Die Sicherheitslage hat sich allerdings seit dem Frühling nicht verbessert sondern verschlechtert. Die Unabhängige Wahlkommission, die für die Durchführung der Wahlen verantwortlich ist, hat beschlossen über 1000 der 6835 ursprünglich vorgesehenen Wahlbüros nicht zu eröffnen, weil die Sicherheit in den betroffenen Gebieten keine Abstimmung zulasse.
Die Taleban haben ihrerseits angekündigt, sie würden all jene, die an den Wahlen teilnähmen, bestrafen. Sie hätten Massnahmen vorbereitet, um das zu tun, teilten sie ominös mit. Dennoch haben sich viele Afghanen als Kandidaten für die 249 Parlamentsposten gemeldet. Es sollen weit über 2000 sein. Drei der Kandidaten und 15 Wahlhelfer wurden in der Vorwahlperiode ermordet.
Wahlbeobachter nur in den Städten
Parteien spielen keine grosse Rolle bei den Wahlen. In den ersten Parlamentswahlen von 2005 waren sie nicht zugelassen, weil es noch kein Parteiengesetz gab. Ein solches wurde in der Zwischenzeit verabschiedet. Allerdings so spät vor dem Wahlgang, dass es nur fünf der rund 30 bestehenden Parteien gelang, die bürokratischen Hürden zu überwinden und ihre Kandidaten legal eintragen zu lassen, bevor die neue Wahlperiode begann.
Im wesentlichen kämpfen um die Parlamentssitze lokal bekannte Persönlichkeiten gegeneinander. Ihre Anhänger stimmen für sie, weil sie sich von ihnen Vorteile für ihre Familie und ihre lokale Gemeinschaft erhoffen. Sie sehen in ihnen primär ihre Interessenvertreter.
Es gibt 500 internationale Wahlbeobachter, aber sie können wegen der Sicherheitslage nur in den Städten die Wahlen verfolgen.
Gefälschte Wahlzettel, in Pakistan gedruckt
Die grössten Wahlfälschungen in der gefälschten Präsidentenwahl des vergangenen Jahres fanden auf dem Lande statt. Wie es ein Afghane schilderte: „Die Leute wagten nicht an die Wahlurnen zu gehen, wegen der Drohungen der Taleban. Die Wahlbüros standen leer. Dann kamen plötzlich die Helikopter der Regierung, stopften die Urnen mit ihren Wahlzetteln voll und flogen mit ihnen davon nach Kabul."
Die Wahlkommission besteht diesmal aus unabhängigen Persönlichkeiten. Sie versichert, dass es diesmal zu weniger Wahlfälschungen kommen werde. Das letzte Mal bestand die Wahlkommission aus Leuten, die Präsident Karzai ernannt hatte.
Ideale Sauberkeit erwartet auch die neue Wahlkommission nicht. Im Vorfeld der Wahlen wurden 3000 gefälschte Wahlzettel in der Provinz Ghazi gefunden. Sie seien in Pakistan gedruckt worden, teilte der Provinzgouverneur mit.
12,5 Millionen legale Registrierkarten sollen unter der Bevölkerung verteilt worden sein. Doch gibt es Gewährsleute, die wissen wollen, 5 Millionen mehr gefälschte Wahlausweise befänden sich ebenfalls im Umlauf, um gewissen Leuten zu erlauben, mehrmals zu stimmen.
Die Taleban, jetzt auch im Osten und Norden
Ob das wirklich zutrifft, weiss wohl niemand. Doch dass solche Gerüchte umgehen, zeigt das grosse Misstrauen, das bei der Bevölkerung vorherrscht. Der Skandal der Kabul Bank, der unmittelbar vor den Wahlen aufflog, dürfte diese Stimmung noch weiter anheizen. Die Bank wurde inzwischen von der Staatsbank übernommen. Ein Bruder Karzais und mehrere seiner engen Vertrauten gehörten zu ihren Hauptaktionären und bisherigen Hauptprofiteuren.
Die unsicheren Regionen dürften in erster Linie in den südlichen Landesteilen der Pashtunen liegen. Doch im Frühjahr sind Amerikaner und Briten in den Südwesten des Landes, ins Helmand Tal, vorgestossen. Deshalb zogen die Taleban vermehrt in nördliche und östliche Landesteile und haben auch diese unsicher gemacht.
Im Südosten leben die Pashtunen als geschlossene Ethnie, doch im Norden und Westen gibt es kleinere Siedlungsflecken mit pashtunischen Gruppen innerhalb der Gebiete, in denen mehrheitlich andere afghanische Völker leben, Tajiken, Hazara, Usbeken, Turkmenen.
Die Taleban haben 33 von 34 Provinzen infiltriert
Solche Flecken von Stammesbrüdern erleichtern es den überwiegend pashtunischen Taleban, auch Regionen zu infiltrieren, in denen andere, ihnen oft feindliche, Volksstämme siedeln.
