Man muss den Realitäten ins Auge sehen: Putin hat in der von ihm entscheidend mitprovozierten Krise um die Kontrolle und Zugehörigkeit der Halbinsel Krim momentan starke Karten. Er hat die Halbinsel am Schwarzen Meer machtpolitisch praktisch im Griff - dank der in Sewastopol stationierten russischen Schwarzmeerflotte, der Präsenz verdeckter russischer Militärkommandos auf den Flughäfen und in einigen Städten sowie der Schwäche ukrainischer Kräfte auf der Krim.
Putins Gegenschlag
Hinzu kommen die offenen Sympathiebekundungen für Moskau unter der einheimischen Bevölkerung, die mehrheitlich russischstämmig ist oder zumindest das Russische als Muttersprache versteht. Schliesslich sind die historischen Bindungen der Krim mit Russland wesentlich älter und tiefer als mit der Ukraine.
Damit soll die offenbar gut vorbereitete Usurpation der Halbinsel, deren heutige völkerrechtliche Zugehörigkeit zur Ukraine Moskau ebenfalls anerkannt hat, nicht gerechtfertigt oder gar als unverrückbarer Zustand anerkannt werden. Dieser Coup ist Putins Gegenschlag auf den überraschenden Machtumschwung in Kiew. Die vor gut einer Woche erfolgte plötzliche Machtübernahme durch die oppositionellen Kräfte und die überstürzte Flucht des bisherigen Präsidenten Janukowitsch, der sich angesichts der jüngsten Protestwelle verstärkt an Russland angelehnt hatte, müssen Putin masslos gekränkt und verärgert haben. Nun hat er zum Gegenschlag ausgeholt.
Zur realistischen Beurteilung der turbulenten jüngsten Entwicklungen gehört die Einsicht, dass der Westen kurzfristig wenig Druckmittel hat, um Putin zur Beendigung seines Powerplay um die Krim zu bewegen und seinen Truppen den Rückzug auf Sewastopol zu befehlen. Die Absage der Westmächte zur Teilnahme am G-8-Gipfel in Sotschi, der für Juni geplant ist, kann der Kemlchef leicht verschmerzen. Und eine militärische Konfrontation mit Russland wegen einer Halbinsel im Schwarzen Meer will mit Sicherheit kein Staat risikieren, weder diesseits noch jenseits des Atlantik. Mourir pour la Crimée?
Geschickte Diplomatie tut not
Das aktuelle Szenarium auf der Halbinsel gleicht in mancher Hinsicht der Machtübernahme durch russische Truppen in der georgischen Provinz Südossetien im Jahre 2008 – mit dem Unterschied allerdings, dass damals der georgische Präsident Saakaschwili in unverzeihlicher Selbstüberschätzung sich dazu hatte provozieren lassen, seine Soldaten zuerst auf die dort stationierten russischen „Friedenstruppen“ schiessen zu lassen. Auch damals hatte es zwar wegen der de facto-Annexion Südossetiens und Abchasiens durch Moskau weitherum Proteste gegeben. US-Präsident George W. Bush schickte im Sinne eines symbolischen Drohsignals eine Flotteneinheit ins Schwarze Meer – aber nach einem Jahr herrschte im Umgang mit Putins Russland wieder mehr oder weniger courant normal.
Wer erträgliche Lösungen zur verfahrenen Situation auf der Krim in Gang bringen will, muss vor allem geschickte und gut koordinierte diplomatische Initiativen lancieren. Putin ist zwar ein skrupelloser Machtpolitiker, aber er ist kein blinder Hasardeur, der unübersehbare Risiken eingeht und sein Land gegenüber dem Westen allzu tief isolieren will. Er wird sich deshalb diplomatischen Gesprächen auf hoher Ebene und damit verbundenen Kompromissvorschlägen zur Entspannung der Krise nicht kategorisch verschliessen.
Für ein faires und freies Referendum
Was könnte der Westen konkret vorschlagen? Lösungsansätze in der Krim-Frage sollten von der Überlegung ausgehen, dass ein Referendum der betroffenen Bevölkerung über die Zugehörigkeit und den zukünftigen Status der Halbinsel eine vernünftige Idee sind. Allerdings sollte ein solcher Volksentscheid nicht im Hauruck-Verfahren durchgezogen werden und er dürfte schon gar nicht unter russischer Kontrolle stattfinden.
