Nicht eine neue Aussenpolitik muss die Schweiz haben, sondern überhaupt eine. Bislang hatten wir nämlich keine, zumindest nicht seit dem Zweiten Weltkrieg. Eine Aussenwirtschaftspolitik führten und führen wir, aber keine wirkliche Aussenpolitik, welche sich an unseren politischen, und nicht nur den wirtschaftlichen Interessen orientiert. Das alte Bonmot, nach dem es die für die Schweiz beste Aussenpolitik ist, keine zu haben – schon immer falsch, aber mehr darüber später – hat endgültig ausgedient. Warum das, und warum gerade jetzt?
Kein vergleichbares Land ohne Aussenpolitik
Eigentlich ist dies die falsche Frage. In praktisch jedem anderen Land – gerade in jenen, welche der Schweiz am nächsten stehen oder am ähnlichsten sind – könnte die Grundsatzfrage höchstens lauten, weshalb keine Aussenpolitik geführt werden sollte. So führen etwa unsere Nachbarländer sowie die Skandinavier und die Beneluxstaaten, die alle längst und selbstverständlich Vollmitglieder der EU sind, eine eigene internationale Politik und beteiligen sich zudem an der europäischen Aussenpolitik.
Fast alle: Die Norweger sind die Schweizer Nordeuropas, indem sie denken, ihr immenses Reichtumspolster (der norwegische ist der global reichste Souvereign Wealth Fund) dipensiere sie von der Notwendigkeit, auch eine Europapolitik zu führen. Im Rest der Welt führt Norwegen, auch als Mitglied der NATO, jedoch sehr wohl eine Aussenpolitik und ist damit politisch oft um einiges sichtbarer als die an sich grössere, wirtschaftlich ungleich gewichtigere Eidgenossenschaft. Die wenigen anderen Klein- und Mikrostaaten sind, mit Verlaub, Spezialfälle.
Nur in der Schweiz wird ein längst versteinertes Neutralitätsdogma – neutral zwischen wem denn im heutigen Europa, um Gottes Willen? – als Grund für aussenpolitische Abstinenz gesehen. Nicht nur dispensieren wir uns selbst, wir sind auch noch stolz darauf, «die kleine Schweiz ohne machtpolitische Interessen» zu sein, und glauben unbeirrt an eine Nachfrage nach «neutraler» Vermittlung. Dies ist gleich dreimal falsch.
Verzerrtes Selbstbild der Schweiz
Die Schweiz ist erstens nicht klein, sondern ein mittelgrosses europäisches Land im westlichen Zentrum eines Kontinents, mit welchem wir durch Geschichte, Kultur und ureigene Interessen untrennbar verbunden sind. Zweitens haben wir sehr wohl auch machtpolitische Interessen, glauben wir doch an die Überlegenheit eines demokratischen sozialliberalen Kapitalismus gegenüber autoritären, geschweige denn totalitären Systemen. Dies, weil in der Schweiz wie in zahlreichen andern europäischen Ländern Würde und Wohlergehen des Einzelnen im Mittelpunkt der Gesellschaft und damit allen staatlichen Handelns stehen.
Was drittens die Vermittlung anbelangt, so wird diese von jenem Land, jener Organisation, jener Persönlichkeit geleistet, welche in einem gegebenen Zeitpunkt dafür am besten geeignet erscheint, die nötigen eigenen Mittel hat und zum richtigen Zeitpunkt auch politischen Druck ausüben kann. Dies können im Einzelfall die USA, Norwegen, die EU, die UNO respektive eine von der Weltorganisation mandatierte Persönlichkeit, eine NGO oder durchaus auch einmal die Schweiz sein. Aber nicht weil wir neutral sind, sondern über die richtigen Personen und Kenntnisse sowie genügend Mittel verfügen.
Schädliches Einzelfalldenken
Keine Aussenpolitik zu haben, hat uns nicht nur nichts genützt, sondern geschadet. Die Aussenbeziehungen bilden nämlich ein Ganzes. Wenn ich in der Aussenwirtschaftspolitik etwas will, zum Beispiel einen neuen Markt für Exporte, muss ich bereit sein, eine politische Konzession einzugehen, beispielsweise bei der Personenfreizügigkeit. Unser vermaledeites Einzelfalldenken, was die Schweiz als Ganzes aber auch einzelne schweizerische Anliegen anbelangt, führt dazu, dass jedes aussenpolitische und aussenwirtschaftliche Einzelproblem zur Schicksalsfrage wird, über welche mit gewaltigem Aufwand direktdemokratisch entschieden werden muss, wobei oft von Anfang an klar ist, dass vernünftigerweise nur ein Weg offen steht.
