Wie fühlt es sich für einen Sohn an, einen Vater zu haben, der im öffentlichen Leben eine bekannte und erfolgreiche Persönlichkeit, ihm selbst aber zutiefst fremd war, der ihn «nie spontan umarmt, geherzt oder geküsst» und ihn nie bei seinem Namen gerufen hat?
Piet Meyers Vaterbuch blickt auf eine solche missratene Vaterbeziehung zurück und fasst dieses lebensbestimmende Defizit und den damit zugetragenen Schmerz in Worte. Die Frage, wer dieser präsente Unbekannte wirklich war, zieht sich als roter Faden durch das Buch, das jetzt erschienen ist, nachdem es an früheren Anläufen des Schreibens gescheitert war. «Ich wollte nie über ihn schreiben. Weil ich auch nicht wusste, was ich beschreiben sollte. Ich habe ihn nicht gekannt. Wie ein Loch beschreiben? Wie das Nichts beschreiben?» Aber gerade aus diesen «Löchern» ist ein mitreissendes und aufschlussreiches Bekenntnisbuch und ja, auch eine Familiengeschichte entstanden, die der studierte Ethnologe und spätere Verleger Piet Meyer mit historischem Scharfblick aufdeckt.
Des Vaters Ehe mit Ida Chagall
Der Vater, um den es hier geht, war Franz Meyer (1919–2005), Kunsthistoriker, Leiter der Kunsthalle Bern und von 1962 bis 1980 Direktor des Kunstmuseums Basel, das unter seiner Leitung zur einzigartigen Sammlung amerikanischer Kunst des 20. Jahrhunderts kam und nicht zuletzt dank seinem Überzeugungskapital 1967 die legendäre Volksabstimmung zum Ankauf von zwei sehr teuren Picasso-Bildern gewann. Über Jahrzehnte war er zweifellos einer der «movers and shakers» der Kunstwelt, versehen mit allen Ingredienzen, die für die Eigenheiten dieses Milieus Voraussetzung sind: neugierig, passioniert, beharrlich, mutig und nicht zuletzt verknüpft mit den wichtigen Namen aus der Kunst-, Intellektuellen- und Wirtschaftswelt.
Der noch junge Franz Meyer, der seinerseits aus einer vermögenden Zürcher Familie kam, hatte durch die Verbindung und spätere Heirat mit Ida Chagall, der Tochter des Malers Marc Chagall, das Glückslos erneut gezogen. Ihr verdankte er seinen Sprung ins aufregend Neue und Internationale der 1950er-Jahre in Paris ohne Hürden. Ida war das, was man «vernetzt» nennt, und sie war in den Worten von Piet Meyer «hochemotional, häufig sehr exaltiert, hochexplosiv, umwerfend charmant und genuin offen. Sie stellte das Gegenteil einer zwinglianisch-zürcherischen Vernunftswelt dar». In Paris bewohnte das Paar ein «wunderschönes altes Haus». Die Türen standen offen für illustre Gäste aus aller Welt, und man glänzte auf dem sozialen Parkett, auch an den späteren väterlichen Arbeitsorten in Bern und Basel.
Für die drei inzwischen geborenen Kinder des Paares blieb hingegen wenig Zeit. Wenn die Mutter weg war, und das war sie oft, wurden Piet und seine beiden Schwestern einem sadistisch veranlagten Kindermädchen für die gute Erziehung überlassen. Und der Vater, Franz Meyer, war auch dann beschäftigt, wenn er anwesend war. Das Interesse an seinen Kindern war nicht nur gering, sondern überhaupt nicht vorhanden. Ein Essensritual am Familientisch, sofern es einmal stattfand, schildert Piet Meyer als Schreckensritual für die Kinder: «Wenn er (der Vater) fertig war und wieder aufbrach, fühlte er sich, auf der Schwelle stehend, merkwürdig oft dazu berufen, rasch die Bemerkung fallen zu lassen, wie schade es doch sei, dass die NASA noch nicht die Essenspille erfunden habe. Dann hätte man aufs Essen ganz verzichten können. Natürlich wäre ihm dies gelegen gekommen. Er hätte uns gar nicht mehr sehen müssen. Auf seinem Flug zum Mond kam er in seiner narzisstischen Kapsel gut und gerne ohne Kinder aus.»
