Die 37-jährige Elly Schlein ist – entgegen aller Prognosen – am Sonntag zur neuen Parteichefin der italienischen Sozialdemokraten gewählt worden. Sie will das Steuer radikal herumreissen und die serbelnde Partei wieder aufrichten. Sie gilt als progressiv, pointiert links, feministisch und ökologisch.
Es gibt Beobachter, die die Wahl Schleins als «sozialdemokratischen Verzweiflungsakt» bezeichnen. Dem «Partito Democratico» (PD), wie die Sozialdemokraten in Italien heissen, geht es nicht gut. Die Partei, die 2014 unter Matteo Renzi bei den Europawahlen über 40 Prozent der Stimmen erhalten hatte, dümpelt zur Zeit bei 16, 17 Prozent dahin.
Schlimm für den PD sind Erhebungen, wonach die Partei vor allem bei den Arbeitern und den Armen stark an Zustimmung verloren hat. Nur noch zehn Prozent der Arbeiter stimmen für die Sozialdemokraten, die einstig klassische Arbeiterpartei. Die anderen sind zu den Postfaschisten oder den ideologisch unberechenbaren und undefinierbaren «Cinque Stelle» übergelaufen. Diese rücken immer weiter nach links und werden zunehmend eine Gefahr für die Sozialdemokraten.
Zwei Polit-Entwürfe
Der Abstieg des PD dauert seit Jahren. Mehreren Parteichefs war es nicht gelungen, den Niedergang zu stoppen.
Jetzt, bei der Urwahl am Sonntag, standen sich am Schluss noch Elly Schlein und Stefano Bonaccini gegenüber: zwei grundsätzlich verschiedene Politik-Entwürfe.
Vertreter des «alten Systems»
Der 56-jährige Stefano Bonaccini, der Gouverneur der wichtigen italienischen Region Emilia-Romagna, lag seit Wochen in allen Umfragen klar vorn.
Bonaccini vertritt eine eher reformistische Linie und ist bereit, mit anderen linken Kleinparteien oder mit Mitte-Parteien zusammenzuarbeiten. Er gilt als Pragmatiker – aber eben auch als Vertreter des «alten Systems». Deshalb fürchteten viele Parteimitglieder, dass es mit ihm so weiterginge wie bisher. Also bergab.
Jung, frech, radikal
Elly Schlein hingegen gehört nicht zum Apparat. Sie ist jung, frech, radikal, unverbraucht, energiegeladen und will die Partei wieder ein starkes Stück nach links führen. Sie hat immer wieder geschworen, sie wolle der rechtspopulistischen Regierung von Meloni, Salvini und Berlusconi die Stirn bieten. Sie kritisiert, dass der PD immer mehr in die Mitte gerückt ist und die Bedürfnisse der Arbeiter und ärmeren Menschen nicht mehr kennt.
Schlein hat nach Auszählung fast aller Stimmen etwa 54 Prozent der Voten erhalten, Bonaccini demnach etwa 46 Prozent. Es ist das erste Mal, dass Italiens Sozialdemokraten von einer Frau geführt werden.
Stark in den Städten
Wahlveranstaltungen von Elly Schlein waren vor allem von jungen und jüngeren Italienern und Italienerinnen besucht worden. «Um die Partei vor dem weiteren Niedergang zu stoppen, braucht es eine grundlegende Zäsur», erklärte eine etwa 30-jährige Frau am Sonntag vor ihrem Wahllokal in Rom. Eine Auswertung der Ergebnisse zeigt, dass Schlein vor allem in den grossen Städten Mailand, Rom, Turin, Bologna, Florenz, aber auch Palermo und Neapel klar gewonnen hat. In Mailand haben fast 70 Prozent für Schlein votiert.
«Eine neue Partei ist geboren», rief sie in der Nacht zum Montag an der Siegesfeier in Rom, die unter den Klängen von «Bella ciao» begann. Ihre Rede wurde häufig von Sprechchören und Applaus unterbrochen. Diese wurden noch lauter, als sie erklärte, dass sie sich für die Rechte der in Italien geborenen Kinder von Ausländern und von gleichgeschlechtlichen Familien einsetzen werde.
«Dies ist erst der Anfang»
«Wir standen an einem Scheideweg, aber diese Führung eröffnet eine neue politische Saison», rief sie Tausenden jubelnder Menschen zu. «Ich versichere Ihnen, dass dies erst der Anfang ist.»
Wahlberechtigt waren alle Parteimitglieder und auch jene Italiener und Italienerinnen, die erklären, dem PD nahezustehen. Dass jetzt Hunderttausende Wählerinnen und Wähler an die Urnen gingen, wird so interpretiert, dass viele Parteimitglieder offenbar doch noch nicht ganz die Hoffnung verloren haben, dass sich ihre Partei wieder aufrichten kann.
