Frage: Leitende Dramaturgin an der Dresdner Semperoper: Wie gelingt einer knapp 32jährigen Schweizerin dieser Karrieresprung?
Nora Schmid. Ich habe das Ganze nicht unbedingt als Karriere wahrgenommen. Das hat sich einfach so weiter entwickelt. Dabei war Glück im Spiel. Ich traf immer wieder auf Personen, die an mich geglaubt haben. Während des Studiums am Institut für Musikwissenschaft in Bern etwa auf Professor Anselm Gerhard, der die Studenten wirklich fördert, und der mich dann zum richtigen Zeitpunkt an das Theater Biel Solothurn empfohlen hat, wo ich mit Hans J. Ammann auf einen Intendanten stiess, der mir ebenfalls viele Entfaltungsmöglichkeiten gab. Und so ging es dann in einer Kette weiter.
Weiter nach Wien…
Das Theater an der Wien war anders strukturiert und folgte anderen Spielprinzipien. Dort wurde viel mit Gästen gearbeitet. Ich lernte viele Künstler aus dem internationalen Umfeld kennen. So kam es, dass jemand die jetzige Intendantin der Semperoper, Frau Dr. Ulrike Hessler, auf mich aufmerksam machte. Hessler ist übrigens die erste Frau an der Spitze der Semperoper in der 350-jährigen Geschichte dieses Hauses.
Und die griff sofort zu?
Wir haben uns einmal getroffen, dann wieder getroffen, etwa sechsmal – und dann entschieden wir uns, gemeinsam zu arbeiten. Das alles waren immer Begegnungen, die einfach funktioniert haben, in denen man eine gemeinsame Sprache gefunden hat, eine gemeinsame Vorstellung von Theater und bei denen die Leute wohl auch merkten, dass ich mit Herzblut bei der Sache bin.
Wo lernt man eigentlich den Dramaturgenberuf?
Es gibt gezielte Studiengänge, etwa in München. Viele aber kommen aus den Geisteswissenschaften, der Germanistik, der Theater- oder Musikwissenschaft, der Kunstgeschichte. Bei mir war der Weg etwas anders. Neben Musikwissenschaft habe ich auch Betriebswirtschaftslehre studiert und darin den Abschluss gemacht.
In welchem Mass können Sie als Dramaturgin Einfluss nehmen auf die Programmgestaltung?
Die wird diskutiert zwischen Intendantin, Operndirektor und der Leitung der Sächsischen Staatskapelle; in diesem Kreis kann ich meine Vorstellungen einbringen, ich kann Stücke, Regisseure, Dirigenten vorschlagen – aber die letzte Entscheidung liegt natürlich nicht bei mir.
Sehen Sie sich auch als Mittlerin zwischen der obersten Leitung und den KünstlerInnen?
Die Dramaturgie ist ein vielseitiger Beruf. Einerseits ist der Dramaturg mitverantwortlich für das künstlerische Profil eines Hauses, andrerseits arbeitet er, wenn ein Stück feststeht, eng mit dem Regieteam, dem Bühnenbildner etc. zusammen. Man kann ja jede Oper auf hundert verschiedene Arten präsentieren, es stellt sich also stets die Frage, welche szenische Umsetzung man anstrebt. Vermittlung gehört ebenfalls zur Funktion: Ich leite Einführungen in die Stücke und schreibe Texte für Programmhefte, Magazine usw. Und ja, manchmal sucht man auch das Gespräch, etwa mit einem Sänger, wenn sich unterschiedliche Auffassungen über die Rolle abzeichnen.
Legt die Semperoper das Schergewicht eher auf Traditionelles, Modernes oder gar auf das Experiment?
Jedes Opernhaus hat seine Geschichte. Aber Tradition ist nicht, wie Gustav Mahler einst sagte, die Anbetung der Asche, sondern die Weitergabe des Feuers. Das ist auch unser Motto. Unser Spielplan bildet 400 Jahre Operngeschichte ab, von den Anfängen bis heute, von Claudio Monteverdi bis Hans Werner Henze, der gerade dabei ist, eine Oper für uns zu komponieren.
Die von uns gewählten Stücke stehen in einem Bezug zur Stadt, im Sinne einer Dresdner Dramaturgie. Konkret auf diese Spielzeit bezogen heißt das: Wir eröffnen mit „Daphne“ von Richard Strauss, ein Werk, das 1938 an der Semperoper uraufgeführt wurde. Weiter geht es mit „Gisela!“, der neuen Oper von Hans Werner Henze, um Dresden als Uraufführungsort auch in unserer heutigen Zeit zu etablieren. Dvořáks „Rusalka“ wiederum schlägt den Bogen zu unseren Nachbarn, die nächstgelegene Hauptstadt ist ja nicht Berlin, sondern Prag. Monteverdis „L’incoronazione di Poppea“ und Hasses Intermezzo „Il tutore“ huldigen der Barockstadt Dresden.
Und Kurt Weills Broadwayoper „Street Scene“ schlägt den Bogen in ein weiters Kapitel der Dresdner Operngeschichte: Weills allererste Oper „Der Protagonist“ wurde 1926 in Dresden uraufgeführt, knapp zehn Jahre später emigrierte der Komponist in die USA; auch dieses Kapitel wollen wir aufarbeiten.
