadt zu einem Laboratorium für die Erprobung ihrer neuen Verwaltungsstrukturen und Infrastrukturen gemacht. Auch galt Misrāta als die reichste Stadt Tripolitaniens, in der wichtige Industrien und Staatsbetriebe, insbesondere Stahlwerke, Teppich- und Textilmanufakturen sowie die Verwaltung der libyschen Häfen angesiedelt waren. Daneben gibt es heute zahlreiche Handels- und Dienstleistungsunternehmen, die den ökonomischen Hintergrund für die führenden Familien der Stadt bilden. Dies alles hatte dazu geführt, dass sich Misrāta immer schon als eine autonome Stadt im Gefüge Tripolitaniens und später Libyens verstand. Zugleich waren die führenden Familien, vor allem die Shtaywī, Suwayhilī und ʿAtīqa fest in einem sozialmoralischen Milieu verankert, in dem der Islam zur einer prägenden Grösse geworden war. Die Beziehung zu Misrāta bildet somit das Brückenkapital, das die Milizen in der Stadt zusammenhält.
Städtischer Republikanismus und Islamismus sind in Misrata diskursiv in einer Vorstellung verschmolzen. Schon bei den ersten Parlamentswahlen 2012 hatte die Partei der Muslimbrüder (Partei für Gerechtigkeit und Wiederaufbau) in Misrāta landesweit den höchsten Stimmenanteil (22,4 %) erreicht. Die im urbanen Raum verankerten Muslimbrüder, die im ersten Parlament durch die Anwältin Zaynab ʿAbdallāh Bāʿū vertreten worden waren, sahen sich zugleich als Speerspitze gegen die Ultraislamisten (anṣār ash-sharīʿa, „Islamischer Staat“), die sie 2017 aus ihrer Gebietsherrschaft in Syrte endgültig vertrieben hatten. Auch wenn die Muslimbrüder rhetorisch die öffentliche Meinung in Misrāta bis heute beherrschen, bilden sie nur eine Minderheit im Gefüge der Milizen und der Kommunalverwaltung. Wichtig sind sie als lokale Alliierte der türkischen Libyenpolitik, die propagandistisch gerne auf jene Familien Bezug nimmt, die osmanische Vorfahren haben.
Für Misrāta amtiert der Geschäftsmann Ahmad ʿUmar Muʿaytīq als Vizepräsident in der GNA. Er hat einen für die Eliten der Stadt typischen Familienhintergrund: zum einen ist er türkischer Herkunft, zum anderen ist er Enkel von Ramadān as-Suwayhilī, der Misrāta in der ersten tripolitanischen Republik 1918/19 vertreten hatte. Sein Cousin ʿAbdarrahmān as-Suwayhilī ist seit 2016 Mitglied des Hohen Staatsrats, einem Beratungsorgan der GNA. Auch Innenminister Fathī Bāshāghā stammt aus einer türkischen Familie aus Misrāta.
Die Stadt Tripolis, Residenz der tripolitanischen Militärfürsten und seit 1835 Sitz der osmanischen Verwaltung, ist der führende Firmen- und Finanzplatz in Tripolitanien. Zu den wichtigsten in Tripolis produzierten Industriegütern gehören Lebensmittel, Textilien, Baumaterialien, Kleidung und Tabakwaren. Die zahlenmässig dreimal grössere Bevölkerung von Tripolis ist weit weniger homogen als die von Misrāta, dafür aber ist die Mittelklasse sehr viel stärker in globale Netzwerke integriert. Politisch dominierte in der Stadt lange Zeit die zentristische „Allianz nationaler Kräfte“, in der liberale, säkulare und gemässigt islamische Parteien und Organisationen vertreten waren.
Gewinner und Verlierer
Der aktuelle militärische Erfolg der GNA-Milizen vertagt nur die zukünftige Aufgabe, für Tripolitanien eine politische Ordnung zu schaffen, die auf einem nachhaltigen, internen Interessensausgleich beruht. Der Krieg hat die soziale Identität der Städte und Regionen Tripolitaniens weiter gestärkt, und es ist kaum anzunehmen, dass die Städte bereit sein werden, ihre im Krieg gewonnene Autonomie zugunsten einer zentralistischen Verwaltung wieder abzugeben. So steuert Tripolitanien auf eine Dezentralisierung zu, die die Grundlage der neuen Ordnung werden könnte. Bislang aber bestehen noch keine Mechanismen des Interessensausgleichs, die eine solche Föderation möglich machten. Im Gegenteil: der militärische Erfolg könnte Begehrlichkeiten auf die Gewinne wecken und damit neue kriegerische Auseinandersetzungen provozieren. Gewinner könnte dann der werden, der im Augenblick als Verlierer dasteht: Khalifa Haftar.