Bezug und Distanz zu Kafkas «Brief an den Vater»
Die problembeladene Vater-Sohn-Beziehung hat der Literatur bekanntlich reichlich Stoff gegeben, und zu unserem Zeitbild gehören die unzähligen Bekenntnisbücher, die das Allerintimste und eigentlich Private offenlegen und sich irgendwie gleichen. Sie alle handeln von der Empörung und Auflehnung und mitunter auch der gelungenen Loslösung vom Vater als dem physischen oder emotionalen Folterer. Und täuschen dennoch nicht darüber hinweg, dass das Kind immer in irgendeiner Form an den Vater gebunden ist. Nach wie vor ist Franz Kafkas «Brief an den Vater» für diese Thematik beispielhaft, aber insbesondere weckt Piet Meyers Buch die Erinnerung an Fritz Zorns «Mars», das bei seinem Erscheinen 1977 grosses Aufsehen erregte und für die emotionale Mangelernährung in einer gutbürgerlichen Zürcher Familie stand. Beide Werke werden vom Autor erwähnt, von Kafka aber, mit dem er den leistungsstarken Vater teilt, setzt er sich entschieden ab. «Eines kann ich mit Bestimmtheit sagen: Es handelt sich nicht um einen weiteren ‘Brief an den Vater’. Und zwar nicht nur, weil ich nicht Kafka heisse.
Ein Brief will Antwort.» Abgesehen von der Tatsache, dass Kafkas Brief den Vater nie erreichte und der Sohn ihm die zu erwartenden Antworten in den Mund formulierte, lässt sich der hauptsächliche Unterschied daran festmachen, dass man sich im Hause Kafka immerhin gegenseitig zur Kenntnis nahm und einen, wenngleich beschädigten, Dialog führte, während Franz Meyers Nicht-Beachtung für seinen Sohn mit vollendeter Konsequenz ablief.
Wer sein Vater war, was er wirklich tat, davon hat Piet Meyer zuhause nie etwas erfahren. Kaum vorstellbar, dass der Vater ihn nie in das von ihm geleitete Museum mitnahm, ihn nie zur Kunst hinführen mochte, wie er damit bei anderen glänzte, dass sich der Sohn alles selbst aneignen musste und verwundert war, was er fand und erst später erfuhr. Vom Picasso-Wunder oder dem Barnett-Newman-Streit in Basel «habe ich, wie jedermann sonst, aus der Presse oder aus der späteren Museumsliteratur erfahren». «Bin ich überhaupt der Sohn dieses Mannes, dass ich all dies nicht weiss?»
Blick zurück in die Familiengeschichte
Eine geradezu metaphysische Steigerung erfährt diese Abwesenheit des Vaters durch sein Schweigen. Er schwieg seinen Kindern gegenüber nicht nur über das, wer er war oder was er tat, er schwieg auch zur Familiengeschichte. Für den Sohn bleibt die Frage offen, ob er bewusst «ver-schwiegen» oder einfach nur «weg-geschwiegen» hat. Aber gerade aus diesem Schweigen zieht das Buch die Wurzel und ihm verdankt es seine Besonderheit. Die primären Quellen, die aus spärlichen Fakten, Erinnerungsfetzen und Eindrücken aus Kindheit und Jugend bestehen, kann Piet Meyer erst durch seine späteren Nachforschungen erhellen. Sie führen zum Urgrossvater, Fritz Meyer-Fierz (1847–1917) zurück, der Tabakplantagen auf Sumatra betrieb und dem die Familie das grosse Vermögen verdankt. Nach seiner Heimkehr hatte er in Zürich ein erstes prächtiges Haus bezogen.
Das zweite folgte mit der Villa Brandt an der Südstrasse in Zürich, inzwischen unter Denkmalschutz gestellt und deshalb noch immer von seinem umfangreichen Park gesäumt. Hier starb auch Franz Meyer 2007, die Hauptfigur in diesem «Vaterbuch». Nach seinem Ausscheiden als Museumsdirektor von Basel war er in sein Elternhaus nach Zürich zurückgekehrt, wo er als Sohn des gleichnamigen Franz Meyer (1889–1962) auch zur Welt gekommen war. Franz Meyer Senior wiederum war wie sein Vater ein Unternehmer und er hatte Einsitz in mehreren Verwaltungsräten führender Zürcher Geldinstitute.
Häuser haben Türen. Sie präzisieren das soziologische und ökonomische Umfeld. Wer wird reingelassen und wer muss draussen bleiben? Und was bleibt hinter verschlossenen Türen und was darf nach aussen dringen? Verschlossene Türen öffnen – das liefert die Gerade in diesem durchaus komplexen Buch. Piet Meyer blickt ehrlich und unerschrocken hinter die Kulissen. Zu den Besonderheiten dieser Familie zieht er die Zeitgeschichte und den Zeitgeist heran, immer schonungslos mit den Akteuren und darunter auch solchen, die noch leben und sich daran kaum erfreuen werden. Entsprechend warnt der Buchrücken: «Das vorliegende Buch wird viele erstaunen – und entsetzen». Entsetzen wird es mit Sicherheit jene Leser, die Heucheleien mit Gefühlskälte verwechseln könnten, nicht aber jene Leser, die inzwischen mit einer aufgeklärteren Sicht auf die Schweizer Geschichte ausgestattet sind und unschönen Aspekten der Kolonialzeit (Urgrossvater Fritz Meyer-Stünzi) oder der nazifreundlichen Gesinnung eines Teils der Schweizer Elite im Zweiten Weltkrieg (Grossvater Franz Meyer) wachen Auges begegnen können.
