Rückblickend gesehen, hatte der amerikanische Kongress im Jahre 1970 die Chance eines möglicherweise revolutionären Entscheids über die Zukunft der Arbeit. Er stimmte ab über eine Gesetzesvorlage, die ein jährliches Grundeinkommen für Familien der Working Poor vorsah. Präsident Nixon befürwortete das Projekt, das unter dem Namen „Family Assistance Program“ (FAP) kurzzeitig bekannt wurde. Viele Demokraten lehnten die Vorlage ab, weil sie aus der Nixon-Administration stammte. Das Repräsentantenhaus nahm sie mit satter Mehrheit an (248 zu 155). Der Senat liess sie versanden. Die Vorlage hätte zu einem wegweisenden sozialen Experiment für das 21. Jahrhundert werden können: zum Abschied von der Idee der Vollbeschäftigung.
Ein wegweisendes Experiment
Der Historiker James Livingston beginnt sein gerade erschienenes kleines Buch – in der Tat ein fulminantes Pamphlet gegen die Idee der Vollbeschäftigung – mit diesem Beispiel. [1] Das FAP basierte auf einer empirische Studie, die vom Office of Economic Opportunity – einer Behörde zur Armutsbekämpfung [2] – in Auftrag gegeben worden war: das sogenannte New-Jersey-Experiment. Über eine dreijährige Zeitspanne hinweg (beginnend 1968) verglich man ein Sample von Familien der Working Poor aus „verfallenden urbanen Gebieten“. Man teilte sie, wie bei solchen Experimenten üblich, in eine Versuchsgruppe an der Armutsgrenze, die finanziellen Zuschuss erhielt (Verum-Gruppe), und eine Gruppe, die ohne Zuschuss lebte (Kontroll-Gruppe). Die primäre Frage war: Hat der Zuschuss die Wirkung, dass die Familien nun weniger arbeiten würden? Ändert sich ihre Arbeitshaltung dadurch, dass sie etwas für nichts erhielten, von Grund auf? Würden sie zu Bummelanten und Faulpelzen? Das Resultat überraschte alle: Es gibt keine Evidenz dafür, dass jene, die Unterstützungsgelder bezogen haben, sich weniger nach Arbeit umtun. Das Gegenteil ist eher der Fall. Die Working Poor wollten arbeiten, auch und gerade wenn sie Unterstützung bekamen. Daraus bezog die Nixon-Administration mit dem Family Assistance Program ihren empirischen Sukkurs. Er überzeugte den Kongress nicht.
Postindustrielle Arbeit
Der Hintergrund dieser Experimente (es gab weitere in der Folge) gibt uns einigen Aufschluss über die rezente Geschichte der Arbeit. Schon in den 1960er Jahren sah man das Ende der Arbeit im herkömmlichen Sinn kommen. Hannah Arendt hatte diese Vision vor Augen, als sie ihr grosses Buch „Vita activa“ schrieb. Daniel Bell schuf den Begriff der „postindustriellen Gesellschaft“. Automatisierung und die Verdrängung des Menschen aus dem Arbeitsprozess waren ein öffentliches Thema. Die von Präsident Johnson berufene Kommission für Technologie, Automatisierung und wirtschaftlichen Fortschritt erklärte 1966 die Arbeitslosigkeit zum Kernproblem der Zeit. Und einen Lösungsansatz sah man schon damals darin, was die Kommission „Einkommensgarantie“ („income maintenance“) nannte. Heute streitet man darüber unter dem Slogan „bedingungsloses Grundeinkommen“. Die Schweizer Stimmbürgerinnen und -bürger haben es 2016 abgelehnt. Sie hätten damit, wie der amerikanische Kongress 1970, vielleicht einen historischen Markstein setzen können. 2017 startet Finnland mit dem Test eines Grundeinkommens.
Arbeiten, um über die Runden zu kommen?
