Man wird sich die kleine Schrift (61 Seiten) unseres geschätzten Autors Matthias Zschokke, wenn man bekennender Liebhaber des Proustschen Werks ist, natürlich nur mit gemischten Gefühlen zu Gemüte führen. Amüsement fndet sich in der Mischung neben harschem Widerspruch, Neugier, die an Masochismus grenzt, knirschende Respektierung einer Meinung, die man nicht teilt. Weil es um literarische Sprache geht und weil Matthias Zschokke ein ebenso gewiefter wie begabter Sprachkünstler ist, wird man, vielleicht widerwillig, sogar so etwas wie Lesegenuss empfinden nach der Lektüre dieser Proust-Schmähung.
Aus irgendwelchen Gründen beschliesst unser in die Jahre gekommener Autor eines Tages, er müsse dringend etwas nachholen, eine Bildungslücke schliessen und Marcel Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ lesen. Den ganzen Romanzyklus (ca. 5000 Seiten), in deutscher Uebersetzung. Ein löbliches Unterfangen, das unserem Schriftsteller-Leser, der den ihm selbst gestellten Auftrag peinlich genau ausführt, einen miesen Sommer beschert. „Mit stechenden Kopfschmerzen, starken Schwindelgefühlen und heftiger Uebelkeit“, so erzählt uns der arme, von Proust malträtierte Pflichtbewusste, nimmt er die letzte Etappe in Angriff. Scheint Zschokke zu Beginn des Abenteuers Proust und seinem Romanzyklus noch in einer Art von Hass-Liebe verbunden, so verschiebt sich die (Un)gleichung Seite für Seite Richtung Abneigung, Empörung, Wut, ja Ekel!
Monströser Lügner?
Nun ist Zschokke wie gesagt ein erfahrener Schreiber und so wird er diese und jene Attacke gegen den Franzosen lustvoll und spielerisch ausgestaltet haben, wirkungsbewusst, pour épater la galerie. Trotzdem die Frage: Wie kann er sich so verrennen? Wie kann er den Urheber der allerschönsten Sätze und Szenen der Literatur des 20. Jahrhunderts einen „monströsen Lügner, Angeber, Arschlecker, Feigling“ nennen? Das Problem ist, dass Zschokke eine Einsicht, die er ganz zu Beginn seiner Polemik äussert, nicht wirklich beherzigt. „Die Sprache ist der Inhalt“ bei Proust, sagt sich Zschokke, womit er Recht hat. Was den Stoff der „recherche“ angeht, die handlungsarme, nuancierte Beschreibung einer vergangenen, grossbürgerlich und adlig geprägten Welt, die sich vornehmlich in Salons spiegelt, so wäre er, für sich genommen, heute keines Interesses wert. Allein die mit Hilfe von Erinnerung und Einbildungskraft angetriebene Umsetzung in Bilder, Reflektionen, Beschreibungen, Sätze, Wörter zählt und formt das Kunstwerk.
Marcel Proust, der sich an seiner Sprachlawine bis aufs Totenbett abgearbeitet hat, wurde in seinen zahlreichen Briefen an Freund und Feind nicht müde darauf hinzuweisen, dass das Ich seines Erzählers ein multiples sei, ihm selbst mal mehr mal weniger verwandt, dass es irrig wäre, von diesem jeweiligen Erzähler auf die Person des Autors zu schliessen und dass im übrigen alle auftretenden Personen keine lebendigen Vorbilder hätten, sondern aus Figuren der Realität, der Erinnerung, der Literatur zusammengesetzt seien. Zschokke aber verbeisst sich immer mehr und tiefer in den Stoff, die Figuren, die Charaktere, identifiziert den Autor mit den verschiedenen Ich-Erzählern, was alles seinen Ärger befeuert – und vom Eigentlichen, von der Sprache wegführt.
Muss man oder muss man nicht?
Geschrieben hat er ein schlaues und unterhaltsames Büchlein. Seine 5000-Seiten-Lektüre diskutiert er mit einer französischsprachigen Uebersetzerin, mit einem Freund, mit Luzius Keller, dem Herausgeber der massgeblichen deutschen Proust-Ausgabe. Die Antworten der angeschriebenen Brief- oder Mail-Partner auf seine kritischen Fragen können wir nur in Fragmenten aus Zschokkes Reaktionen erkennen; sie vermögen jedenfalls nicht, seinen zunehmenden Verdruss zu tilgen oder auch nur zu mindern. Wie er sich als (scheinbar) naiver, eigensinniger, trotziger Leser vortastet, der Uebersetzung misstraut, aufs Eifrigste knifflige Fragen nach der Bedeutung dieser und jener Anspielung zu klären versucht und dann eben (leider) mehr und mehr den Stoff, die Person des Autors ins Visier fasst – das nervt und unterhält gleichermassen und kann einem auch, in der Unverblümtheit mit der Zschokke operiert, zu Erkenntnissen verhelfen, auf die man nicht vorbereitet war.
Das Schönste am Lesen, wenn man es nicht aus beruflichen Gründen tut, ist ja die Freiheit, die es einem lässt. Man liest langsam, schnell, liest alles oder überfliegt ganze Absätze, man liest am Stück oder in Portionen – man legt das Buch mittendrin weg und schaut nie mehr rein. Warum um Himmels Willen mutet sich Matthias Zschokke 5000, in seiner Wahrnehmung mehrheitlich von der Pest verseuchte, Seiten zu, vermasselt sich einen Sommer und fast die Gesundheit? Weil man das gelesen haben muss, meint er 60 Seiten lang, um uns dann doch auf Seite 61 mitzuteilen: „Was man gelesen haben muss, muss man nicht gelesen haben.“ Ein schönes Paradox, das ihn hoffentlich über den verhagelten Proust-Sommer hinwegzutrösten vermag.
Matthias Zschokke: Ein Sommer mit Proust. Wallstein Verlag. 2017, CHF 18.90.
Ein Hinweis für Proust-Liebhaber: Am 4. Dezember diskutiert im Literaturhaus Zürich unter der Leitung des Proust-Experten Luzius Keller unser Autor Matthias Zschokke mit den ausgewiesenen Proust-Kennern Stefan Zweifel (der für die Andere Bibliothek die Urfassung der „recherche“ übersetzt hat) und Andreas Isenschmid (der im deutschen Kunstverlag unter dem Titel „Marcel Proust“ eine Biografie publiziert).