Am Anfang des vergangenen Jahrhunderts gab es noch nicht das, was man heute „Design“ nennt. Die Formung von Produkten ergab sich entweder aus der Tradition oder aus der technischen Notwendigkeit. Die Dominanz der technischen Problemlösungen bei der Formgebung ganz neuartiger Produkte war auch eine Emanzipation von traditionellen Verzierungen und Schnörkeln. „Sachlichkeit“ wurde zum Leitthema vom „Bauhaus“. Und die Formen des Bauhauses erfreuen sich bis heute grösster Beliebtheit.
Das Bauhaus hat eine ganze Philosophie entwickelt, in der es um die Schönheit geht, die aus der Schlichtheit kommt. Wie um dieses Prinzip in der Ingenieurspraxis als richtig zu erweisen, entstand 1923 das erste Motorrad von BMW, das aussieht, als wäre es im Bauhaus entworfen worden. Aber die Konstruktion stammt von einem Ingenieur, der lediglich auf elegante Weise ein fundamentales Problem lösen wollte.
Diese Problem bestand in der Verbindung eines vergleichsweise starken Motors mit einem Rahmen, an dem zwei Räder montiert wurden. Ein Schema dafür gab es schon: das Fahrrad. Das Fahrrad war damals noch relativ neuartig, denn es war erst seit 1890 im allgemeinen Gebrauch. Aber der Fahrradrahmen erwies sich immer wieder als zu schwach für einen Motor.
Der Ingenieur Max Fiz konstruierte daher einen neuen Rohrrahmen von weitaus höherer Stabilität. Das Besondere daran bestand zudem darin, dass der Lenkkopf, also der Teil, durch den die Gabel des Lenkers geführt wird, im Rahmen integriert war. Der Rahmen war also „wie aus einem Guss“ und sah in seiner Schlichtheit einfach schön aus. Die Anordnung des Lenkers, des Tanks, des Sattels, der Lampe, des Tachos und des Auspuffs erfolgte stilistisch so gekonnt, dass eine der ersten Motorrad-Ikonen entstand.
Allein in Deutschland haben zu Beginn der Motorradära Hunderte von Tüftlern, Bastlern und Fabrikanten Modelle entwickelt. Nur wenige kamen über erste Prototypen hinaus. In Frankreich wird die Zahl der Anbieter während der 1920er Jahre auf knapp 1.500 geschätzt. Und in England entwickelte sich eine Motorradindustrie, deren Vielfalt Deutschland bei weitem übertraf. Dazu kam Italien – und natürlich Amerika.
In der Bandbreite der technischen Entwicklungen und Formen ist es nicht leicht, einen gemeinsamen Nenner zu finden. Denn es ist keineswegs so, dass die Formen allein den technischen Entwicklungen folgten. Das Zusammentreffen des frühen BMW-Modells mit der Bauhaus-Ästhetik ist kein allgemeines Formprinzip für Motorräder. Vielmehr haben die meisten Marken neben der Technik schon recht früh eine eigene Formensprache entwickelt, also ein eigenes Formprofil, um über die Technik hinaus erkennbar zu sein.
Es ist faszinierend und aufschlussreich, sich nicht nur die Modelle anzuschauen, sondern auch ihre Darstellung in der Werbung – insbesondere auf Plakaten. Da werden Träume zum Ausdruck gebracht. Auf den englischen Plakaten der Zeit vor und nach dem Zweiten Weltkrieg werden schöne Landschaften, Strände, Yachten oder auch gesellschaftliche Anlässe wie Pferderennen dargestellt. Sie bilden den Rahmen, in dem das jeweilige Motorrad erscheint. Gediegene Fahrer oder glückliche Paare, manchmal auch in Gruppen wie zur Verabredung für ein Picknick, laden zur Identifikation ein.
In der Blütezeit dieser Motorräder und ihrer Plakatwerbung trug man noch kaum Helme und es gab noch keine spezielle Motorradbekleidung. Damit war eine ganz andere Bandbreite der Darstellung als heute möglich. Das Motorrad war selbstverständlicher als heute ein Element des Alltags. Man musste sich, um es zu benutzen, nicht erst umziehen. Dieser Umstand verleiht den Bildern einen heute längst verlorenen Charme.
