Sie ist Physikerin, Jüdin, steht links, ist weniger dogmatisch als ihr Vorgänger und hat einen beeindruckenden Leistungsausweis. Wahrscheinlich steht sie ab dem 2. Juni – als erste Frau – an der Spitze des mexikanischen Riesenreichs.
Die bald 62-jährige Claudia Sheinbaum studierte in Berkley und war Expertin bei der Uno für Klimafragen. Sie war als Gouverneurin (Ober-Bürgermeisterin) die erste Frau, die der Mega-Metropole Mexiko-Stadt vorstand. Ihre Bilanz kann sich sehen lassen.
97,6 Millionen Mexikaner und Mexikanerinnen sind Anfang Juni aufgerufen, ein neues Staatsoberhaupt zu wählen. Es wäre eine riesige Überraschung, würde sie am kommenden 2. Juni nicht zur mexikanischen Präsidentin gewählt werden. Auch zehn Tage vor dem Wahltag beträgt ihr Vorsprung auf ihre rechtsgerichtete Konkurrentin noch immer – je nach Umfrage – 20 bis 25 Prozent.
In den Fussstapfen ihres Vorgängers
Claudia Sheinbaum wird also wahrscheinlich Nachfolgerin des abtretenden linken Präsidenten Andrés Manuel López Obrador («AMLO»). Er, «der tropische Messias», wie er früher genannt wurde, ist nach wie vor beliebt, darf aber nicht mehr kandidieren. Die mexikanische Verfassung sieht für Präsidenten nur eine einmalige sechsjährige Amtszeit vor. López Obrador ist Gründer der sozialdemokratischen «Morena»-Partei, die das über 70-jährige rechtsgerichtete und immer korrupter werdende mexikanische Parteiengefüge durcheinanderwirbelte. Morena steht für «Movimiento Regeneración Nacional»: Bewegung der nationalen Erneuerung. Claudia Sheinbaum ist eine enge Vertraute des zurücktretenden Präsidenten und will die Stossrichtung seiner Politik fortführen.
Die säkulare Jüdin Sheinbaum stammt aus einem intellektuellen Elternhaus. Sie wurde in Mexiko geboren. Die aschkenasischen Eltern ihres Vaters stammen ursprünglich aus Litauen. Die sephardischen Eltern der Mutter flüchteten vor dem Holocaust aus Bulgarien. Der Vater war Chemieingenieur, die Mutter Biologin und Professorin.
Unerfahrene Gegenkandidatin
Sheinbaum ist Kandidatin einer Dreier-Koalition, die sich aus der «Morena»-Partei, der «Arbeiterpartei» (Partido del Trabajo) und der grünen «Ökologischen Partei» (Partido Verde Ecologista) zusammensetzt. Letzte Umfragen geben ihr 56 Prozent.
Ihre Gegenkandidatin ist die Senatorin und Millionärin Xóchitl Gálvez Ruiz vom rechtsgerichteten Oppositionsbündnis «Frente Amplio por México». Sie ist eine Computeringenieurin und Unternehmerin. Hätte der linke Präsident López Obrador sie in seinen fast täglichen Fernsehansprachen nicht ständig rabiat angegriffen, wäre sie wohl weitgehend unbekannt geblieben. Gálvez Ruiz ist zwar charismatischer als Sheinbaum, politisch jedoch unerfahren. Ihre Wahlkampfauftritte wirken inhaltlich leer und phrasenhaft. Gemäss einer jüngsten Umfrage kommt sie auf 35 Prozent.
Chancenlos ist der der 38-jährige Jorge Álvarez Máynez, der Kandidat des links-zentristischen «Movimiento Ciudadano». Er kommt in Umfragen auf 10 Prozent der Stimmen.
Kein schlechtes Erbe
Wirtschaftlich hinterlässt López Obrador seiner Nachfolgerin kein schlechtes Erbe. Der Internationale Währungsfonds attestiert dem Land eine «breit angelegte Expansion». In diesem Jahr rechnen Experten mit einem Wachstum von 3,0 bis 3,5 Prozent. Die Arbeitslosigkeit ist so tief wie seit Jahrzehnten nicht mehr, die Inflationsrate liegt bei 4,8 Prozent. Privatkonsum und Investitionen steigen. Die Armutsrate ist unter López Obrador stark gesunken. Zwischen 2020 und 2022 haben nach Angaben des «Nationalen Rats für die Bewertung der Sozialpolitik» fast neun Millionen Menschen die Armut überwunden.
