Der Protestschrei kam beim letzten Fahrplanwechsel: Aus der Strecke des „Blauen Bähnli“ wurde eine Durchmesserlinie Worb – Bern Hauptbahnhof – Fischermätteli. Offenbar zu spät realisierte man, dass die Vorortsbahn, die vom Regionalverkehr Bern-Solothurn (RBS) betrieben wurde, nicht für die städtischen Schienenradien geeignet ist. Das ohrenbetäubende Kreischen in sämtlichen Kurven enragierte besonders die Bewohnerschaft bei der Endstation Fischermätteli, wo der blaue Eindringling bereits vor 6 Uhr früh das ganze Quartier aus dem Bett quietschte – was vor allem am Sonntagmorgen als eher unzumutbar empfunden wurde. Flugs musste mit erheblichem Aufwand das „Blaue Bähnli“ wieder an sein Ursprungs-Stumpengeleise beim Casino verbannt und der West-Ast der „neuen“ Linie mit Bussen ersetzt werden. Gleichzeitig unterzog man den quietschenden Sünder einer millionenteueren Radwechselkur, die noch nicht abgeschlossen ist.
Über eine Million in den Sand gesetzt
Neuerliche Testfahrten zeigten jedoch bereits vor Monaten, dass die erhoffte Schalldämpfung kaum Verbesserung brachte: Die blauen Tatzelwürmchen, die auch wegen Einstiegsschwellen, behindertenunfreundlicher Platzaufteilung und ruppiger Fahrtechnik längst den Ärger der BenutzerInnen auf sich gezogen und wochenlang die Leserbriefspalten der lokalen Presse gefüllt hatten – kreischten tapfer weiter durch Berns Strassen und Gassen. Guter Rat wurde immer teurer: Bis zum heutigen Fahrplanwechsel blieb kaum mehr Zeit für innovative Massnahmen. Obwohl der Zürcher André Kofmehl seit Jahren vom Genfersee bis nach China weltweit U- und S-Bahnen, Trams und Bähnchen mit einem speziellen Schmiermittel erfolgreich entquietscht, wurde es Spätsommer, bis man in Bern den „Tramflüsterer“ (so in der DRS-Talkshow „Persönlich“) beizog. Testfahrten zeigen nun, dass das nerventötende Kreischen weitgehend zum Verschwinden gebracht werden kann – unter Zeitdruck allerdings nur mit provisorischen, stationären Lösungen und nicht mit den viel billigeren und effizienteren - per Satellit gesteuerten - mobilen Installation auf den Fahrzeugen selbst. Bern wurde damit wieder mal seinem Billigklischee gerecht, immer etwas spät und verschlafen zu reagieren. Tragikomisch ist aber die Tatsache, dass André Kofmehl, der von Haus aus eigentlich Jurist, und nicht Ingenieur ist und einen grossen Teil seiner Freizeit als Musiker und Chorleiter verbringt, in Zürich zurzeit zum 14. Mal den alljährlich von ihm initiierten Singing Christmas Tree am Werdmühleplatz betreut: Singende Chöre auf einem riesigen Tannenbaum während der Adventszeit.
Roland Jeanneret befragte André Kofmehl, wie er zwischen den verschiedenen Formen von „Musik“ lebt? Seit ich mich mit Kurvenkreischen befasse, kenne ich nun alle Frequenztypen, denen wir als Menschen im Konzertsaal oder auf der Strasse ausgesetzt sind. Gerade die Dezibel-Messungen haben mir gezeigt, wie viel Lärm wir um uns herum haben. Mich stört besonders die Hintergrundmusik in all den Geschäften und Einkaufszentren. Überall werden wir von Musik zwangsbegleitet. Das Kurvenkreischen ist für mich eine Spezialität, bei der ich immer versuche, etwas herauszuhören, um dabei zu lernen, wie ich diesen Lärm beheben kann. Also an Spannung fehlt es mir nie.
