Man müsste sie eine Zwei-Mann-Armee nennen, wäre der eine Teil nicht eine Frau, nämlich die Mutter der männlichen Hälfte. Wie das Wort ‚Armee‘ vermuten lässt, geht es um einen Krieg. Auf der einen Seite steht Leila Seth, 83, die als Juristin Karriere gemacht hat, zuletzt als Oberste Richterin in einem Landesgericht. Letztes Jahr war sie Mitglied einer Justizkommission, die nach der Gruppenvergewaltigung einer jungen Frau im Dezember 2012 eingesetzt worden war. Ihre Empfehlungen führten zu einer radikalen Verschärfung des Gesetzes gegen sexuelle Gewalt an Frauen.
Leila Seth ist die erste Frau, die die gläserne Decke für Frauenkarrieren in der Justiz durchbrochen hat. Sie gebar auch drei talentierte Kinder, und ihr ältester Sohn Vikram ist auch international ein bekannter Schriftsteller. Wie jede indische Mutter hoffte auch Leila Seth auf Ehe und Nachwuchs in der Familie. Doch Vikrams erste Liebe war die Sprache, und sein Roman ‚A Suitable Boy‘ wurde ein grosser Publikumserfolg.
„A suitable girl for him“
Als er 1993 im ‚India International Centre‘ in Delhi das Buch vorstellte, ging ich vor der Lesung hinter die Bühne, um ihm aus einem Flachmann ein bisschen Stärkung einzuflössen. Ich kannte Vikram ein bisschen, und wusste, wie publikumsscheu er war. Er lag auf dem Boden, Arme und Beine weit von sich gestreckt. Er müsse sich beruhigen, sagte er, und nahm einen herzhaften Schluck.
Der Whisky nutzte wenig. Vikram begann mit dem ersten Satz des Buchs, und schon kam das Malheur. Statt korrekt ‚I am sure we will find a suitable boy for her’ zu lesen, kam ‘I am sure we will find a suitable girl for him’. Lautes, verständnisvolles Lachen im Publikum, denn jedermann wusste, wie sehr seine Mutter, die in der ersten Reihe sass, hoffte, dass Vikram bald heiraten würde; schon damals wurde geflüstert, dass Vikram vielleicht homosexuell veranlagt war.
Er ist es. Vor vier Jahren befasste sich das Landesgericht Delhi mit der Petition einer AIDS-Organisation, die beantragte, den Paragrafen 377 des Strafgesetzes aus dem Jahr 1861 zu streichen. Dieser verdammt jeden sexuellen Akt als ‚unnatürlich‘, wenn er nicht zwischen dem reifen männlichen und weiblichen Geschlechtsorgan der (selbstverständlich verheirateten) Partner ausgeübt wird.
Gotteslästerung
Eine ‚unnatürliche‘ Handlung kommt einer Gotteslästerung gleich; sie muss daher schwer bestraft werden, von zehn Jahren bis zu lebenslänglicher Haft. (Der historische Grund für die Brachialstrafe war ein anderer: das homophobe Klima im viktorianischen England hatte viele homosexuelle Männer zum Staatsdienst in Indien veranlasst; die Androhung einer harten Strafe im kolonialen Strafrecht sollte dieses Schlupfloch stopfen).
Wie bei anderen Kolonialgesetzen übernahm das unabhängige Indien auch dieses. Artikel 377 wurde zwar praktisch nie angewandt, aber jeder homosexuell veranlagte Mensch beider Geschlechter kennt diese Gesetzesfalle. Und so tut es die Polizei. Es ist eines der drakonischen Mittel, die sich gut eignen, um nach homosexuellen Paaren Ausschau zu halten, straflos sadistische Lust an ihnen zu stillen oder sie mit Geld zu erpressen.
Fünfzig Millionen Homosexuelle
Die AIDS-Organisation sah im Artikel 377 einen Widerspruch gegen fundamentale Verfassungsrechte, namentlich dem Recht auf Gleichbehandlung, der Nicht-Diskriminierung, und jenem auf menschliche Würde und individuelle Freiheit. Die Petition löste eine breite Debatte aus. Sie veranlasste Vikram Seth, sich zu seiner sexuellen Orientierung zu bekennen, und sich mit seiner Mutter Leila mit Verve in der Kampagne zu engagieren.
