Niklaus von Steiger wusste, dass seine Tage gezählt waren. Der medizinische Befund sprach eine ebenso deutliche Sprache wie sein schwacher Körper. Und so drängte ein Projekt zum Abschluss, das er vor Jahrzehnten begonnen hatte. Seine Biographin Inga Häusermann schreibt: „Kennengelernt habe ich Niklaus von Steiger über seine Tochter Tatjana, mit der ich seit Jugendtagen freundschaftlich verbunden bin. Wenn wir an Festen beisammen sassen, ihr Vater aus seinem bewegten Leben erzählte und mich mit den Geschichten seiner Ahnen in Bann zog, hoffte ich immer, diese eines Tages zu Papier bringen zu können. Die Möglichkeit dazu ergab sich erst ein halbes Jahr vor seinem Tod.“ Im Wettlauf mit der Krankheit gab der 1933 in Bern geborene Niklaus seine Lebenserinnerungen an Inga Häusermann weiter, die sie durch das Studium von umfangreichem Quellenmaterial und zahlreichen Gesprächen mit Verwandten, Freunden und Weggefährten zur Geschichte der Familienodyssee erweiterte. „Der Bund“ widmete diesem schön ausgestatteten Buch eine ganze Seite.
Von Bern nach Russland
Im Jahre 1822 wanderte Rudolf von Steiger mit seiner Frau und seinen sieben Kindern nach Russland aus. Nach der französischen Revolution und der Eroberung der alten Eidgenossenschaft verlor das Patriziat seine politische und gesellschaftliche Vormachtstellung. Manche der bernischen Patrizierfamilien waren so verarmt, dass sie sich zur Auswanderung entschlossen. Vor seiner endgültigen Entscheidung, die Schweiz mit seiner Familie zu verlassen, hatte Rudolf von Steiger Russland besucht und war angetan von diesem Land. Zudem förderte Zar Alexander I. die Einwanderung aus der Schweiz. Er räumte den Angehörigen ausländischer Adelsfamilien die Rechte und Privilegien des russischen Adels ein.
Nach einer mehrmonatigen beschwerlichen Reise landete die Familie von Steiger in der Gegend von St. Petersburg, wo ein Bekannter von Rudolf die Familie aufnahm. Rudolf fand zuerst als Gutsverwalter ein Auskommen. Nach seiner Einführung in die Kreise des Adels kam er zum Posten des Verwalters der zaristischen Krongüter und zum Titel eines kaiserlichen Hofrats, der mit hohem Ansehen verbunden war. Seinen Söhnen konnte er eine standesgemässe Ausbildung finanzieren und seine fünf Töchter heirateten Männer aus der russischen Oberschicht. Der Aufstieg der Familie von Steiger setzte sich besonders mit Eduard, dem Sohn von Rudolf, fort, der in Konstantinopel die Leitung der expandierenden Schwarzmeerhandelsflotte übernahm. Seiner Vermählung mit der eleganten Bankierstochter Philomène entsprossen fünf Kinder. Eines von ihnen war Nikolai, der Grossvater unseres Protagonisten Niklaus von Steiger, ein anderes Sergej, der Grossvater von Sergius Golowin.
Die bald über ganz Russland verstreuten von Steiger, die in Odessa, Konstantinopel und Sankt Petersburg tätig waren, erreichten in der Wirtschaft, in der zaristischen Verwaltung und im Militär angesehene Stellungen. Dieser prosperierende Clan hatte viel zu verlieren. Der Russisch-Osmanische Krieg 1877, der erste Weltkrieg und die russische Revolution stellten auch die russischen von Steiger vor immer neue Herausforderungen. Kriegerische Handlungen innerhalb des Landes machten Ferienhäuser und Landsitze unsicher.