Familiäre Nähe zu Meisterwerken der Moderne
Von Liebe einer anderen Art spricht dieses Buch auch. Es ist die Liebe zur Kunst. Der ganze Meyersche Generationenhaushalt war davon infisziert, und es gehört mit zum Eindrücklichen dieses Buches, wie Piet Meyer sich selber und den Leser an viele bekannte und inzwischen in alle Welt zerstreute Meisterwerke der Moderne heranführt. Sie waren durch die Meyerschen Augen, Hände und Besitz gegangen, zu früher und zeitgerechter Stunde und mit kühnem Blick. Von vielen Werken wusste der Autor – den vielen «Löchern» in seiner Familiengeschichte geschuldet – nichts. So besass schon sein Urgrossvater, Fritz Meyer-Fierz, eine immense Anzahl von Werken Ferdinand Hodlers, und von seinen Gauguins, Van Goghs oder Cézannes hängen heute einige als Paradewerke im Metropolitan Museum, in der Eremitage oder im Philadelphia Museum. Ein früher Mondrian ist auch in der Tate Modern in London zu finden.
Der Sammlerblick des Grossvaters, Franz Meyer senior, fiel dann naturgemäss auf eine nächste und ebenso aktuelle Zeitgenossenschaft von Künstlern. Delauney, Modigliani oder Chagall sind hier stellvertretend aufgeführt, hinzu kamen Erneuerer aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wie Rothko, Sam Francis oder Clyfford Still. Natürlich hingen auch diese Werke in der Villa Brandt und Piet Meyer hat sie bei seinen spärlichen Besuchen da gesehen, soweit ein Kind das Selbstverständliche vom Besonderen unterscheiden kann. In besonderer Erinnerung blieb diesem Kind jedenfalls Henri Rousseaus grossformatiges Bild «Le lion, ayant faim, se jette sur l’antilope» (1898/1905), über das eine erfrischende Plauderei aus dem Nähkästchen verrät, wie das von Vater und dessen Schwester gemeinsam geerbte Werk in die Sammlung des Kunsthändlers Ernst Beyeler kam, von diesem trickreich orchestriert.
Dem dunklen Schatten der Vernachlässigung zum Trotz regt sich das familiäre Kunst-Gen auch bei Piet Meyer. Vielleicht kann man es bei ihm als eine intuitive Sehschulung ausmachen, die ohne das übliche kunsthistorische Vokabular anregende Treffer liefert. So wie bei der naheliegenden Frage, wie es sein konnte, dass der Urgrossvater Fritz Meyer-Fierz aus einfacher Toggenburger Familie in Übersee in zehn Jahren nicht nur das beträchtliche Familienvermögen erwirtschaftet, sondern nach seiner Rückkehr in den 1880er-Jahren bis zu seinem Tod auch eine Kunstsammlung zusammengetragen hatte, die jede Sehgewohnheit der damaligen Zeit sprengte und ihn auch auf diesem Feld als einen der Pioniere in der Schweiz auszeichnete.
Leidenschaftlich unversöhnte Beziehung
Piet Meyer stellt für den Augenfall seines Grossvaters auf die primitivistische Formensprache der Künstler am Ende des 19. Jahrhunderts, mit der sie die Moderne einläuteten, eine überzeugende Diagnose. «Er musste keine Museen und Sammlungen von Kunst aus Asien und Indonesien aufsuchen. Er sah sie vor Ort ... hatte die hiefür notwendige Sehschulung schon 25 oder 30 Jahre vor Picasso und den Brückemalern durchlaufen.» «Sein Auge war an radikal Fremdes gewohnt.» 72 Objekte von diesem «radikal Fremden» überliess Meyer-Fierz denn auch dem Völkerkundemuseum in Zürich.
Als Collage aus intimem Bekenntnis, Augenzeugenbericht, Milieustudie und Nachforschung will dieses Vaterbuch in keine Bücherkategorie passen. Umso schärfer und dramaturgisch konsequent führt der Impuls, dem dieses Schreiben über den Vater zu verdanken ist, durch sämtliche Kapitel. Am Ende des Buches lebt sich diese Vater-Sohn-Beziehung leidenschaftlich unversöhnt aus, so viel sei hier verraten. Aber lesen Sie diese Episode aus dem wirklichen Leben selbst!
Piet Meyer: Franz Meyer, der Museumsmann. Ein Vaterbuch. Till Schaap Edition, Bern 2022, 310 Seiten, 78 Abbildungen, Preis ca. CHF 42.-