Unter Erdogan soll dies anders werden. Der Ministerpräsident der Türkei während der letzten elf Jahre hat klar gemacht, wenn er nun vom Volk zum Präsidenten gewählt wird, gedenkt er zu herrschen und zu regieren. Wie er diesen Plan mit der geltenden Verfassung vereinbart, bleibt abzuwarten. Am einfachsten für ihn wäre es, wenn seine Partei in den auf 2015 vorgesehenen Parlamentswahlen eine dreiviertel Mehrheit erhielte. Was ihr erlauben würde, die Verfassung zu ändern.
Erdogans hochfliegende Pläne
Doch sogar wenn ihm dies nicht gelingt, gedenkt Erdogan als Präsident die Zukunft der Türkei von sich aus zu bestimmen. Er hat erklärt, er wolle das Land bis ins Jahr 2023 lenken. Dies wird das Jahr des hundert jährigen Jubiläums der Türkischen Republik sein, die Atatürk gründete.
Erdogan kann einen neuen Parteipräsidenten seiner Partei wählen lassen, der ihm gehorsam genug sein wird, um auf Grund der Mehrheitsposition der Partei einen zahmen Ministerpräsidenten zur Macht zu bringen, so dass der "vom Volk gewählte" Präsident ihm klarmachen kann, was zu geschehen habe.
Es gibt auch schon einen Gesetzesvorschlag von Seiten der Partei Erdogans, der AKP, nach dem zukünftig der Präsident die Vollmacht erhalten solle, das Parlament aufzulösen und die Minister zu ernennen und zu entlassen. Allerdings müsste das Verfassungsgericht noch darüber entscheiden, ob ein solches Gesetz mit der geltenden Verfassung vereinbar sei. Dies jedenfalls sind die Pläne und Eventualpläne, die über der gegenwärtigen Wahl schweben.
Zwei Gegenkandidaten
Es gibt zwei Gegenkandidaten gegen Erdogan. Die beiden grössten Oppositionsparteien, die Demokratische Volkspartei (einst die Partei Atatürks) und die hochnationalistische Türkische Nationale Partei, haben sich dazu durchgerungen, einen gemeinsamen Kandidaten aufzustellen. Er ist Ekmeleddin Ihsanoglu, ein freundlicher Diplomat, der viele Jahre lang als Generalsekretär der Islamischen Konferenzorganisation gewirkt hat. In dieser Organisation sind die islamischen Staaten zusammengeschlossen. Sie hat ihren Sitz in Jiddah, Saudi Arabien. Ihsanoglu ist den meisten Türken ein Unbekannter.
Er hatte auch wenig Gelegenheit, seine Person während der Wahlkampagne bekannt zu machen. Das staatliche türkische Fernsehen ist die Fernsehstation, welche - anders als die privaten Sender - bis in die hintersten Dörfer der Türkei hineinreicht. Sie bevorzugte Erdogan hemmungslos. Es gab zwei Tage im vergangenen Juli, an denen Erdogan 533 Minuten Fernsehzeit inne hatte, Ihsanoglu 3 Minuten, 24 Sekunden und der zweite Oppositionskandidat, Selahattin Demirtasch, 45 Sekunden.
Die Leiter des staatlichen Fernsehen rechtfertigen diese Ungleichheit damit, dass Erdogan, der amtierende Minsterpräsident, als solcher auf ihren Bildschirmen erscheine, nicht als Präsidentschaftskandidat. Obgleich der Ministerpräsident alle seine Auftritte auch dazu benützt, Wahlpropaganda für sich zu betreiben.
Der zweite Gegenkandidat, Demirtasch, ist ein junger Kurde und Vizepräsident der kurdischen Partei. Ihm neigen ausser den Kurden auch viele der jugendlichen Oppositionellen zu, die gegen den autoritären Regierungsstil des Ministerpräsidenten aufbegehren.
Die Fernsehauftritte sind keineswegs die einzige Ungleicheit. Die Gegenkandidaten mussten ihre Kampagnne selbst finanzieren. Jene von Erdogan ist unübersehbar reicher. Die staatlichen Gelder, die dem Ministerpräsidenten zur Verfügung stehen, tragen dazu bei. Doch die Gelder von reichen Opportunisten, die bereits riesige Staatsaufträge für sich selbst wittern, oder sie schon erhalten haben, sind vermutlich noch wichtiger. Die Gegenkandiaten sind der Ansicht, Erdogan hätte von seinem Amt als Ministerpräsident zurücktreten müssen, um sich in einer Wahl zu ausgeglichenen Bedingungen zu stellen.