In der russischen Kolonie von Bern
Die Oktoberrevolution zwang schliesslich viele von ihnen zur Rückwanderung nach Europa. Paris war eine bevorzugte Destination, weil Französisch zur Bildung der Adligen gehörte. Einige von Steiger kehrten nach Bern zurück, in die Stadt, die Rudolf von Steiger vor mehr als hundert Jahren verlassen hatte. So auch Walentina und Wladimir von Steiger, die Eltern von Niklaus. Seine Mutter nannte ihn Nikolka. Er wuchs als Russe in der russischen Kolonie in Bern auf. Man sprach Russisch und Französisch und verkehrte untereinander. Auch der russisch-orthodoxe Glaube hielt die Diaspora zusammen und begleitete Niklaus durch sein ganzes Leben. Die grossbürgerliche Walentina behielt auch unter widrigen Umständen ihre Contenance.
„Walentina war in ihrem ganzen Auftreten und in ihrer makellosen Erscheinung, was man mit dem Begriff ‚Grande Dame‘ zu umschreiben pflegte. Und obwohl sie in Armut lebte, war sie stets adrett gekleidet.“ Sie stellte ihren russischen Landsleuten ihre Wohnung für die kirchlichen und sonstigen oft überbordenden Feste zur Verfügung, was auch zu Kündigungen führte. Wladimir eröffnete einen Feinkostladen an der Kramgasse mit aus der Sowjetunion eingeführten Spezialitäten, war damit zuerst erfolgreich, musste aber dann als Folge der Weltwirtschaftskrise den Konkurs anmelden, was gesellschaftlich einen tiefen Fall bedeutete.
Wenn immer Wladimir über etwas Geld verfügte, fuhr er nach Campione ins Casino, um dort zu spielen. „Das war auch der Grund, weshalb Niklaus schon als kleiner Bub den Weg zum Städtischen Pfandhaus kannte …, um einmal mehr im Büro des Pfandleihers voller Scham einige der letzten wertvollen Schmuckstücke seiner Mutter auf dem Ladentisch auszubreiten.“ „Als Niklaus in die erste Klasse kam, war er erstaunt, dass die anderen Kinder seine Sprache nicht verstanden, und er begriff nicht, weshalb viele seiner Mitschüler ihn abschätzig behandelten oder gar mieden. Dass dies mit den antikommunistischen Ressentiments der Schweizer Bevölkerung zu tun hatte, wurde ihm erst später klar.“
Zwischen Rumänien und der Schweiz
1942 wurde Wladimir vom Internationalen Roten Kreuz nach Bukarest berufen. Der Auftrag war, sich in den Gefangenenlagern für die Einhaltung menschlicher Grundrechte einzusetzen. Er kam in Rumänien zu Geld, mit dem er seiner Familie in Bern zu einem Lebensstil verhalf, der an die früheren opulenten Verhältnisse in Russland anknüpfte. Aber dann wendete sich das Blatt. In der Affäre um den rumänischen Agenten Viziano geriet Wladimir zwischen die Fronten der Auseinandersetzung zwischen Rumänien und der Schweiz. Ihm wurde der Prozess gemacht, und sein Vermögen wurde beschlagnahmt. Der Vater von Niklaus starb 1950 in rumänischer Gefangenschaft. Bald verschuldete sich Walentina, entschloss sich in ihrer Not zur Flucht vor ihren Gläubigern und setzte sich nach Paris ab. Die Burgergemeinde von Bern erklärte sich bereit, den verwaisten Niklaus in ihrem Waisenhaus am Melchenbühlweg aufzunehmen, wo er bis zu seiner Volljährigkeit blieb. Dort fühlte sich Niklaus wohl. Nach dem Auf und Ab seiner jungen Existenz kam ihm die strikte, aber gerechte Ordnung im Waisenhaus entgegen. Die Burgergemeinde vermittelte ihm eine Banklehre, mit der er trotz seiner Neigung zu Sprachen und Geschichte einverstanden war. Nach der Lehre arbeitete Niklaus in Genf, in London und schliesslich in Bern.