Die Idee ist also nicht vom Tisch. Sie wird uns in Zukunft umso mehr beschäftigen, als die Aussichten auf eine Vollbeschäftigung schwinden, trotz des allgegenwärtigen Rufs „Arbeitsplätze schaffen“. In den USA sind immer mehr Haushalte von staatlichen Transferzahlungen abhängig, das heisst von Geld, das nicht aus der Erwerbsarbeit stammt. Obwohl man vom Statistikamt der EU hört, dass die Arbeitslosenquote 2016 im Schnitt unverändert geblieben ist (ca. 10%), sollte man den generellen Trend nicht aus den Augen verlieren: Immer mehr Leute werden vom Arbeitsmarkt zu einer Art von blosser Subsistenz gezwungen, die womöglich gerade durch ein Grundeinkommen etwas gelindert werden könnte. Unabsichtlich zynisch mutet daher ein Kommentar in der NZZ an: „Es ist eher selten, dass für Menschen der Beruf gleichsam Hobby ist und totale Lebenserfüllung bringt. Die grosse Mehrheit arbeitet nicht nur zum Zeitvertreib, sondern um die Familie über die Runden zu bringen und anderen nicht zur Last zu fallen.“ [3]
Kaputter Arbeitsmarkt
Das mag auf weite Bereiche des heutigen Arbeitsmarktes durchaus zutreffen, aber wenn man den Sinn der Arbeit derart auf blosse Subsistenz einkocht – Sich-über-die-Runden-bringen – , dann hat man vor einer der grössten Herausforderungen der Zeit schlicht geistig kapituliert. Gibt es wirklich nurmehr diesen biederen Minimalzweck der Arbeit? Auf diese Weise segnet man ja genau die Kaputtheit des Kapitalismus ab. Wie der Wirtschaftskolumnist Eduardo Porter in der New York Times schreibt: „Der Arbeitsmarkt – diese kritischste Institution kapitalistischer Gesellschaften, das wichtigste Instrument, um den Wohlstand einer Nation unter den Bürgern zu verteilen – funktioniert nicht richtig. Das wirft eine fundamentale Frage auf: Wenn der Arbeitsmarkt hart arbeitende Menschen nicht vor der Armut bewahrt und den Wohlstand nicht breiter verteilt, wie sonst soll das gehen? Ist die öffentliche Hilfe unsere Zukunft?“ [4]
Fuck work!
James Livingston bejaht die Frage emphatisch. Seine deftige Devise lautet: Fuck work! Er schreibt: „Der Arbeitsmarkt kann weder genügend Arbeit noch genügend Einkommen der grossen Mehrheit jener liefern, die gegenwärtig Arbeit suchen, und der Überfluss der Konsumgüter nimmt stetig zu. Wir haben deshalb eine sehr begrenzte Wahl. Entweder weiten wir die Transferzahlungen aus (...), um den Familien zu helfen, über die Runden zu kommen und Güter zu konsumieren; oder wir schauen dabei zu, wie die amerikanische Gesellschaft sich in eine hässliche Oligarchie verwandelt.“ Tatsächlich ist „das Ende des Kapitalismus, wie wir ihn kannten, (...) schon über uns hereingebrochen. Die Leute, die vom Organisations- und Verteilungsmodus der Produktion profitieren, sind zusammengeschrumpft zu einer winzigen, gehätschelten Minderheit, zum Einen Prozent, wie wir heute sagen. Wir brauchen diese Leute nicht, und sie wissen es. Deshalb suchen sie über ihre Hofschranzen und Mietlinge ihre Privilegien mit allen möglichen legislativen Mitteln zu schützen.“
Los vom Lohn?
Man mag das für ziemlich dick aufgetragen halten, aber dennoch: Der Sinn der Arbeit ist zu wichtig, um ihn den Ökonomen und den Götzen des Marktes zu überlassen. Wir müssen ihn neu definieren, weiter, philosophischer, ketzerischer, wie das schon Luther tat. Für ihn war Arbeit Befreiung aus Knechtschaft und Abhängigkeit. Das protestantische Ethos bedeutete vor allem auch dies: Arbeit als Insubordination gegenüber den Besitzenden, Mächtigen, Privilegierten, welche gerade die von der Arbeit unabhängige Existenz als die eigentlich menschenwürdige definierten. Von diesem Ethos zehrt die ganze Neuzeit bis dato. Die Frage ist, ob es für die heutige wirtschaftliche Realität noch taugt. Luther gab dem Menschen seine Würde durch Arbeit. Heute, da uns die Arbeit immer mehr in die undurchschaubare und für viele auch sinnleere Lohnabhängigkeit des globalen Marktes verwickelt, nimmt eine neue „Befreiung“ Gestalt an, nämlich jene von der Lohnabhängigkeit.