Man sollte sich aber davor hüten, die damaligen Motorräder und ihre Darstellung in der Werbung rein nostalgisch zu sehen. Vielmehr ist die Frage interessant, mit welchen Augen die damaligen Zeitgenossen diese Maschinen betrachtet haben. Was für uns heute vielleicht etwas niedlich erscheint, war damals der technische Fortschritt, also entsprechend neu. Fortschritt mit allen Konsequenzen: Dazu gehört auch das Bedrohliche. Formen, die wir heute als eher gemütlich betrachten, drückten damals vielleicht etwas ganz anderes aus. Wir können die Bedeutung jeweils nur aus den Kontexten erschliessen, in denen die Motorräder mit ihren Formen erschienen.
Dabei fällt auf, dass neben der Betonung des gesteigerten Alltagskomforts für einen grossen Käuferkreis die aggressive Seite des Motorrads herausgestellt wurde. In Amerika kam im Jahre 1953 der Rockerfilm „The Wild One“ mit Marlon Brando in die Kinos. In diesem Film sind die Motorräder die Vehikel von Rockern, die der gesitteten Gesellschaft die Stirn bieten. Und diese Motorräder haben genau jene Formen, die heute als „klassisch“ angesehen werden und nostalgische Gefühle hervorrufen.
Das Motorrad als Outlaw-Maschine hat in zahlreichen Filmen eine grosse Rolle gespielt. Der Gedanke, dass mit dem Motorrad Grenzen überschritten werden, wurde auch in dem Sinne variiert, dass die Grenzüberschreitung einem positiven Zweck dient. So heisst einer der erfolgreichsten und beeindruckendsten Filme "The Great Escape" (1962), auf Deutsch: "Gesprengte Ketten", und hat damals den Ruhm von Steve McQueen begründet. Als flüchtender englischer Kriegsgefangener legt er mit seinem Motorrad, einer Triumph 650 Trophy, eine halsbrecherische Fahrt zurück, die auch heute noch atemberaubend ist.
Dass mit dem Motorrad ein regelrechter Angriff auf die Konventionen der bürgerlichen Gesellschaft vorgetragen werden kann, haben die Futuristen um Filippo Tommaso Marinetti bereits in den 20er Jahren gezeigt. Sie sahen im Heraufdämmern des mechanischen Zeitalters den Anbruch einer ganz neuen Kultur, die das kulturelle Erbe Europas auf den Müllhaufen der Weltgeschichte wirft und auch den Menschen ganz neu definiert. Diese Bewegung hat leider auch dem italienischen Faschismus Impulse gegeben.
Man sollte die Ambivalenz, die man beim Betrachten von Bildern früher Geschwindigkeitsrekorde und von Motorradrennen spürt, durchaus ernst nehmen. Das Motorrad als „künstliches Organ“, als Element der „Anthropotechnik“, wie es Bernt Spiegel treffend kennzeichnet und beschreibt, ist nicht harmlos. Indem es die Grenzen des Menschen erweitert, ist es immer auch grenzwertig. Dass alte Formen in uns nostalgische Reflexe auslösen, verdeckt diese Ambivalenz des „Fortschritts“.
Wann beginnen die neuen Formen?
Um mit den Modellen möglichst breite Käuferschichten zu erreichen, setzten die Anbieter immer wieder auf Formen. die ganz bewusst als Gegengewicht zu den antibürgerlichen Affekten gedacht waren, wie sie auch in „Easy Rider“ von 1969 zum Ausdruck kamen.
Wecken die jetzt gängigen Modelle ähnliche Emotionen wie die Ikonen der Vergangenheit? Zunächst stellt sich die Frage, wo und wie man überhaupt eine Trennlinie ziehen kann. Wieder war es das Unternehmen BMW Motorrad, das eine Schwelle überschritten hat. 1976 begann BMW mit der Produktion des ersten vollverkleideten Grossserien-Motorrads, der BMW R 100 RS. Seitdem hat es auf den ersten Blick den Anschein, als würden sich die modernen Motorräder mit ihren aerodynamischen Verkleidungen immer mehr ähneln. Und wo auf die Verkleidung weitgehend verzichtet wird, scheint die Technik übermässig aggressiv betont zu sein.
