apple-pie
Es muss 1981 gewesen sein. Ein heisser Sommertag. Max Frisch, höflich, freundlich, auch ein bisschen verlegen wirkend, empfängt den angekündigten Journalisten und ermuntert ihn zu ein paar Schwimmzügen im kleinen Pool, der zum Haus in Berzona gehört. Ins Haus könne man nicht. Alice sei am Putzen und habe sich Störungen verbeten. Alice/Lynn, die schöne Amerikanerin mit der hellroten Haarpracht? Bekannt aus „Montauk“ und aus dem Film von Richard Dindo „Max Frisch, Journal I bis III“? Da kommt sie aus dem Haus, als Putzfrau verkleidet, die Haarpracht nur in Spurenelementen sichtbar, der grosse Rest in einem Kopftuchlumpen verpackt.
Frisch und der Journalist setzen sich in die Loggia; Frisch redet angeregt und sehr entspannt übers Theater, über sein Theater, seine Stücke, seine Erfahrungen mit Regisseuren und Schauspielern. Darüber soll der Journalist für Pro Helvetia ein Dossier schreiben – Frisch hat sich Zeit genommen, um das Thema gebührend zu erörtern. Als es um „Biografie ein Spiel geht“, sind sie uneins. Der Journalist hat eine Vorliebe für dieses Stück, Frisch beharrt eigensinnig darauf, dass es missglückt sei. Der Journalist kommt intellektuell gegen Frischs Argumente nicht an und meint schliesslich, resignierend, „es funktioniert für mich halt auf einer anderen Ebene“, eine Art Bankrotterklärung, die Frisch nur aus Höflichkeit nicht unter den Tisch wischt.
Es sieht so aus, als sei der Journalist in die Enge getrieben – aber in der Enge, einer ganz anderen Enge, sitzt auch Frisch. Wieder diese Verlegenheit. Ein Anflug von Nervosität. Besorgte Blicke zum Haus hinüber. Frisch rückt schliesslich heraus: Demnächst werde uns Alice apple-pie servieren - der Journalist freut sich. Zu früh. Denn dieser Apfelkuchen verspreche keinen Genuss, meint Frisch. Wahrscheinlich sei er missglückt. Frischs Fehler. Alices Rezept basiere auf amerikanischen Mengenmassen. Er habe auf unser Dezimalsystem umgerechnet und sich vertan. Es wäre aber nett, wenn wie beide so tun könnten, als sei uns etwas Köstliches vorgesetzt worden.
Alice bringt etwas Unansehnliches und steht erwartungsvoll neben uns, Frisch zerteilt und verteilt, spendet heuchlerisches Lob, während der Journalist verzweifelt an einem übersüssten, nicht richtig aufgegangenen Teigklumpen würgt.
Alice/Lynn …
Am 11.5. 1974 fuhr Frisch mit der gut dreissig Jahre jüngeren Alice Locke-Carey, die er kurz zuvor bei seinem amerikanischen Verleger in New York kennen gelernt hatte, für ein verlängertes Wochenende mit dem Auto nach Montauk, in die „nördliche Spitze von Long Island, hundertzehn Meilen von Manhattan entfernt.“ Entstanden ist aus diesem Erlebnis eines der schönsten, auch schwerelosesten Bücher von Max Frisch, die Erzählung „Montauk“, die im Staccato-Stil, in der Mischung aus narrativen und essayistischen Elementen, in der insistenten Ich-Beschreibung den Tagebüchern gleicht. Das Buch behandelt in assoziativer Manier eine Vielzahl von Themen, bewegt sich in Sprüngen und Fragmenten vorwärts (oder in Erinnerungen rückwärts) porträtiert Menschen und Landschaften – und verfügt doch über eine starke Mitte: die Beziehung zu Alice, die der Autor Lynn nennt. Liebe soll es nicht gewesen sein, erzählt Frisch sich und uns: „Es ist nie gesagt worden I LOVE YOU“ notiert er und es tönt wie eine Ver- oder Absicherung. Passend dazu gegen Ende der Erzählung: „Lynn wird kein Name für eine Schuld“. Die Zeit für die Begegnung ist kurz bemessen, der Rückflug in die Schweiz gebucht, eine Fortsetzung, ein Wiedersehen schliessen beide aus.