Gigantische Umbauprojekte
Erdogan plant und verspricht grosse Unternehmen zum Umbau der Türkei, besonders Istanbuls, und er hat diesen Umbau bereits begonnen. Wolkenkratzer in geballten Massen für Geschäftshäuser, Luxushotels und Verkaufsgalerien, verbunden durch Autobahnen, sollen die historische Stadt "modernisieren". Gewaltige Infrastrukturprojekte kommen dazu wie die bereits im Bau befindliche Tunnelstrasse unter dem Bosporus, die bereits begonnene dritte Brücke über die Meerenge und der geplante Kanal parallel zum Bosporus, der diese Wasserstrasse für die Schifffahrt entlasten soll.
Die Baulöwen sind mit dem allen zufrieden. Sie rechnen damit, das grosse Geld zu machen. Eine Minderheit der umweltbewussten Jugend ist bitter dagegen. Sie hat 2013 versucht, sich gegen eines dieser Projekte aufzulehnen. Doch die Polizei wurde rücksichtslos gegen sie eingesetzt, und sie schlägt weiter sehr brutal zu, falls sie sich auf den Strassen wieder melden.
Wirtschaftliche Erfolge
Der grossen Masse der Anhänger Erdogans werden diese Projekte als Teil einer grossen Zukunft des Landes vorgestellt und nahe gebracht. Dies findet ein williges Gehör, weil in der Tat in dem vergangenen Jahrzehnt die Türkei unter Erdogan wirtschaftlich so gut voran kam, dass Millionen von Armen Arbeit fanden und in die untere Mittelklasse aufsteigen konnten. Es gab Wachstumsquoten bis zu 9 Prozent jährlich. Diese Erfolge der vergangenen Jahre bewirken nun, dass alle Pläne des Ministerpräsidenten hoffnungsfreudige Zustimmung finden.
Zurzeit allerdings ist die Wachstumsquote zurückgegangen auf gegen 4 Prozent, immer noch bedeutend besser als der europäische Durchschnitt. Die Inflation wächst. Die Exporte der Türkei nach Syrien und nach dem Irak sind gefährdet. Dies waren zwei der wichtigsten Exportländer. Auch Libyen war wichtig, und bringt nun kein Geld mehr.
Aussenpolitische Rückschläge
Nicht alle politischen Schritte Erdogans sind erfolgreich gewesen. Er hatte in seiner Aussenpolitik auf "Null Probleme mit den Nachbarstaaten" gesetzt. Doch heute bestehen schwere Probleme mit Syrien und gleich auch noch zunehmend mit der Million syrischer Flüchtlinge in der Südtürkei. Von dem Islamischen Staat, der sich an der türkischen Grenze mit Irak und mit Syrien ausbreitet, gar nicht zu reden.
Mit Ägypten sind die Beziehungen angespannt, weil Erdogan und sein Aussenminister auf Morsi gesetzt hatten, der von General Sissi zu Fall gebracht wurde. Europa zeigt sich enttäuscht über den Rückgang der Menschenrechte und Informationsfreiheit während der lezten Jahre.
Bestechungsvorwürfe niedergeschlagen
Im Inneren hat Erdogan Anklagen wegen Bestechung und Geldmanipulationen gegenüber seinen Ministern und auch seiner eigenen Person dadurch überspielt, dass er diese als eine Verschwörung des "Staates im Staate" abtat, die der in Amerika lebende Geistliche Abdullah Gülen und dessen Gefolgsleute in der Türkei gegen ihn angezettelt hätten. Hunderte von Polizisten wurden entlassen, weil ihnen vorgeworfen wurde, sie gehörten zur "Hizmet" Organisation des Geistlichen.
Erdogan versuchte auch, die Justiz zu seinen Gunsten umzubauen. Er wirft vielen Richtern und Staatsanwälten vor, ebenfalls zu dieser behaupteten Verschwörung gegen den Staat zu gehören. In früheren Jahren hatten die Anhänger Gülens als Verbündete Erdogans mitgeholfen, die türkischen Offiziere der Kontrolle des Staates und seiner zivilen Behörden zu unterstellen, in erster Linie der des Ministerpräsidenten persönlich.
Erdogan hat die Sicherheitsdienste mit seinen Loyalisten gespickt und versuchte das gleiche, bisher noch nicht mit vollem Erfolg, mit den Richtern und Staatsanwälten. 31 Polizisten sind kürzlich wegen einer mit den Korruptionsanklagen verbundenen Abhöraffaire verhaftet und ihrerseits angeklagt worden.