Es sei eine Spekulation riskiert, die allein dadurch gerechtfertigt ist, dass ästhetische Urteile immer einen starken subjektiven Einschlag haben: Moderne Motorradformen drücken Perfektion aus, aber gleichzeitig damit auch „die Kälte der Perfektion“. An den alten klassisch gewordenen Formen kann man sich wärmen, und sie können sogar jene begeistern und zum Mitfahren animieren, die sonst von Motorrädern nicht viel wissen wollen.
Schön hat das vor kurzem Walter Wille in einem Vergleich zwischen der Gold Wing von Honda, inzwischen ein Klassiker, und der K 1600 GTL von BMW, technisch vom Feinsten, beschrieben (FAS, 12. August 2012). Manche Frauen, so schrieb er, die sich normalerweise überhaupt nicht für Motorräder begeistern, würden doch zu gerne einmal eine Fahrt auf der Goldwing mitmachen.
Deswegen haben Marken wie Ducati, Triumph, Moto Guzzi, Honda, Suzuki und andere stets Modelle im Programm, die auf den alten Formen basieren. Und der grosse Erfolg von Harley Davidson liegt darin, dass die herkömmlichen Formen immer wieder variiert werden, wobei auch die Technik weiterentwickelt wird.
Formenvielfalt und Ähnlichkeit
Waren die Motorräder früher also schöner? Das ist eine Frage des Geschmacks, der Kultur und des Zeitgeistes. Es kann durchaus sein, dass heutige Formen, die uns jetzt noch nicht so gut gefallen, später einmal als besonders schön angesehen werden.
Heutzutage arbeiten Designer gemeinsam mit den Technikern an den Formen. Technische Anforderungen und Notwendigkeiten werden mit ästhetischen Ideen verbunden - und umgekehrt. Weltweit beobachten sich die Verantwortlichen für die Marken, so dass sich gewollt oder ungewollt starke Ähnlichkeiten ergeben, zumal die Modelle global miteinander im Wettbewerb stehen. Das sehen wir auch bei anderen Produkten wie etwa Autos oder Kameras.
Klare Unterschiede ergeben sich dadurch, dass heute im Gegensatz zu früher ganz unterschiedliche Modelle für ganz bestimmte Zwecke entwickelt werden. Die Vielfalt ist ungeheuer: Off-Road und Tourer, Fun und Rennsport, Chopper und Citybike - um nur ein paar Varianten herauszugreifen. Wie es die Hersteller wiederum schaffen, bei aller Formenvielfalt ihrer unterschiedlichen Modelle gleichwohl die formale Handschrift ihrer Marke zum Ausdruck zu bringen, ist schon erstaunlich.
Aber aufgrund der weltweiten Trends unterscheiden sich die Modelle innerhalb derselben Kategorie nur wenig von einander. Da unsere Zeit aber Kontraste liebt, sieht man auf der einen Seite opulente Touringmaschinen, auf der anderen Seite die strengen Formen der „Naked Bikes“. Und selbstverständlich gibt es innerhalb dieser Bandbreite immer wieder Versuche, ein Design zu kreieren, das die Herzen höher schlagen lässt und das Zeug zum Klassischen hat. Dabei fällt aber auf, dass im Gegensatz zu früheren Zeiten weniger mit Formen experimentiert wird. Offenbar haben die Techniker und Designer gelernt, dass sich Extravagenz nur in den seltensten Fällen durchsetzt.
Und immer wieder gibt es Überraschungen. 1997 entwickelte BMW Motorrad einen Cruiser, dessen Form ins Auge stach. Das Motorrad erinnerte an frühere Formen, wirkte aber gleichzeitig modern. Kein Wunder, dass es einen Platz in dem James-Bond-Film, „Der Morgen stirbt nie“, fand. Der Verkaufserfolg in den ersten Jahren übertraf die Erwartungen, so dass man die Produktion steigerte. Unerwartet gab es aber einen Sättigungspunkt, der Verkauf ging zurück, und 2004 wurde dieses Modell aus dem Programm genommen.
Stattdessen hat BMW Motorrad mit der R 1200 GS das seit 2005 am häufigsten neu zugelassene Motorrad in Deutschland entwickelt und schlägt damit zumindest die Konkurrenz um Längen. Faszination kann offenbar auch ohne Schönheit auskommen.