Das Referendum muss vielmehr von einer überparteilichen Instanz – zum Beispiel der OSZE in Zusammenarbeit mit der Uno – vorbereitet und durchgeführt werden. Die russischen Truppen hätten sich spätestens zwei oder drei Monate vor der Abstimmung auf ihren legalen Stützpunkt in Sewastopol zurückzuziehen.
Der Krim-Bevölkerung sollten mehrere Optionen zur Entscheidung vorgelegt werden: 1. Festhalten am bisherigen Status quo. 2. Erweiterte Auntonomierechte für die Krim, aber weiterhin völkerrechtliche Zugehörigkeit zur Ukraine. 3. Künftige völkerrechtliche Zugehörigkeit der Halbinsel zu Russland. 4. Option einer staatlichen Eigenständigkeit für die Krim.
Merkels Qualifikationen
Wer soll diese - nur grob skizzierten - Lösungsvorschläge sowohl gegenüber Putin als auch gegenüber der neuen ukrainischen Regierung in Kiew mit dem nötigen politischen Gewicht und der richtigen Überzeugungskraft vorbringen? Die für eine solche Aufgabe am besten geeignete Persönlichkeit wäre die deutsche Bundeskanzlerin Merkel. Sie würde selbstverständlich im Namen der EU auftreten und sich vorher auch mit Präsident Obama absprechen. Allenfalls könnte sie sich vom französischen Präsidenten und vom polnischen Regierungschef begleiten lassen. Die Kanzlerin kennt Putin aus zahlreichen Begegnungen, sie spricht Russisch (ebenso wie Putin Deutsch) und wird kaum in den Verdacht geraten, sie könnte es versäumen, mit Putin im Klartext zu reden oder sich von ihm über den Tisch ziehen lassen.
Eine schwierige, aber nicht unlösbare Aufgabe dürfte es für Merkel und ihre EU-Kollegen werden, auch die neue ukrainische Regierung für die hier entworfene Referendumslösung zu gewinnen. Diese müsste bei der Zustimmung zu einem Referendum mit dem Risiko rechnen, dass tatsächlich eine Mehrheit der Krim-Bevölkerung für die Entlassung aus der ukrainischen Staatssouveränität stimmen würde. Doch im Prinzip gibt es gegen ein Referendum wenig überzeugende Argumente. Weshalb sollte man der Krim-Bevölkerung verweigern, was die Ukraine als Ganzes für sich beansprucht: nationale Selbstbestimmung.
Vielleichte könnte die mit vielen Wassern gewaschene alt-neue Populistin Julia Timoschenko bei diesem schwierigen Anpassungsprozess der Ukraine an unbequeme Realitäten eine konstruktive Rolle übernehmen. Sie wird, wie man weiss, von Putin respektiert und geniesst gleichzeitig wegen ihrer Gefängnisjahre unter dem Janukowitsch-Regime selbst unter den ukrainischen Nationalisten über einen gewissen Märtyrer-Bonus.
Ohne Gesichtsverlust für alle Seiten
Im Übrigen ist keineswegs sicher, dass sich die Mehrheit der Krim-Bevölkerung tatsächlich für einen Anschluss an Russland entscheiden würde. Zum einen gibt es auf der Halbinsel auch substanzielle ethnische Minderheiten wie die Krim-Tataren oder die Ukrainer, die kaum geneigt sind, in den Schoss von Mütterchen Russland zurückzukehren. Zum andern dürfte auch die russische Mehrheit nicht geschlossen für den Anschluss unter die Fittiche von Putins autoritärem Russland stimmen. Das Gleiche gilt für die Ostukraine insgesamt, die zwar überwiegend russisch spricht, aber politisch keineswegs geschlossen nur von Russland eine lichtere Zukunft erhofft.
So spricht vieles für den Versuch, eine hochkarätige EU-Mission unter der Leitung von Kanzlerin Merkel nach Moskau zu entsenden und Putin den Vorschlag zu einem freien und fairen Referendum unter der Krim-Bevölkerung zu unterbreiten. Die glaubwürdige Umsetzung eines solchen Plans würde allen beteiligten Seiten die Möglichkeit bieten, einen Ausweg aus der akuten Krim-Krise zu finden, ohne dabei das Gesicht zu verlieren. Jedenfalls sind die Erfolgschancen einer solchen Kompromiss-Vermittlung auf oberster politischer Ebene höher einzustufen, als die bisherigen Versuche, Putin durch rhetorische Drohgebärden zum Abbruch seiner imperialen Machtdemonstration auf der Krim zu bewegen.