Ein ganz konkretes Beispiel dieses in aller Politik, ob im Innern oder nach Aussen, selbstverständlichen Gebens und Nehmens ist der Fluglärmstreit mit der BRD. Ganz unabhängig davon, wer nun abstrakt gesehen «recht hat», würde diese heute einigermassen verfahrene Geschichte wohl ganz anders aussehen, wenn die Schweiz – nochmals: wie praktisch jedes andere europäische Land – in den ständigen politischen Prozess innerhalb der EU eingefügt wäre und damit beidseits unendlich viel mehr Stoff zur Aushandlung ausgewogener Kompromisse vorhanden wäre.
Verspielte Chancen
Warum aber eine Aussenpolitik gerade jetzt, subito, wo es doch angeblich Europa schlecht, und uns gut geht? Wiederum ein ganz falscher Ansatz. Der Schweiz geht es vergleichsweise wirtschaftlich gut, wie übrigens auch dem Rest von Nordeuropa, nicht weil wir nicht in der EU sind, sondern über eine solide und innovative Exportwirtschaft, einen Forschungs- und Ausbildungsplatz von Weltklasse und ein attraktives Umfeld mit hervorragender Infrastruktur verfügen. Dass wir auf der Basis all dieser Trümpfe nicht aktiv mittun bei der Gestaltung unserer Zukunft, welche jene Europas sein wird, ist ausgesprochen töricht. Alle anderen tun das nämlich, inklusive das im Vergleich mit der Schweiz nun wirklich kleine Luxemburg. Wir scheinen die einzigen zu sein, die verzagt daran festhalten, im Konzert der Grossen ohnehin keine Chance zu haben.
Natürlich bestimmt im Moment Deutschland als noch prosperierendes und weitaus grösstes Wirtschaftsbollwerk Europas den Takt in der von ihrer Südkrise geschüttelten EU. Das kann Berlin aber nur, weil es von wichtigen anderen EU-Ländern im Grundsatz unterstützt wird bei seiner Politik des mit gezielten Wachstumsanreizen verbundenen Budgetausgleichs. Eine Politik übrigens, welche im Moment weiter in Richtung Wachstumsförderung tendiert. Wie viel besser wäre es doch, die Schweiz würde sich an den entsprechenden Diskussionen in der EU aktiv beteiligen. Das Resultat wird nämlich auch für die Schweiz von entscheidender Bedeutung sein.
Unrealistische Vorstellungen
Zum Schluss wiederum ein aktuelles Beispiel zur Illustration des im Titel geforderten «subito». Noch vor kurzem forderte die Schweiz, künftige Meinungsverschiedenheiten über Auslegung und Anwendung der unzähligen bilateralen Abkommen mit der EU seien vor eine rein schweizerisch zu bestimmende Instanz zu bringen. Innerhalb weniger Wochen wich diese Haltung einer im Moment noch offiziösen, aber unausweichlichen Hinnahme einer reinen EU-Schiedsinstanz. Verhandeln in Ehren, aber diese Ausgangsposition gleicht der eines Zürchers, welcher zu Meister an die Bahnhofstrasse geht und für eine im Schaufenster mit 7’000 Franken angeschriebene Chopard-Uhr 3’000 Franken bietet. Der Misserfolg war progammiert.
Dass unter politischen Entscheidungsträgern der Schweiz solch eklatant unrealistische Vorstellungen über Prinzipien und Mechanik der EU herrschen, hat direkt mit unserem nun bereits 18 Jahre währenden Abseitsstehen zu tun. Das ideale Beitrittsfenster für die Schweiz wäre der Beitritt der anderen ehemaligen drei Neutralen im Jahre 1995 gewesen. Man kann und will wohl nicht wissen, wie eng der Spielraum in Brüssel für Beziehungen zu den wenigen europäischen Aussenseitern geworden ist. Da hilft auch vermeintliches bilaterales Wohlwollen gar nichts. Was ist nun besser: immer wieder unausweichlicher Rückwärtsgang in den autonomen Nachvollzug – oder nicht doch lieber selbstbewusste Mitbestimmung?