Was erzählt und immer aufs neue beschworen wird, „ein langer leichter Nachmittag“, Spaziergänge, ein paar Nächte, bleibt zart und poetisch wie ein Gedicht, ein Gedicht freilich, das nicht das Fremde verschweigt, das Sich-nicht-wirklich-Verstehen, die manchmal komischen, manchmal ärgerlichen Missverständnisse, im Sprachlichen, im Kulturellen, im Altersunterschied gründend. Die Liebe, die partout keine sein soll, ist natürlich eine, wenn man den Begriff nur weit genug fasst. Das weiss auch das alter ego des Autors, gespalten in eine Ich- und eine Er-Person, die Glück empfindet und (keine Eifersucht, was sie beruhigt). Obsessiv weist Frisch auf die Flüchtigkeit des Erlebnis´ hin und gleichzeitig mobilisiert er seine ganze Kunst, seinen bohrenden Scharfsinn, um auch jeden Moment des Wochenendes angemessen in seiner Einzigartigkeit zu beschreiben, zu verewigen. „Es bleibt das irre Bedürfnis nach Gegenwart durch eine Frau.“
…und die Schuld
Richard Dindos Film „Max Frisch, Journal I – III“ ist eine filmische Lektüre von „Montauk“. Frisch hat den klugen und raffinierten Film, der 1981 in die Kinos kam, geschätzt. Dindo collagiert in drei Kapiteln zu verschiedenen Themen aufgefundene Ton- und Bilddokumente und führt mit Hilfe einer Schauspielerin eine Enquète, die ihn an Orte und zu Personen führt, die für Frisch wichtig waren. Als roter Faden läuft „Montauk“ durch den Film, als Text, als Bild. Dindo suchte und fand Alice in den USA, die er für seine Schlusssequenz brauchte. Und so traf Frisch seine Liebe oder Nicht-Liebe ein zweites Mal.
Diesmal wird die Liebe konsumiert. Bis zum Ende, das bitter ist und sich von Anfang an abgezeichnet hat. Es war wohl eine aussichtslose Liebe. Sie ist in aller Schmerzlichkeit dokumentiert, in jenem dritten Tagebuch, das nur im Entwurf besteht, plötzlich abbricht und 2010 von Peter von Matt herausgegeben wurde.
Verschwunden ist die Leichtigkeit, die Schwerelosigkeit von „Montauk“. Dicke Luft hüllt die Seiten des 1982 begonnenen, 1983 aufgegebenen Tagebuchs ein. Unbarmherzige Selbstanalyse, Selbstqual, intensive Beschäftigung mit dem Tod (ein Freund stirbt an Krebs), sich ankündendes Versiegen der Schreiblust beschäftigen Frisch. Er lebt mit Alice teils in Berzona, teils in einer neu erworbenen Loft in New York und schon auf der ersten Seite, als er „draussen auf der Feuertreppe im fünften Stock“ hockt, bricht es aus ihm heraus: “Wie dieses Amerika mich ankotzt!“ Es geht um das Amerika unter Präsident Ronald Reagan, und wer sich an diese Zeit erinnert und den sich zunehmend politisch radikalisierenden 70-jährigen Frisch vorstellt, wird diesen und die vielen anderen Unmutsbezeugungen, sarkastischen, ironischen oder einfach agressiven Äusserungen verstehen. Es gibt da nur ein Problem und auch das wird gleich auf der ersten Seite angesprochen: „I HATE IT I LOVE IT…New York als Wallfahrtsort sozusagen…über drei Jahrzehnte hin“. Nicht Hass allein, nicht Liebe pur –eine Mischung, eine Hassliebe.
Der Liebe aber, der intimen, der wieder gefundenen, geht es schlecht, wie der Ich-Erzähler festzustellen nicht umhin kommt. „Unsere Paarschaft ist ohne Zukunft“ heisst es resigniert, eine Mexiko-Reise wird abgebrochen, Impotenz konstatiert, unüberwindbare Fremdheit herbeigeredet. Der Erzähler wendet wiederum Scharfsinn und Kunstverstand an, um die Argumente zu ziselieren, die er anführt, die begründen sollen, warum es nicht geht, die ihn treffen und verletzen. Zugelassen sind Selbstironie, ein melancholischer Humor, wenn etwa ein Allerweltstag in New York beschrieben wird, mit dem Ich-Erzähler, der sich Mühe gibt. Auch Glück ist möglich, freilich ganz selten, in Sils Maria zum Beispiel, sitzend am See.
„Lynn wird kein Name für eine Schuld“, hiess es in „Montauk“. Und jetzt: „Wird Alice der Name für eine Schuld?“ Die Frage bleibt, wie so oft in Frischs Werken, unbeantwortet. Wem stellt er sie? Sich? Uns? Ist sie echt oder nur rhetorisch gemeint? Und wie sollen wir uns das Verhältnis des erzählenden Ichs zum Autor vorstellen?
In „Montauk“ hat sich Frisch an Michel de Montaigne angelehnt, den er im Motto zur Erzählung zitiert: „Dies ist ein aufrichtiges Buch…“ Autobiografisch soll es sein, nichts Erfundenes enthalten. „und was verschweigt es und warum ?“ fragt Frisch auf den letzten Seiten von „Montauk“ . Fragen, unter denen sich ein Abgrund auftut. Der Aufrichtigkeitsanspruch mit dem Verschwiegenheitsabgrund darunter, besteht auch im dritten Tagebuch. Die leichte, nicht sein sollende, die konsumierte, die verklingende Liebe zu Lynn/Alice, sie ist Frisch passiert; seine Ich- und seine Er-Person erzählen sie uns in eindrücklichen Texten – da wird sie, ob leicht und flüchtig, ob schwer und schmerzlich, objektiviert und in Kunst verwandelt.