Wie kamen Sie seinerzeit als Jurist auf die Lärmbekämpfung bei Bahnen? Ich hatte bereits als Geschäftsmann mit Bahnen und mit Bahnunterhalt zu tun. Durch Zufall wurde ich von meinem Garagisten angefragt, ob mein Schmierstoff auch gegen Bremsenquietschen etwas bringe. Mein Auto musste durch die Verkehrskontrolle und hatte keine gute Bremsleistung mehr. Zum ersten Mal wurden dann die Bremsscheiben mit unserem Spray geschmiert und eingebremst. Mein Auto bestand die Kontrolle bestens. So kamen wir auf die ldee, unsere Produkte vermehrt als Reibwert-Veränderer einzusetzen. Somit war das Thema geboren. Inzwischen ist der Bremsenservice-Spray für die Autoindustrie weltweit im Einsatz und erfreut nun auch Mountain-Biker für deren Scheibenbremsen. Die Verkehrsbetriebe Zürich VBZ brachten damals bereits das Thema Kurvenkreischen in die Zeitungen. So fand ein Gespräch statt und wir machten die ersten Feldversuche, die überzeugend waren.
Wie entsteht überhaupt das lästige Quietschen und Kreischen? Die Ursache des Kurvenkreischens ist zwar bekannt, aber sehr komplex. Man spricht vom Stick-Slip-Effekt auf dem Schienenkopf der Innenschiene und dem Spurkranzkontakt an der Aussenschiene. Diese Reibungen führen zu Schwingungen an den Rädern. Schienenzustand, aber auch Witterung, Luftfeuchtigkeit etc. spielen dabei eine Rolle. Der Vergleich mit der Glasharfe als Musikinstrument ist zutreffend, wenn man mit einem nassen Finger über die Glaskante streicht. Nur erreichen auf der Schiene die Frequenzen Spitzen bis zu 8000 Hz und eine Lautstärke bis zu 110 dB. In einer Sekunde können bis zu 1000 solcher Effekte nachgewiesen werden.
Was ist das für ein Schmierstoff und wie umweltverträglich ist er? Das Produkt, das den Reibwert verändern soll, wird in Fachkreisen «Friction Modifyer» bezeichnet. Ein FM ist jedoch nichts anderes als ein öliger Schmierstoff, der zwischen den Reibpartnern aufgetragen wird und den Reibwert reduziert. Bei Fachleuten wird der Begriff «Schmieren» jedoch nicht gerne gebraucht. Man glaubte lange, dass die ganze Kurvenstrecke lückenlos abgedeckt werden muss. Das ist nicht notwendig - Beispiel Weinglas. Wichtig ist, dass im Schmierstoff eine hohe Anzahl von Festschmierstoffen vorhanden sind, die dann, verteilt auf dem Schienenkopf, in die Oberflächen der Reibpartner eingedrückt werden. Die Filmstärke ist das wichtigste und heikelste Kriterium. Da genügen normale Fette und Öle nicht mehr. Selbstverständlich muss das Produkt abbaubar sein und allen Umweltvorschriften entsprechen.
Ist das Problem nur technischer Natur? Leider nein – die Problematik liegt oftmals eher in der Struktur der Verkehrsbetriebe. Man hat immer mit zwei Departementen, Gleisbau und Rollmaterial, zu tun, die untereinander meistens ums selbe Budget streiten. Schmierstoff, Applikationssystem (stationär oder mobil) und Steuerung (z.B. über GPS) sind eine Einheit, in den Bahnbetrieben aber oft getrennte Abteilungen. Unsere Stärke ist, dass wir diese drei Komponenten weltweit exklusiv vereint anbieten.
Aber es gibt doch sicher Nachahmer oder gar Fälschungen…? Es gibt viele Anbieter von Systemen und Schmierstoffen, doch keiner von ihnen kann die Problemlösung als Total Service erfüllen, ihnen fehlt das jahrelange Know-how. Fälschungen beim Schmiermittel gibt es zur Zeit in China. Dort mussten wir uns mittlerweile durch das Ministerium of Railway vertreten und schützen lassen.
In Bern besteht zurzeit noch wenig Gefahr von Nachahmerprodukten. Viele Anwohnerinnen und Anwohner von Schienenkurven und Endstationsschlaufen wären im Gegenteil heilfroh, man hätte schon etwas früher gemerkt, dass ein Zürcher die Berner Strassenbahnen hätte entquietschen können…