Die rechtsgerichteten Parteien erklärten jedoch, dass der Aufschwung noch viel markanter sein könnte, wenn die linksgerichtete Regierung sich nicht ständig mit regulatorischen Eingriffen in die Wirtschaft einmischen würde. Die Linke antwortet darauf, dass es die rechtsgerichteten Parteien, vor allem die 70 Jahre regierende, teils korrupte PRI (Partei der institutionalisierten Revolution), war, die das Land ins wirtschaftliche und soziale Elend geführt hat.
Der unter López Obrador eingesetzte Aufschwung darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass noch immer fast 47 Millionen Mexikaner und Mexikanerinnen unter der Armutsgrenze leben, das sind 36 Prozent der Bevölkerung. 7 Prozent der Menschen in Mexiko gelten noch immer als «extrem arm».
Die blutigste Amtszeit eines Präsidenten
Gelähmt wird das Land vor allem durch die allgegenwärtige Gewalt und die Drogenkriminalität. Mexiko gehört neben Brasilien, Kolumbien und Venezuela zu den lateinamerikanischen Ländern mit der höchsten Mordrate. Die fehlende öffentliche Sicherheit ist die Hauptsorge der Mexikaner und Mexikanerinnen. All dem hatte der «Tropische Messias» wenig entgegenzusetzen.
Seine sechsjährige Amtszeit gilt als die blutigste eines Präsidenten. Experten schätzen, dass in den letzten sechs Jahren über 170’000 Menschen ermordet wurden. Dazu kommen fast so viele «Desaparecidos» (Verschwundene), von denen vermutlich die meisten tot sind.
Auch Politiker und Kandidaten für politische Ämter leben gefährlich. Am 19. April wurde in Mantes im Bundesstaat Tamaulipas der Kandidat Noé Ramos von der rechtsgerichteten PAN-Partei während einer Wahlkampfveranstaltung erstochen. Zwei Tage zuvor war Alberto Antonio Garcia, Bürgermeister-Kandidat der regierenden Morena-Partei im Bundesstaat Oaxaca, tot aufgefunden worden. In Cazones, im Bundesstaat Veracruz zerstreuten schiessende Kriminelle Leichenteile von zwei Getöteten auf dem Hauptplatz. Die Polizei verschanzte sich.
«Den Sarg schon heute bestellen»
Verantwortlich für die Morde sind einerseits Drogenkartelle, andererseits politische Gegner. Journalisten gehen davon aus, dass in den letzten Monaten und Wochen fast hundert Kandidatinnen und Kandidaten umgebracht worden sind. «Ein Politiker, der sich gegen die Drogenmafia stellt», heisst es in Mexiko, «kann bereits heute seinen Sarg bestellen.»
Claudia Sheinbaum weiss, dass ihre Regierungszeit an der Bekämpfung der Kriminalität gemessen werden wird. In ihrem Plan «Hundert Schritte für eine Transformation Mexikos» kündigt sie eine radikale Verstärkung der Nationalgarde und der Polizei an. Sie weiss auch, dass viele Polizeibeamte mit den Drogenkartellen und dem organisierten Verbrechen unter einer Decke stecken. Deshalb will sie auch die Polizeicorps mehr unter die Lupe nehmen. Für gewalttätige Jugendliche sollen Aussteiger-Programme geschaffen werden.
«Korruption ist kein kulturelles Problem»
Das zweite Hauptproblem ist die bis in die Eingeweide des Staates und der Gesellschaft grassierende Korruption. Um das Übel zu bekämpfen, will Sheinbaum eine eigene Behörde schaffen, die direkt der Präsidentin unterstellt wird. Als Bürgermeisterin (Gouverneurin) von Mexiko-Staat war es ihr gelungen, die Korruption einzudämmen. «Korruption ist kein kulturelles Problem, wie es früher hiess», sagt sie. «Korruption ist ein Problem, das im Laufe der Jahre in korrupten Regierungen entstanden ist, in denen es nur Straffreiheit gab.» Vor allem will sie mehr Transparenz in der öffentlichen Verwaltung schaffen und vermehrt öffentliche Aufträge über Ausschreibungen – und nicht unter der Hand – vergeben.
Schritt zur Energiewende
Und natürlich will die Physikerin und Klimaexpertin, die einen Doktortitel in Energietechnik hat, einen wichtigen Schritt hin zur Energiewende einleiten. Sonnenkollektoren auf Dächern von Privathäusern und Unternehmen sollen gefördert werden – Photovoltaik-, Wind, Wasser- und geothermische Anlagen.
