Ein Gottesreich – «Ram Rajya» – soll nächste Woche mit der Eröffnung eines Tempels in Nordindien beginnen. Premierminister Modi wird als Zeremonienmeister walten – wenn nicht als Rams Avatar.
Dieser Artikel müsste eigentlich im grammatischen Tempus der Vorvergangenheit geschrieben werden. Denn in diesen Tagen wird das Zukunftsszenario einer Vergangenheit Indiens entworfen, die in einer Woche eingeläutet werden soll. Das Datum des 22. Januar, so ertönt es seit Wochen von allen Dächern, wird eine historische Wende darstellen, vergleichbar nur mit der Unabhängigkeitserklärung von 1947.
An diesem nächsten Montag wird in der Stadt Ayodhya, mitten in der nordindischen Gangesebene, ein Tempel für Gott Ram eingeweiht. Er liegt genau auf der Landparzelle, wo dieser vor über 800’000 Jahren als Königssohn geboren wurde. (Ausgerechnet das Oberste Gericht konnte sogar ein präzises Jahresdatum finden.) Das Sanskrit-Epos des «Ramayana» – mit dem «Mahabharata» so etwas wie die Gründungsmythografie der Hindu-Kultur – beschreibt Ram als archetypisches Vorbild von Klugheit und Gerechtigkeit (aber auch als patriarchalischen Herrscher, der seine Gemahlin Sita verstösst und in den Tod treibt).
Statuen in die Moschee geschmuggelt
Wenn nur nicht die Babar-Moschee auf dieser Parzelle gesessen hätte, fast 500 Jahre lang. Ihr Bau war zweifellos ein Sakrileg gewesen. Ayodhya war schon damals eine Stadt voller Tempel – eine Einladung für die Invasoren, über deren Zinnen die Fahne des Islam flattern zu lassen. Die englischen Kolonialherren als imperiale Erben der Moguln hatten den Status-quo bewahrt und die Moschee geschlossen.
Doch bereits im 19. Jahrhundert gab es Versuche, Ram-Statuen in die Moschee zu schmuggeln. 1949 manifestierte sich eine solche im Herzen der Moschee, und zog zahlreiche Pilger an, worauf die Gebetshalle mitsamt der Statue vom jungen indischen Staat wieder verriegelt wurde. Er konnte sich nach der Schlächterei zwischen Hindu- und Moslem-Flüchtlingen im Zug der Staatsgründung und -trennung keinen neuen Brandherd leisten.
1986 liess Premierminister Rajiiv Gandhi das Schloss öffnen und Gläubige durften dort fortan «Puja» zelebrieren. Es war ein krasser Schacher gewesen: Gandhi hatte zuvor mit der Absicht des Stimmenfangs die konservativen Mullahs favorisiert und wollte sich nun nicht die Sympathien der Hindu-Wählerschaft verscherzen. Das Gegenteil trat ein: Hindu-Politiker sahen sich nun legitimiert, ihrerseits die Fahne der Religion zu entrollen, mit der Befreiung der «Babri Masjid» als Emblem.
Die Moschee gestürmt
1990 organisierte der BJP-Politiker Advani einen Pilgerzug durch Indien, der in Ayodhya enden sollte. Das Ziel: Millionen von Hindus zu bewegen, einen symbolischen Lehmziegel nach Ayodhya zu tragen, als Baustein für einen Ram-Tempel. Doch dort stand immer noch die Moschee, geschützt durch ein neues Gesetz, das alle 1991 existierenden religiösen Denkmäler für immer an ihrem Standort stehen lassen sollte.
Am 6. Dezember 1992 versammelten sich zahlreiche Hindus in Ayodhya, um den dritten Jahrestag des Einzugs von Advanis «Ram-Kampfwagens» in die Stadt zu feiern. Er hatte gar nicht stattgefunden, da die Prozession Monate zuvor von der Regierung verboten worden war. Dies befeuerte jedoch die Stimmung der Pilger noch mehr, namentlich der zahlreichen Freiwilligen, die unter ihren Winter-Umhängen Spitzhacken versteckt hatten.