«Eine neue Geschichte beginnt»
Elly Schlein hatte im letzten Moment noch eine gewichtige Unterstützung erhalten. Der frühere PD-Parteichef Pierluigi Bersani hatte sich für sie ausgesprochen. «Ich denke, Elly Schlein signalisiert mehr mutige Offenheit für Veränderungen», twitterte Bersani. Dario Franceschini, der frühere Parteichef und Kulturminister spricht von einer «überwältigenden Welle der Hoffnung». Und: «Eine neue Geschichte beginnt.»
Ministerpräsidentin Giorgia Meloni gratulierte Schlein mit einem feinen Seitenhieb: «Ich hoffe, dass die Wahl einer jungen Frau an der Spitze der Sozialdemokraten der Linken helfen kann, nach vorne und nicht zurück zu schauen.»
Die Schweizerin
Elly (Elena Ethel) Schlein wurde in Lugano geboren und ging dort zur Schule. Sie hat das Schweizer Bürgerrecht, aber auch das amerikanische und italienische. Ihr Vater ist ein amerikanischer Professor und ihre Mutter eine italienische Professorin. Ihr Grossvater war ein aus Lemberg stammender ukrainischer Jude. Elly Schlein studierte in Bologna Jura und schloss mit einer Arbeit zum Verfassungsrecht ab.
Die Sozialdemokratin Schlein war von 2014 bis 2019 Mitglied des Europäischen Parlaments. Im Jahr 2015 zerstritt sie sich mit dem damaligen Ministerpräsidenten und Parteichef Matteo Renzi und trat aus der Partei aus. Anschliessend schloss sie sich der neuen Splitterpartei «Possibile» an, die links von den Sozialdemokraten politisiert. Bei der Europawahl 2019 trat sie nicht zur Wiederwahl an. Im Juni 2019 trat sie aus der Possibile-Partei aus.
Die «Kommunistin»
Im Januar 2020 wurde sie in den Regionalrat der Emilia-Romagna gewählt, und zwar auf einer Liste namens «Coraggiosa Ecologista e Progressista». Der sozialdemokratische Regionalpräsident Stefano Bonaccini, der Mann den sie jetzt besiegte, ernannte sie daraufhin zu seiner Stellvertreterin.
Für die italienische Rechte ist Schlein ein rotes Tuch. Die Berlusconi-Medien bezeichnen sie als «Kommunistin». Und natürlich wird betont, dass sie jüdisches Blut in sich hat und «zur Zeit», wie sie sagt, mit einer Frau zusammenlebt.
«Endlich habe ich ähnliche Worte gehört»
Schlein beackert eine Klientel, die in den letzten Monaten auch die Protestpartei «Cinque Stelle» angesprochen hat. Die Fünf Sterne sind in den letzten Monaten klar nach links gerückt. Ihr Chef, der frühere Ministerpräsident Giuseppe Conte, wird von der Römer Zeitung La Repubblica als «Che Guevara im Rollkragenpulli» bezeichnet. Conte gratulierte denn auch Schlein mit den Worten: «Endlich habe ich ähnliche Worte gehört, wie wir sie verbreiten: soziale Gerechtigkeit, den Kampf gegen den Klimawandel, den Mindestlohn, mehr Mittel und mehr Aufmerksamkeit für die öffentlichen Schulen und das Gesundheitswesen.»
Sollten die Sozialdemokraten mit den Fünf Sternen ein zumindest lockeres Bündnis eingehen, würde endlich ein starkes Gegengewicht zum sehr rechts stehenden Regierungsblock entstehen. Doch da gibt es noch viele Hindernisse.
Schonfrist
Nach dem Siegestaumel vom Sonntag beginnt nun für Schlein die harte Arbeit: vor allem Überzeugungsarbeit. Als erstes muss sie die verschiedenen Strömungen innerhalb der Partei zusammenbringen. Die Erfahrung zeigt, dass dies eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit ist. Die Linke ist bekannt für ihre Zerfleischungsprozesse. Gockelkämpfe haben schon viele Vereinigungsversuche zunichte gemacht. Zweitens muss sie versuchen, kleinere linke und Mitte-Parteien in ihr Boot zu holen. Auch da könnten persönliche Animositäten ein Hindernis sein.
Aber sicher geniesst Elly Schlein jetzt eine Schonfrist. Wenn sie ein überzeugendes Programm präsentiert, das auch in Meinungsumfragen honoriert wird, wenn sie kompetente Leute um sich schart, hat sie vielleicht durchaus eine Chance.