Arbeitslosigkeit = Sinnlosigkeit der Arbeit
Gottfried Benn schrieb „Dummsein und Arbeit haben, das ist Glück“. Heute sind viele Menschen unglücklich, sie sind nicht dumm und sie haben eine Arbeit. Was ist mit ihnen geschehen? Tatsächlich verrät die Krise der Arbeit eine Sinnkrise. Wenn mich die Maschinen in immer mehr Tätigkeiten, auch geistigen, ersetzen; wenn wir erfahren, dass eine Führungskraft von McDonald’s dreihundertmal mehr verdient als ein Angestellter im Öldunst von Chickennuggets; und vor allem, wenn man uns diese Proportionen nicht mehr durch Qualitätsunterschiede der Arbeit begründen kann; dann verliert die Arbeit den Sinn, den sie einst hatte: uns nämlich auf eine gerechte und einsichtige Art ein Einkommen zu sichern. Dann wird der Arbeitsmarkt schlicht irrational, ja, pervers.
Nicht Geld, sondern einen Grund haben zum Leben
Warum will man arbeiten? Livingston stellte die Frage fast zweihundert Menschen aus allen Sparten: Gefängniswärtern, Anwälten, Ärzten, Schauspielern, Taxifahrern, Sportlern, Bauarbeitern, Türstehern, Leichenbestattern, Prostituierten, um nur einige zu nennen. Die meisten Antworten lassen sich auf den gemeinsamen Nenner bringen: Wir arbeiten nicht, um Geld zum Leben zu haben; wir arbeiten, um einen Grund zum Leben zu haben. Einen Grund zum Leben kann man nicht „monetarisieren“. Vielleicht fühlen deshalb viele Leute, dass ihnen, auch wenn sie arbeiten und Geld verdienen, trotzdem etwas fehlt. Arbeitslosigkeit wäre als Sinnlosigkeit der Arbeit zu begreifen.
Arbeit als Umgang mit dem Ungewissen
Die Natur der Arbeit selbst hat sich geändert. Sie ist mit einem Ungewissheitsfaktor behaftet. Heute muss man ihn akzeptieren, morgen muss man mit ihm umgehen können. Das Problem, das sich also sehr dringend stellt, ist jenes der Ambiguität, des Managements von Ungewissheiten und Unvorhergesehenem. Proportional zu dem Mass, in dem wir Routinen an Algorithmen abtreten, spielt die Fähigkeit des Unroutiniertseins eine Schlüsselrolle: das Improvisieren. Der Sozialpsychologe Miguel Escotet plädiert für die „Erziehung zur Ungewissheit“, weil es für viele Studenten fast „unmöglich ist zu wissen, was geschieht, wenn sie in den Arbeitsmarkt eintreten“. Und wie der Harvard-Ökonom Lawrence Katz es kürzlich formulierte, würden Erfolg und Misserfolg in der Zukunft von einer Frage abhängen: „Wie gut gehst du mit unstrukturierten Problemen um, und wie gut bewältigst du neue Situationen?“ Jobs, die algorithmisiert werden, kommen nicht mehr zurück.
Vögel, die ihre Flügel verstümmeln
Arbeit ist das dominante Lebensmuster, der Wertmassstab menschlichen Tuns. Sie definiert unser Sein. Wer seine Hände lange Zeit in einer Backstube gebraucht hat und nun plötzlich computergesteuerte Backabläufe überwachen soll, wechselt nicht einfach seinen Job, sondern erlebt einen biographischen Riss. Automatisierung und Outsourcing sind für viele Menschen heute existenzielle Bedrohungen. Das Problem, das akut wird, lautet deshalb: Technisieren wir zunehmend Tätigkeiten, graben wir uns damit auch die Basis unserer Selbstfindung, unserer Identität, ab. Wenn wir nach dem protestantischen Ethos Luthers zur Arbeit geboren sind wie der Vogel zum Fliegen, dann scheinen wir uns fast zwangsläufig in einen bizarr anmutenden Widerspruch zu verwickeln: als ob wir Vögel wären, die absichtlich ihre Flügel verstümmeln.
Arbeit ist dann gut, wenn sie uns Möglichkeiten des Lebens eröffnet, und sie ist dann schlecht, wenn sie uns an die Notwendigkeiten des Lebens kettet. So gesehen, muss man Arbeit immer wieder neu erfinden. Und solange es Menschen gibt, die denken können, gibt es nie keine Alternative.
[1] James Livingston: No more Work. Why Full Employment is a Bad Idea, Chapel Hill, 2016.
[2] Nota bene unter der Leitung eines gewissen Donald Rumsfeld und eines gewissen Dick Cheney.
[3] http://www.nzz.ch/meinung/kommentare/bedingungsloses-grundeinkommen-ohne-arbeit-laeuft-gar-nichts-ld.6162#kommentare
[4] http://www.nytimes.com/2015/04/22/business/big-mac-test-shows-job-market-is-not-working-to-distribute-wealth.html?_r=0