Gegen Mittag stürmten sie die Moschee, nachdem das Wachbataillon plötzlich abgezogen wurde und Versuche fehlgeschlagen waren, in Delhi den Kongress-Premierminister Rao aus seinem Mittagsschlaf zu reissen. Noch vor Sonnenuntergang erhob sich über dem zentralen Dom der Moschee statt der Messingspitze des Halbmonds ein oranger Wimpel.
Zäsur in der jungen Geschichte der Republik
Wir Journalisten hatten dem Sturmlauf beklemmt und sprachlos zugeschaut. Wir waren von Hindu-«Freiwilligen» in «Schutzhaft» genommen worden und konnten dem wüsten Treiben hinter den vergitterten Fenstern eines alten Palastes zuschauen. Wir wussten sofort, dass sich eine Zäsur in die noch junge Geschichte der Republik eingegraben hatte. In grossen Teilen Indiens kam es zu blutigen Zusammenstössen mit mehreren tausend Toten, die erst im März 1993 – nach einer Serie von Bombenanschlägen im damaligen Bombay – abebbten.
Dieses düstere Kapitel soll nun am 22. Januar durch eine triumphalistische Feier überhöht werden: Die Einweihung eines riesigen Tempels, Geburts- und erneut Wohnort von Gott Ram, nicht ohne einen Seitenblick auf den Sieg über den «tausendjährigen» muslimischen Erzfeind. Ermöglicht wurde der Neubau nicht durch die Ziegel, die durch Marmor ersetzt wurden. Es war das Oberste Gericht des Landes, das in einem bizarren Urteil im November 2019 erklärt hatte, die Schleifung der Moschee sei zwar ein Verbrechen gewesen; die (erzwungene) Grossmut der muslimischen Bodenbesitzer und der Volksglaube an die historische Wahrheit von Rams Geburt habe diese Bedenken jedoch vom Tisch gefegt.
Schon zuvor hatte Premierminister Narendra Modi, nur Monate nach seinem zweiten triumphalen Wahlsieg, begonnen, Vorkehrungen für einen raschen Baubeginn zu treffen, als wüsste er bereits, wie das Richterkollegium urteilen würde. Und jetzt steht er bereit, um seiner Rolle als Hohepriester zu walten, wie er sie bereits bei der Grundsteinlegung glanzvoll gespielt hatte: Er ist es, der «Ram Lalla» – den kindlichen Ram – in seinem neuen Heim inthronisieren wird.
In wenigen Monaten finden Parlamentswahlen statt
Modi kann für sich beanspruchen, beim Ram-Bannerzug von Advani eine logistische Schlüsselrolle gespielt zu haben. Dazu gehörte nicht nur die Organisation von Unterkünften und Verkehrsrouten, sondern wohl auch die Mobilisierung lokaler Kampfgruppen, die dafür sorgten, dass dem Pilgerzug eine Blutspur von anti-muslimischen Ausschreitungen folgte. Modi war damals ein «Vollzeit-Freiwilliger» des Hindu Kader- und Kampfverbands RSS. Der Erfolg dieser Kampagne ebnete ihm den Weg zu einer nationalen Rolle.
Die organisatorischen Fähigkeiten, die Modi damals an den Tag legte, hat er inzwischen vollends zur Meisterschaft entwickelt. Gekoppelt mit strategischem Kalkül hat er daraus eine schier unschlagbare Waffe geschmiedet. Allein die Wahl des Zeitpunkts der Zeremonie könnte idealer nicht sein, denn in wenigen Monaten stehen Parlamentswahlen an. Die ersten Trümpfe hat er bereits gespielt.
In einer vordergründig noblen Geste hat er auch die Spitzen der Oppositionsparteien eingeladen – und ihnen eine Falle gestellt: Gehen sie nach Ayodhya, werden sie Teil der Kulisse der ihm applaudierenden Zuschauer; bleiben sie fern, stellen sie sich als Verächter von Gott Ram bloss. Die Kongressspitze hat sich nach langem Zaudern zu einer Absage durchgerungen – und schon ergiesst sich der Hohn der Millionen-Armee von Social-Media-Nutzern über die Gandhi-Familie.