Dies sind die Opernpremieren auf der großen Bühne, hinzu kommen natürlich Ballettpremieren, Premieren in unserer zweiten Spielstätte, der Jungen Szene, konzertante Aufführungen, Sinfoniekonzerte, Liederabende sowie zahlreiche Repertoirevorstellungen. So ergibt sich Traditionelles und Modernes, ein Angebot, in dem jeder etwas finden kann, das seinem Geschmack entspricht.
Vorher arbeiteten Sie am Theater an der Wien, jetzt in einem östlichen Bundesland. Ist Dresden, was Stil und Atmosphäre der täglichen Arbeit angeht, eine völlig andere Welt als Wien?
Ja und nein. Beides sind zwei traditionsbewusste Residenzstädte mit einer langen eigenen Musik- und Operngeschichte, was sich natürlich auch auf die tägliche Arbeit auswirkt. Wien ist jedoch eine viel grössere Stadt. In Wien gibt es drei grössere Opernhäuser, dazu eine Kammeroper und die Neue Oper. Dort ist die unmittelbare Konkurrenz natürlich grösser. In Wien herrschte ein anderer Ton bei der Arbeit.
Ein schärferer, gnadenloserer als in Dresden?
Gnadenloser würde ich nicht sagen, aber unterschwelliger. In Wien musste man sich erst einmal beweisen, man wurde getestet: läuft sie ins Messer oder läuft sie nicht ins Messer? Ich habe dort auch eine gewisse Boshaftigkeit kennengelernt. Aber damit lernt man umzugehen.
In Deutschland ist man aber auch nicht zimperlich. Sagt man sich die Dinge nicht ziemlich direkt auf den Kopf zu?
Man muss da Unterschiede machen. Eine Zeitlang habe ich in Berlin gearbeitet. Dort ging es dann wirklich wahnsinnig direkt zu und her. Aber hier in Dresden erlebe ich die Menschen als unglaublich höflich und hilfsbereit und sehr herzlich in der Art, wie sie einen empfangen.
In der Schweiz kritisieren gewisse Kreise die stark gestiegene Zuwanderung von Deutschen, denen vorgeworfen wird, sie ergatterten die attraktiven Jobs. Lässt man Sie hin und wieder spüren, dass Sie eine „Fremde“ sind?
Ich kenne das von Wien her, dort gibt es die ähnlichen Vorbehalte gegenüber den Deutschen. Aber hier in Dresden bekomme ich das nicht zu spüren. Natürlich merkt meine Umgebung, dass ich ein bisschen anders spreche, dass ich einen Akzent habe. Aber wenn ich erzähle, dass ich die letzten Jahre in Wien war und ursprünglich aus der Schweiz komme, dann sind die Reaktionen durchwegs positiv. Oft sagen die Leute, wau, jemand, der in Wien war, kommt zu uns. Oder: Endlich ist es mal umgekehrt, sonst wollen ja stets alle in die Schweiz.
Berlin, Biel-Solothurn, dann Wien – jetzt Dresden. Die letzte Station Ihrer Karriere wird die Semperoper wohl nicht sein?
Das weiss ich nicht. Ich bin in gewissen Dingen schon ein zielstrebiger Mensch, aber eine Karriere habe ich nie geplant. Ich bin jetzt in Dresden, lasse mich auf die Stadt, auf das Opernhaus ein. Eine grosse Herausforderung.
Und ein idealer Job. Aber gibt es auch Dinge, die vom Ideal abweichen?
Die grosse Bürokratie in Deutschland. Das ist man sich von der Schweiz her nicht gewohnt. Für alles und jedes gibt es ein Formular, einen Paragraphen, ein Gesetz, eine Dienstanweisung. Es gibt hier auch ein viel stärkeres Hierarchiebewusstsein. Mit Höflichkeit oder Charme mag man weiterkommen, aber die Wege führen strenger über die Hierarchie als in der Schweiz.
Und die Ellbogen?
Die bekam ich in Wien stärker zu spüren. Aber um nochmals auf die Sprache bzw. den Ton zurückzukommen: Man sagt ja immer, die Sachsen seien gemütlich. Da bin ich als Bernerin hier vielleicht ganz gut aufgehoben. (lacht) Obwohl, als langsamer als die andern empfinde ich mich eigentlich nicht. Nach meinem Auftritt an der ersten Gala kamen auch entsprechende Reaktionen – etwa: Aha, das ist jetzt eine Schweizerin; dafür ist sie aber ganz schön auf Zack.
Stichwort: Semperoper
Die Semperoper, das Opernhaus der Sächsischen Staatsoper Dresden, hat eine bewegte Geschichte. 1838-1841 von Baumeister Gottfried Semper errichtet, der u.a. auch das Wiener Burgtheater und die ETH Zürich baute, fiel sie 1869 einem Brand zum Opfer. Das wieder errichtete Gebäude wurde 1945 während der alliierten Luftangriffe erneut zerstört und danach wieder aufgebaut. Beide Neubauten wurden im Sinne von Sempers Plänen ausgeführt. Die Semperoper gehört heute in die Kategorie der grössten Opernhäuser Deutschlands. Sie beschäftigt rund 800 Mitarbeitende.