Besonders gestraft ist der FDP-Vorsitzende Guido Westerwelle, der mit dem stolzen FDP-Wahlergebnis von 14.6 Prozent antreten konnte. Als designierter Vizekanzler in der Koalition fiel ihm das Amt des Aussenministers zu, aber es gab Zweifel. Wäre er nicht besser im Bereich Finanzen oder Wirtschaft aufgehoben? Auch aus anderen Gründen zogen sich die Verhandlungen, die ursprünglich sehr kurz sein sollten, immer mehr in die Länge. Als man sie endlich abgeschlossen hatte, und die Regierung am 28. Oktober 2009 vereidigt wurde, war die Hochstimmung schon vorbei. Es sollte nicht mehr lange dauern, bis das Wort vom Fehlstart die Runde machte und Westerwelle einen beispiellosen Verlust an Ansehen und Autorität hinnehmen musste. Waren die neuen Schuhe zu gross für ihn? Konnte er nur so lange erfolgreich die Trommel rühren, wie er keine anderen Gesichtspunkte als allein parteitaktische im Auge behalten musste? Die FDP liegt in den meisten Umfragen derzeit noch bei 5 Prozent.
Wofür steht Merkel?
Auch Angela Merkel konnte gerade in den eigenen Reihen nicht überzeugen. Ihre grösste Stärke ist zugleich ihr grösstes Handicap: ihr Machtinstinkt. Die „Grosswildjägerin“ hatte nach und nach tatsächliche oder mögliche Konkurrenten aus dem Weg geräumt, vom Finanzexperten Friedrich Merz bis zu Roland Koch, ehemals Ministerpräsidnt von Hessen. Aber wofür steht sie – ausser für sich selbst? Auf der anderen Seite hat sie ersichtlich wenig Autorität. Minister und Landesfürsten profilierten sich sich in medienwirksamen Auftritten auf ihre Kosten. Jeden Tag ein anderes Interview, jeden Tag ein neues Feuer.
„Mutti“, so die andere Bezeichnung der „Grosswildjägerin“, scheint den Ereignissen immer hinterher zu laufen. Sie schätzt Stimmungen und Mehrheiten ein und setzt sich dann an die Spitze. Das frustriert ihre engsten Mitarbeiter ebenso wie ihre Parteikollegen oder Kabinettsmitglieder. Auf der anderen Seite neigt sie dazu, Entscheidungen an Gremien vorbei zu treffen. Damit landet sie so manchen Coup, aber unter höchsten Risiken. Beispiel: die Wahl des Bundespräsidenten.
Entscheidung am Küchentisch
Anfang 2004 hatte sie quasi am Küchentisch von Guido Westerwelle den Plan ausgeheckt, den damals öffentlich nahezu unbekannten Geschäftsführenden Direktor des Internationalen Währungsfonds Horst Köhler zum Bundespräsidenten wählen zu lassen, um den ungeliebten Wolfgang Schäuble buchstäblich im letzten Moment zu verhindern. Der Coup gelang. Köhler wurde ein unerwartet beliebter Präsident und für eine zweite Amtszeit wiedergewählt. Aber da er kein gelernter Politiker war, sich auch kritische Bemerkungen zur Bundesregierung gestattete und nicht jedes Gesetz ausfertigte, fiel er bei ihr in Ungnade. Isoliert im politischen Berlin verstummte Köhler und wurde in der Presse prompt als „Schlossgespenst“ verspottet. Überraschend trat er am 31. Mai 2010 zurück.
Schnell wurden diverse Namen gehandelt, darunter auch der der beliebten Ursula von der Leyen, Bundesministerin für Arbeit und Soziales. Merkel spielte wieder mit verdeckten Karten und zog zuletzt den Ministerpräsidenten von Niedersachsen, Christian Wulff, aus dem Ärmel. Auf diese Weise wollte sie einen letzten potentiellen Rivalen in einem komfortablen Gehege unschädlich machen. Die Opposition nominierte den ehemaligen ostdeutschen Pfarrer und langjährigen Leiter der Stasi-Unterlagen-Behörde Joachim Gauck. Dadurch entstand eine völlig neuartige Mobilisierung in der Bevölkerung für Gauck. Wulff wurde am 30. Juni 2010 erst im dritten Wahlgang gewählt und fiel bis jetzt eher durch Ungeschick auf. Am 3. Oktober wird er am Tag der deutschen Einheit in seiner Rede zeigen müssen, welches Format er hat.
Eine unbeantwortete SMS
Jeder wusste: Die aus der ehemaligen DDR stammende Merkel hätte genauso gut dem ihr eng vertrauten und verbundenen Joachim Gauck den Vorrang geben können. Das ist ihr vom SPD-Chef Sigmar Gabriel sogar in einer SMS angeboten worden. Doch für Merkel ging es um ein Machtkalkül. Was aber ist heutzutage Macht? Funktioniert Politik tatsächlich nur noch nach Merkelschem Muster, also mit gewiefter Taktik und dem frühen Erkennen von Trends? Einiges spricht dafür. Schon Helmut Kohl hatte man vorgeworfen, schwierige Situationen einfach „auszusitzen“. Sein Nachfolger Gerhard Schröder war ebenso Taktiker wie Machtmensch. Er kommt aus der Generation der 68er, die in der politischen Arena mit Merkel die Eigenschaft teilt, alles aus dem Weg zu räumen, was irgendwie als Konkurrenz gefährlich werden könnte.
Visionäre Kraft, wie man sie noch bei Willi Brandt bewundern konnte, und persönliche Glaubwürdigkeit und Autorität, wie sie bei Richard von Weizsäcker und gerade auch bei Joachim Gauck so sehr geschätzt wurden, spielen ganz offensichtlich eine immer geringere Rolle. Zwar erwecken die Medien den Eindruck, komplizierte Sachfragen liessen sich verstehen, wenn man sich nur genügend mit der Persönlichkeit der jeweiligen Politiker beschäftigt, aber das ist eine Täuschung. Das zeigt die Problematik des Gesundheitsministers Philipp Rösler. Dieser blitzgescheite, souveräne und humorvolle Mann beisst sich an den Problemen des versäulten Gesundheitssystems die Zähne aus. Andere, wie Ursula von der Leyen oder Karl-Theodor Freiherr von und zu Guttenberg als Vertteidigungsminister stellen vielleicht einen neuen Typus von Politikern dar. Sie nutzen ihren Biss und ihr Charisma, um ihre Ziele klar zu benennen und sich über Zwänge des Politikbetriebes und der Administration wenigstens punktuell hinweg zu setzen.
Erfolge zu Erfolgen machen
Kluge Kommentatoren haben trotz aller Kritik an Merkel und ihrer Bundesregierung hervorgehoben, dass diese in den vergangenen Monaten im Zeichen der weltweiten und regionalen Finanzkrisen vor ganz ungewöhnlichen Herausforderungen stand. Das stimmt aber nur halb. Denn anders als dem ehemaligen Finanzminister Peer Steinbrück fehlt ihnen die persönliche Überzeugungskraft. Deswegen gelingt es ihnen auch nicht, Erfolge wie die jetzige wirtschaftliche Verbesserung in Deutschland auf ihre Fahnen zu schreiben. Vielleicht wird der neue Regierungssprecher Steffen Seibert, ehemaliger Nachrichtenmoderator vom ZDF, dieses Defizit beseitigen.