Medien unter Druck
Im Verlauf dieser Kämpfe, die sich im Vorfeld der Wahlen abspielten, hat Erdogan dafür gesorgt, dass die Bewegungsfreiheit der Medien eingeschränkt wurde. Es gibt noch oppositionelle Zeitungen und private Fernsehstationen in der Türkei, doch die Frage stellt sich, wie lange noch? Sie geniessen den Schutz der gegenwärtigen Verfassung und der Verfassungsrichter. Das Verfassungsgericht schritt ein, als die Partei Erdogans versuchte, das Internet unter die Kontrolle der Regierung zu bringen.
Doch kleinere Schritte der AKP-Regierung, um die Kontrollen zu verengen, gibt es beständig. Finanzielle Hebel und gesetzgeberische werden angewandt. Voraussehbar ist: die Wirksamkeit solcher Manöver wird zunehmen, nachdem der Ministerpräsident zum Präsidenten gewählt sein wird. Heute spricht man von seinem "selbstherrlichen Regierungsstil". Die Aussicht besteht, dass man bald von seiner "selbstherrlichen Regierung" wird sprechen müssen.
Schon im ersten Wahlgang gewinnen?
Nur ein politisches Wunder kann die Wahl Erdogans noch verhindern. Die Umfragen sprechen davon, dass er wahrscheinlich im ersten Wahlgang gewählt werden wird. Er soll mit 55 Prozent im Vorsprung liegen. Ehsanoglu sprechen die Umfragen bloss 38 Prozent der Stimmen zu, Demirtasch nur gegen 10 Prozent.
Falls Erdogan weniger als die Hälfte der Stimmen erhielte, wäre ein zweiter Wahlgang am 24. August vorgesehen. Dass Erdogan diesen verlieren könnte, wäre nur dann möglich, wenn die gesamte Opposition vereint gegen ihn zusammenfände und gleichzeitig ein guter Teil seiner eigenen Anhänger kritisch zu denken anfinge. Dies ist theoretisch vorstellbar, und Erdogans Gegenspieler hoffen noch immer darauf. Doch die Wahrscheinlichkeiten sprechen dagegen.
Erdogans Wahlkampfstil
Eine bezeichnende Episode, die sich in den letzten Tagen abspielte, zeigt den Stil der gegenwärtigen Wahlkampagne. Eine bekannte und angesehene Journalistin in Istanbul, die für türkische Blätter und auch seit 15 Jahren als die Korrespondentin des "Economist" in der Türkei arbeitet, warf in einem Fernsehinterview mit dem Chef der wichtigsten Oppositionspartei, Kilicdaroglu , auf einem privaten Fernsehkanal die Frage auf, ob eine islamische Gesellschaft in der Lage sei, ihre Regierenden zu hinterfragen. Dies ist eine angesichts der gegenwärtigen Lage und der jüngsten Entwicklungen in der islamischen Welt - auch jener in der Türkei unter Erdogan - durchaus berechtigte Frage.
Doch die Fernsehdiskussion löste innerhalb von Minuten einen Sturm in den elektronischen Media aus. Anhänger der Partei Erdogans, die sich ja als eine demokratische und islamische Partei ansieht, erklärten sich und den Islam als beleidigt. Am Tag danach nahm Erdogan selbst auf einem Wahlmeeting in Malatya, Inneranatolien, auf diese Polemik Bezug, ohne die Journalistin direkt zu nennen.
Er sprach vor der Masse seiner Zuhörer von einer "schamlosen aktivistischen Frau, die sich als Journalistin ausgibt", und er rief ihr zu: "Kenne Deinen Platz! Man hat Dir eine Feder gegeben, und Du schreibst eine Kolonne in einer Zeitung. Dann wirst Du eingeladen auf einen TV Kanal, der den Dogan Media gehört, und Du beleidigst eine Gesellschaft, die zu 99 Prozent aus Muslimen besteht." Erdogan fuhr dann fort: "Ich dränge Kiliçdaroglu und diese Journalistin, so weiter zu machen. Denn dies ist der Grund, weshalb diese Nation euch nie in die Regierung wählen wird!"
Der „Economist“ stützt seine Korrespondentin
Der "Economist" hat sich sofort hinter seine Korrespondentin gestellt. Er schrieb in seiner jüngsten Ausgabe: „Frau Zaman ist Korrespondentin des ‚Economist‘ in der Türkei seit 15 Jahren, und sie geniesst hohen Respekt. Wir stehen zu ihren Berichten. Die Verängstigung von Journalisten gehört in keine Demokratie. Unter Erdogan ist die Türkei für unabhängigen Journalismus zunehmend schwierig geworden. Freedom House, eine Überwachungsorganisation für Medien in New York, hat kürzlich die Türkei hinabklassifiziert von "teilweise frei" zu "unfrei".'