Niklaus begann, ein Doppelleben zu führen, das sein ganzes Leben prägen sollte. Da verdiente sich der pragmatische Bankangestellte und Familienvater eine solide Existenz, während er parallel dazu seine geisteswissenschaftlichen Interessen verfolgte. Niklaus begann, eigene Texte zu schreiben, die er unter dem Pseudonym „Montrichet“ in der Literaturzeitschrift Schwarz auf Weiss veröffentlichte. „Ende der Fünfzigerjahre begann sich der Widerstand gegen die verkrusteten gesellschaftlichen Strukturen auf der einen Seite und das blinde Vertrauen in den technischen Fortschritt auf der anderen Seite zu regen.“ Niklaus engagierte sich im Freundeskreis um seinen Cousin, den Ethnologen und Legendenforscher Sergius Golowin, dem auch der Maler Franz Gertsch und der Reformpädagoge Beno Zürcher angehörten. Sie initiierten Diskussionsabende und Vorträge. Mit einem Fackelzug protestierten sie gegen den Bau der Grauholzautobahn, weil sie das Grab des sagenumwobenen Botti störte.
Die Realität hinter der Realität
Botti, ein menschenliebender Riese, hatte sich im Bremgartenwald aus Kummer darüber, dass sich alle vor ihm fürchteten, lebendigen Leibes selbst begraben. Niklaus war von der Notwendigkeit von Märchen, Sagen und Mythen überzeugt. „Das Leben ist ein Spiel, und die Mythen sind seine grossen Begleiter. Das Volk muss herrliche Drachen mit Karfunkelaugen erschaffen können. Doch wenn sich diese in Fliessbänder und Käuferschlangen verwandeln, werden die Bilder zum Albtraum“, sagte er. In der Berner Unterstadt entwickelte sich eine lebendige Kleintheater- und Galerieszene. Die Junkere 37 öffnete 1964 ihre Tore. In diesem von Niklaus und seinen Freunden geführten Kleintheater wurde das Zeitgeschehen kommentiert und beurteilt.
Prominente Schriftsteller wie Walter Matthias Diggelmann, Friedrich Dürrenmatt und Theodor Adorno traten in der Junkere 37 auf. Der Redner Konrad Farner von der Partei der Arbeit dürfte ein Grund gewesen sein, dass im Publikum immer verdeckte Ermittler der Behörden sassen. „In der vom kalten Krieg geprägten Nachkriegszeit waren soziale oder gesellschaftliche Experimente unerwünscht.“ Niklaus wurde in seiner Fiche als „Roter Bankbeamter russischer Herkunft“ vermerkt. Man verdächtigte Niklaus und Sergius zu Unrecht. Sie waren alles andere als Kommunisten. Schliesslich hatten ihre Eltern das bolschewistische Regime am eigenen Leib erfahren.
Inga Häusermann hat sich als bildende Künstlerin einen Namen gemacht. Sie zeichnet, malt und modelliert. Bei Inga Häusermanns Werken geht nichts nach aussen, alles nach innen. Sie greifen nicht in den äusseren Raum hinaus, sondern dringen in den inneren Raum des Betrachters ein. Weil diese Kunst aus dem Zentrum geschöpft ist, bewegt sie im Zentrum. Die Realität hinter der Realität scheint auf ihren Werken durch. Inga Häusermanns beeindruckender Erstling im Medium der Sprache fordert den Leser durch die Fülle seiner Dimensionen heraus. Da verbinden sich der Blick für das signifikante Detail mit dem Wissen um das Unfassbare. Im grossen Finale des Buches begegnen sich an einem Fest im Hause von Niklaus Lebende und Verstorbene. Sie feiern miteinander und runden Unabgeschlossenes ab. Am nächsten Morgen sieht man die Fussabdrücke auf dem Gartenweg, die der legendäre Riese Botti hinterlassen hat.
Häusermann, Inga: „Nikolka“. Niklaus von Steiger. Eine bernisch-russische Familienodyssee. Verlag Hier und Jetzt, Zürich 2021.
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