Das Gericht folgte den Antragstellern und erklärte Artikel 377 als Verfassungsbruch. Fünfzig Millionen Inder (dies die inoffizielle Schätzung der Zahl von Homosexuellen beiden Geschlechts) konnten aufatmen, umsomehr als auch der Staat keine Berufung einlegte. Einige muslimische und christliche Organisationen allerdings waren nicht zufrieden und gelangten an das Verfassungsgericht.
Die alten Männer in ihren Talaren
Nach drei Jahren des Wartens erfolgte nun vor einigen Wochen das Urteil der Obersten Richter – und sie gaben den Interpellanten Recht: Sex mit gleichgeschlechtlichen Partnern ist unnatürlich; überhaupt seien Homosexuelle eine verschwindend kleine Minderheit. Ein nochmaliges Wiedererwägungsgesuch wurde nun vor einer Woche ohne Begründung ebenfalls zurückgewiesen.
Nicht nur die Schwulengemeinschaft, die gesamte liberale Öffentlichkeit des Landes war entsetzt. Das Oberste Gericht hatte in den letzten Jahren mit ihrem sozialreformerischen Eifer fast übers Ziel geschossen und war zum Liebling der Zivilgesellschaft avanciert. Und nun bewiesen die alten Männer in ihren Talaren, dass dies offenbar ganz gut mit konservativen Instinkten einherging, die selbst Logik und Verfassungsprinzipien beiseitewischten.
Kriminalisiertes Recht
Der Doppelschlag so kurz hintereinander, und aus einer so unerwarteten Ecke, war für viele Aktivisten zuviel. Beim ersten Bannstrahl hatte es noch zahlreiche Proteste gegeben, nun blieben sie aus. Es hatte den Anschein, als hätte für die Homosexuellen der Rückzug in den Schatten der Illegalität, der Geheimhaltung und Angst eingesetzt, aus dem sie sich in den letzten drei Jahren hervorgewagt hatten.
Es war der Augenblick für Leila und Vikram Seth. Leila meldete sich mit einem aufsehenerregenden Op-Ed in der ‚Times of India‘ zu Wort: ‚Vikram ist nun ein Krimineller‘, schrieb sie. ‚Falls er einen anderen Mann liebt, und diese Liebe körperlich ausdrückt, wird er ein Verbrechen begehen, das mit lebenslänglicher Haft bestraft wird‘.
‚Als Mutter hat mich dieses Urteil bestürzt. Noch stärker traf es mich als ehemalige Richterin. Die Richter verwerfen die internationale Rechtspraxis, sie wischen die medizinische, biologische und psychologische Evidenz beiseite, und, besonders schmerzhaft, sie zeigen kein Mitgefühl für das Leiden von Mitmenschen. Was das Leben lebenswert macht, ist Liebe. Das Recht, das uns als Menschen auszeichnet, ist das Recht zu lieben. Dieses Recht zu kriminalisieren ist unmenschlich.‘
Der Kampf ist noch nicht zu Ende
Vikram Seth setzte nach, auf die ihm eigene Art. Er verfasste ein Gedicht, das er am Fernsehen – mit dem Bau des Obersten Gerichts im Hintergrund – vortrug, und das sich sofort vieltausendfach in den Sozialen Medien verbreitete. Es verdient, hier zu Gehör zu finden (und ich bitte um Nachsicht, schon wieder mit einem Gedicht zu enden):
‘Through Love’s great power to be made whole
In mind and body, heart and soul
Through freedom to find joy, or be
By dint of joy itself set free
In love and companionhood:
This is the true and natural good.
To undo justice, and to seek
To quash the rights that guard the weak
To sneer at love, and wrench apart
The bonds of body, mind and heart
With specious reason and no rhyme
This is the true unnatural crime.’
Vikram Seth nannte das Gedicht ‚Swaraj!‘. ‚Swaraj‘ war Gandhis Kampfruf für Indiens ‚Selbstbestimmung‘ gewesen. Und das Satzzeichen rief aus: Der Kampf ist noch nicht zu Ende.