In in eine moderne kleine Metropole verwandelt
Modi macht ganze Arbeit. Er hat die Stadt Ayodhya seit seinem ersten Wahlsieg 2014 von einer staubigen Vorstadt mit zerfallenden Tempeln und Palastruinen in eine moderne kleine Metropole umgewandelt. Vier breite Strassen führen nun zum Tempelbezirk, der Saryu-Fluss, früher eine Kloake, ladet zu den Treppenstufen für die rituelle Waschung ein und einer Son&Lumière-Schau in der Nacht. Vor einigen Wochen weihte er einen internationalen Flughafen ein, Tage darauf den Bahnhof, der täglich vierzig Pilgerzüge abfertigen kann. Das Bahnhofgebäude ist gleichzeitig eine Shopping Mall. Kommerz und Frömmigkeit bilden ein unschlagbares Gespann: Religion muss konsumierbar sein, dann kann man damit Wahlen gewinnen.
Die Vorbereitungen begnügen sich nicht mit Ayodhya. Im ganzen Land werden Tempelareale geputzt und bemalt, aber auch Bahnhöfe, Schulen, sogar Tankstellen. In den Schulklassen gibt es Wettbewerbe, welches Kind den schönsten Tempel zeichnen, das schönste Lobgedicht auf Ram schreiben kann; die Tausenden von Papierdrachen, die in dieser Jahreszeit über den Städten fliegen, sind wie immer bemalt – und tragen oft das Konterfei von Modi.
Strategisch geplant ist auch der Einbezug des Auslands. In 55 Ländern mit einer Hindu-Minderheit haben sich Komitees gebildet, die in den kommenden Tagen Gottesdienste organisieren. Der Welt-Hindu-Rat VHP, eine der zahllosen RSS-Verbände, sorgt dafür, dass nicht nur in Indien, sondern auch im Ausland Grossleinwände eingerichtet werden, die den Einweihungsakt live übertragen; insgesamt sollen es über eine halbe Million Bildschirme sein.
Ein starker Staat, monarchisch geführt
Bei so viel Inbrunst darf der Hohepriester nicht zurückstehen. Am Freitag begann der Premierminister ein elftägiges Retreat, mit einem Tagesprogramm, das Meditation und religiöse Rituale einschliesst. Das mediale Marketing mit den täglichen Foto-Ops des Politikers schliesst nun auch Dinge ein wie ein morgendliches Puja, oder das Füttern der Brahmini-Kühe, die plötzlich im Garten der Residenz aufgetaucht sind.
In all diesen Vorbereitungen zeichnet sich ab, was für eine Vergangenheit sich die Hindutva-Vordenker in Zukunft für Indien vorstellen: eine mit Ritualen durchtränkte Gesellschaft, eine Gottheit an Stelle der Vielzahl religiöser Figuren (und Vorstellungen!), ein starker Staat, monarchisch geführt, mit bestenfalls lokaler Demokratie, die sonst nur noch für das Marketing gebraucht wird.
Der selbstherrliche Führungsstil Modis und die institutionelle Aushöhlung demokratischer Checks and Balances sind gekoppelt – machen wir uns nichts vor! – mit einer breiten Akzeptanz, wenn nicht Begeisterung, für den Alleinherrscher. Modi erreicht dies, indem er die Identifikation des starken Staates mit seiner Person verbindet mit tiefsitzenden religiösen Vorstellungen. Das indische Äquivalent des «L’État c’est moi» ist (wie es ein Verehrer kürzlich nannte): «Modi is an Avatar of Ram».
Diesen Slogan haben die Modi-Medien bisher allerdings nicht breitgetreten. Er könnte nämlich seine Achillesferse werden. Modi als Personifizierung des «Ram Rajya» – des Reichs Gottes – provoziert nämlich die einzige Kritik, gegen die Modi bisher kein Rezept fand, weil sie aus dem Herz der Hindu-Tradition kommt. Eine Reihe religiöser Würdenträger sehen in der Politisierung der Religion einen Verrat an deren innerem Kern. Sie bleiben der Ayodhya-Feier fern, weil sie ein Sakrileg gegen Gott Ram wittern, dem Modi buchstäblich die Schau stiehlt.