Überall finden sie Landsleute. Dies hat seit der amerikanischen Offensive im Helmand zu einer Lage geführt, in der nur noch eine der 34 Provinzen Afghanistans, nämlich Panjshir, eine Hochburg der Tajiken, als gänzlich frei von Infiltrationen der Taleban gilt. Vor 4 Jahren waren die Taleban nur in 4 der 34 Provinzen aktiv.
Allein im August: 1353 Taleban-Angriffe
Die verschiedenen Hilfsorganisationen, die eigentlich auf dem Lande arbeiten sollten, wo der grösste Teil der Bevölkerung lebt, sehen sich gezwungen, ihre internationalen Fachleute in Kabul zu konzentrieren.
Viele haben noch Büros ausserhalb der Hauptstadt, doch werden diese nur von afghanischen Angestellten betrieben. Eine dieser Hilfsorganisation, Care, sagt, sie habe 10 Büros mit total 1000 Angestellten im Lande verteilt. Doch nur 4 oder 5 Büros könnten von den in Kabul stationierten internationalen Fachleuten aufgesucht werden. Die anderen Aussenstellen seien zu unsicher.
Auch die Zahl der Angriffe, die eine afghanische NGO registriert (die Regierung und die Nato-Truppen geben seit dem Frühling keine Zahlen mehr bekannt), deuten auf eine scharfe Eskalation hin.
Im Jahr 2009 seien es noch 630 Angriffe der Taleban gewesen. Allein im August dieses Jahres waren es 1353. Wegen der bevorstehenden Wahlen waren die Taleban wohl besonders aktiv. Doch der entscheidende Punkt ist, dass sie in der Lage sind, ihre Aktivität dermassen zu steigern.
Wenn die Parlamentswahlen sich als ähnlich korrupt erweisen, wie es die Präsidentenwahl war, aus der Karzais Wiederwahl hervorging, dürften sich die gegenwärtigen Parlamentswahlen mehr schädlich als nützlich für den Aufbau eines funktionsfähigen afghanischen Staates erweisen.
Sollten die Parlamentswahlen ebenso manipuliert werden wie die jüngste Präsidentenwahl, dann würden sie sich wohl eher schädlich als nutzlich für den Aufbau eines funktionsfähigen afghanischen Staates erweisen.
Doch selbst wenn nicht manipuliert wird, würden das viele Afghanen nicht glauben. Schon im Vorfeld des Urnengangs galten Wahlfälschungen als sicher. Die Taleban werden davon profitieren.
Grosse Aufgaben für einen kaum existierenden Staat
Die bedeutendste Schwäche der amerikanischen Strategie in Afghanistan liegt darin, dass sie dem afghanischen Staat eine entscheidende Rolle zuteilt. Die afghanische - noch auszubildende - Armee und Polizei soll jene Gebiete sichern, welche die Kampftruppen der Amerikaner und Briten "gereinigt" haben.
Sie selbst, die Amerikaner und ihre Nato-Verbündeten, haben nicht genügend Truppen, um diese Sicherung der "gesäuberten" Gebiete zu übernehmen. Doch auch der afghanische Staat, der nur in Kabul wirklich "regiert", ist nicht in der Lage, die ihm zugeteilte Aufgabe zu erfüllen.
Die militärischen Sprecher beantworten alle Zweifel an ihrer Strategie nach einer offenbar feststehenden Sprachregelung. Sie sagen, man mache Fortschritte, es brauche Durchhaltevermögen, die Ausbildung der afghanischen Sicherheitskräfte schreite voran.
Sie geben auch Zahlen von angeblich getöteten und gefangenen Taleban und ihren Kommandanten an. Sie äussern die Zuversicht, dass die Kampfkraft der Taleban schliesslich erlahmen werde. Es ist unwahrscheinlich, dass sich diese Sprachregelung vor den im November bevorstehenden amerikanischen Wahlen noch ändern wird.
Eine Gruppe von amerikanischen Fachleuten, die sich Afghan Study Group nennt, hat einen Plan B ausgearbeitet. Dieser könnte angewendet werden, wenn sich das Versagen der gegenwärtigen Strategie nicht mehr verbergen lässt.
Die Fachleute schlagen vor, die afghanische Regierungsmacht zu dezentralisieren. Zudem sollten die amerikanischen Truppen abgebaut werden. Ihre Rolle wäre auf die Bekämpfung der al-Quaida zu konzentrieren und nicht auf den Krieg gegen die Taleban.
Ein Teil der freigewordenen Gelder müsste für Entwicklung in Afghanistan verwendet werden. Gleichzeitig müsste eine diplomatische Offensive ausgelöst werden. So sollten die Nachbarstaaten Afghanistans (Iran, Pakistan, Indien, China, Zentralasiatische Republiken und Russland) gewonnen werden, die Sicherheit Afghanistans gemeinsam zu fördern statt wie bisher zu untergraben. Die Autoren erinnern daran, dass der Krieg gegenwärtig die USA gegen 100 Milliarden Dollar pro Jahr kostet. Das Nationaleinkommen Afghanistans wird auf 14 Milliarden geschätzt.
Ob Obama wohl Zeit findet, sich mit solchen Projekten abzugeben?
Man findet den Plan (siehe unten) unter :http://www.afghanistanstudygroup.org/