Nach den Masstäben von gestandenen Demokratien wäre das Ergebnis der Duma-Wahl vom Wochenende ein glänzender Erfolg. Nach den Kriterien und Gewohnheiten von Putins „gelenkter Demokratie“ bedeutet der Umstand, dass seine Partei Einiges Russland nur knapp die Hälfte aller Stimmen bekommen hat und sich ausserdem nur 50 Prozent der Wähler zu den Urnen bemüht haben, einen deutlichen Rückschlag. Man kann es im russischen Kontext auch eine Schlappe nennen.
Scharf beobachtete Verstösse
Gegenüber dem Ergebnis der letzten Parlamentswahl vor vier Jahren hat die Putin-Partei rund 15 Prozent der Stimmen eingebüsst. Sie verliert damit ihre bisherige Zweidrittelmehrheit der Sitze, was bedeutet, dass sie Verfassungsänderungen nicht mehr im Alleingang durchdrücken kann. Für solche Projekte ist sie künftig auf Unterstützung seitens der drei übrigen in der Duma vertretenen Parteien angewiesen. Deswegen müssen sich Wladimir Putin und sein Chefgehilfe Dmitri Medwedew allerdings keine grossen Sorgen machen. Diese andern Duma-Parteien haben sich – inklusive die Kommunistische Partei, die markant zulegte – in den letzten Jahren fast immer als lammfromme Opposition erwiesen. Sie sind im weiteren Sinne Teil des „Systems Putin“.
Dass jedoch im Vorfeld und während des Urnenganges von der Staatsmacht kräftig und vielseitig zugunsten der Partei Einiges Russland manipuliert und kujoniert worden ist, darüber gibt es keine Zweifel. Manche regierungskritische Internet-Seiten, eine vitale Blogger-Szene, auch etliche Printmedien sowie schliesslich die von der OSZE entsandten Wahlbeobachter haben inzwischen über unzählige Verstösse gegen saubere und faire Wahlen berichtet. Wie weit die Putin-Partei ohne solche Tricksereien unter die 50-Prozent-Marke der Wählerstimmen gefallen wäre, darüber kann man nur spekulieren.
Grenzen der Manipulation
Doch offensichtlich sind heute auch in Putins „gelenkter Demokratie“ der Wahlmanipulation etwas engere Grenzen gesetzt – vor allem wohl dank dem wachsenden Einfluss einer kritischen Internet-Gemeinde, die sich von der Berieselung durch das staatlich kontrollierten Fernsehen längst emanzipiert hat. Auch über die Sphäre der digitalen Vernetzungen hinaus haben sich seit den letzten Duma-Wahlen vor vier Jahren die Indizien für eine sinkende Putin-Begeisterung verdichtet.
Angesichts dieses Stimmungswandels mussten es wohl die Strippenzieher im russischen Machtapparat für ratsam halten, bei ihren Wahl-Tricksereien den Bogen nicht allzu krass zu überspannen. Das Risiko, dass allzu radikale Betrügereien schwer kontrollierbare Reaktionen wie Massenproteste – wie vor sieben Jahren beim Ausbruch der Orangen Revolution in der benachbarten Ukraine – auslösen könnten, dürfte dem hellhörigen Putin durchaus nicht gleichgültig sein.
Geschärftes demokratisches Bewusstein?
Russland ist nach dem Einsturz des kommunistischen Herrschaftssystems oft als Halb-Demokratie bezeichnet worden. Überzeugende Fortschritte in Richtung einer breiter und pluralistischer abgestützten Volksherrschaft sind seit Wladimir Putins Machtübernahme vor 12 Jahren nicht zu erkennen, im Gegenteil. Angesichts der von Putin durchgesetzten Konzentration aller wesentlichen Entscheidungsgewalt in der von ihm kontrollierten „Machtvertikale“ kann man Russland heute vielleicht nur noch als Drittel-Demokratie einstufen.
Dennoch ist eine Drittel-Demokratie für die Bürger und ihre Bewegungsmöglichkeiten immer noch besser als eine Diktatur nach sowjetischem Muster. Auch wenn in der politischen Praxis die Demokratie geschrumpft sein mag, so gibt es gleichzeitig Indizien dafür, dass sich in vielen Köpfen der russischen Gesellschaft das demokratische Bewusstsein eher verschärft hat.
Demokratische Prozesse brauchen in aller Regel mehrere Generationen, und Rückschläge sind kaum zu vermeiden, bis sie zu einer reifen Entfaltung kommen. Man kann diese Erfahrung an vielerlei Beispielen überprüfen - auch am Beispiel der Schweizer Geschichte. Aber einmal angestossen, werden demokratische Regungen nie mehr endgültig auszurotten sein.
Putins Präsidentenwahl ungefährdet
Trotz des Denkzettels, den die Wähler Wladimir Putin und seiner Partei Einiges Russland bei den Duma-Wahlen am Wochenende verpasst haben, besteht nicht der geringste Zweifel, dass der amtierende Ministerpräsident im März wieder zum Präsidenten gewählt werden wird. Für den Sieg des alt-neuen Machthabers im Kreml wird erstens die immer noch funktionsfähige Propaganda-Maschinerie von Einiges Russland sorgen. Und zweitens der Umstand, dass vorläufig kein Gegenkandidat zu entdecken ist, dem man zutrauen würde, auch ohne Putins gewaltige Ressourcen auf Anhieb massenhaft das Vertrauen der russischen Wähler zu gewinnen.
Immerhin haben die Duma-Wahlen gezeigt, dass es für Putin unerwartete Grenzen der Demokratie-Lenkung gibt. Vielleicht werden diese Grenzen bei der Präsidentenwahl im Frühjahr noch etwas deutlicher sichtbar. Und wer weiss, im Laufe seiner neuen sechsjährigen Amtszeit als Kremlherr könnte es Wladimir Putin eines Tages sogar bedauern, dass er nicht die Grösse hatte, sich rechtzeitig von der politischen Bühne zurückzuziehen.