In ihrer Funktion als Bürgermeisterin von Mexiko-Stadt hatte die Umweltwissenschaftlerin 2019 einen Sechs-Jahres-Plan angekündigt, der eine Reduktion der Luftverschmutzung um 30 Prozent vorsieht. 15 Millionen Bäume sollen in der Hauptstadt gepflanzt werden, das Recycling, Mülltrennungsanlagen, Trolleybusse und die Installation von Sonnenkollektoren werden gefördert. Ihre Bemühungen brachten ihr international viel Anerkennung. Die BBC setzte Sheinbaum 2018 auf die Liste der «100 inspirierenden und einflussreichen Frauen».
Durchgangsland für Flüchtlinge
Schwer belastet wird Mexiko zunehmend durch Flüchtlingsströme. Die Landenge von Darién (Isthmus von Panama) verbindet Südamerika mit Panama. Über diese Landbrücke, die grösstenteils von dichtem Dschungel bedeckt ist, strömen Zehntausende aus dem Süden Richtung Mittelamerika, Richtung Mexiko, Richtung USA. Viele werden auf ihrem Weg von kriminellen Banden überfallen und ausgeraubt. Die meisten dieser Migranten stammen aus Venezuela, Kolumbien, Ecuador und Peru. In Mittelamerika schliessen sich ihnen Flüchtlinge aus Honduras, Guatemala, El Salvador, Nicaragua und Guatemala an. Berühmt wurde der «Exodus der Armut» – eine Karawane von etwa 5’000 Menschen, die vergangene Weihnachten Richtung Norden zog. Sie fliehen vor Armut und Gewalt. Doch auch in Mexiko werden diese Migranten, die das Einzige was sie haben, auf sich tragen, immer wieder von Banden überfallen.
Sheinbaum weiss, dass Mexiko dieses Problem allein nicht lösen kann. Deshalb setzt sie sich für eine Vertiefung der Beziehungen zu den anderen lateinamerikanischen Staaten ein, auch zu jenen, die nicht primär zu den demokratischen Musterschülern zählen. Auch sie sucht, wie ihr Vorgänger, ein gutes, pragmatisches Verhältnis zu den USA.
AMLOS Probleme mit der Justiz
Unklar ist, wie Sheinbaum mit der Justiz des Landes umgehen wird. Präsident López Obrador war die «unabhängige Justiz» offensichtlich ein Dorn im Auge. Die Opposition warf ihm vor, den Justizapparat mehr und mehr unter seine Fittiche zu nehmen. So hat er – fast schon wie Trump – den Obersten Gerichtshof mit eigenen Kandidaten und Kandidatinnen besetzt. Fünf der insgesamt elf Richterposten des Obersten Gerichts sind «AMLO»-hörig. Zur Diskussion steht, ob die obersten Richter wie bisher vom Senat oder vom Volk gewählt werden sollen.
Claudia Sheinbaum hat sich bei dieser Frage nicht eindeutig geäussert. Es ist jedoch nicht anzunehmen, dass die westlich gebildete Intellektuelle das Land «auf eine Diktatur hinsteuern will», wie es ihr die Opposition schon vorwirft.
Keine Anfängerin
Der abtretende López Obrador ist vor allem bei den Armen und Unterprivilegierten populär. Er ist auch ein begnadeter Populist und handelte oft dogmatisch und theatralisch. Claudia Steinbaum ist weder das eine noch das andere. Sie ist weltgewandt, breit gebildet, sehr belesen, kunstinteressiert, kann ihren Gegnern zuhören, ist pragmatisch und vertritt eine offene, undogmatische Wirtschaftspolitik. Oft jedoch wirkt die Akademikerin etwas trocken und spröd.
Viele setzen grosse Hoffnung in sie und rechnen damit, dass sie dank ihres akademischen Hintergrunds als Physikerin eine moderne Klima- und Energiepolitik einleiten wird. Ob es ihr allerdings gelingen wird, die Korruption und die Kriminalität in den Griff zu bekommen – darüber gehen die Meinungen auseinander.
Claudia Sheinbaum ist keine Anfängerin. Fünf Jahre lang regierte sie die mexikanische Hauptstadt, ein Moloch mit neun Millionen Einwohnern (21 Millionen inklusive Agglomeration). «Wer dies fünf Jahre lang recht erfolgreich und unbeschadet tun kann», heisst es in Mexiko, «kann auch das ganze Land regieren.»