Überraschend waren zwei Dinge: Einmal die vielen Stars an einem Festival, das sich ganz dezidiert definiert als den Autorenfilmen, also den Filmemachern verpflichtet. Zweitens: Die Retrospektive war einem Mann gewidmet, der als das ultimative Produkt des Hollywood Studiosystems gilt, quasi des Antipoden des Autorenkinos: Vincente Minelli.
Vincente MInelli, am Broadway Regisseur, Choreograph, Bühnenbildner, Art Director, Kostümdesigner, und Kunstkenner mit einer Vorliebe für Surrealismus, war 26 Jahre lang bei MGM‚ von 1943 bis 1976, als `contract director’ und hat dort 31 seiner 34 Filme gedreht. Und zwar querbeet von der Literaturverfilmung, über das Melodram zum Musical und der Gesellschaftskomödie.
Minellis berühmte Kamerafahrten
Er drehte Bekanntes wie die Musicals ‚Ein Amerikaner in Paris’ und ‚Gigi’, aber auch ‚Die vier Reiter der Apokalypse’, für viele sein grosses Meisterwerk, eine Familiengeschichte im zweiten Weltkrieg als bedrohlich eingefärbter Alptraum inszeniert. Doch die bedrohlichen und dunklen Seiten des Minelli Touchs gibt es in allen seinen Filmen - quer durch die Genres. Auch in der witzigsten Gesellschaftskomödie, ‚The Reluctant Debutante’, strotzend von Wortwitz und Burleske, scheinen auf einmal menschliche Abgründe auf, und es gibt böse Parodien der Gepflogenheiten der Gesellschaft.
Dazu nutzte er, was das Studiosystem ihm bieten konnte: immense finanzielle Ressourcen, hoch spezialisierte Fachkräfte, die Kontinuität mit den Besten immer wieder arbeiten zu können, und eine perfekt funktionierende Infrastruktur. In dieser sicheren Beständigkeit konnte Minelli sein Genie ausleben und experimentieren: in seinen berühmten Kamerafahrten, den Einfärbungen von Szenen in spezielle Farben, die Filmen eine besondere Atmosphäre gaben, in seinen immer wieder neuen und aufregenden Musik- und Tanznummern, in seiner experimentelle Lichtgestaltung, und in der Bedeutung, die er den Dekors beimass, das er zu einem lebendigen Organismus umfunktionierte.
Ohne Schutz in der Gesellschaft
Und genau dies ist was, was diesseits des Atlantiks von Kritikern der ‚Cahiers de Cinema’ wie Jean Domarchi und Jean Douchet so geschätzt wird, dass sie in einem eigentlichen Kreuzzug Minelli nicht nur in Europa, sondern daraufhin auch in den USA, wieder zu Bedeutung verhalfen. Die Tatsache, dass Minelli in jede Phase des Filmprozesses involviert war und ihr seinen Stempel aufdrückte, sehen sie als Autorenschaft, ähnlich derer Hitchcocks in späteren Jahren.
Jean Douchet: "Wenn es je jemanden gab, der die Wahrheit des Autors in seinem Filmschaffen ausdrückte, dann war es Minelli." Douchets These ist, dass in Minellis Filmen die Realität bedrohlich ist und seine Protagonisten ihr deshalb zu entkommen suchen. Doch je mehr sie sich in einer konstruierten Realität einschliessen, desto stärker wird auch diese destruktiv. Der konstante Fluchtimpuls der Figuren gelingt erfolgreich nur in den Musicals.
"Minellis Figuren", so Douchet, "suchen alle nach ihren eigenen Ausdruck. Doch Individualisten sind im System der Gesellschaft ohne Schutz. Die Charaktere sind fragil, etwas morbid, und immer tief unstabil." Dem schliesst sich der New Yorker Filmwissenschaftler Joe McElhaney an: "Seine Charactere sind nie fest, immer auf der Suche nach ihrer Identität, im Prozess des Werdens und Seins begriffen und deshalb angreifbar und verletzlich."
Die Unerreichbarkeit der wahren Stars
Diese komplexen Figuren liess Minelli von den Stars der grossen Hollywood Studioära verkörpern: Von Katherine Hepburn, Liza Minelli, Ingrid Bergmann, Charles Boyer, Richard Windmark, Lauren Bacall, Frank Sinatra, Judy Garland, Dean Martin, Liz Taylor, Richard Burton. Spencer Tracy, Gene Kelly, Fred Astaire und anderen.
Und man begeistert sich wieder für die Stars, ihre Einzigartigkeit, die Schauspielkunst, den Rahmen der ihnen für ihre Kunst gegeben wurde, und vor allem ihre Ausstrahlung. In Minellis Filmen wird einem wieder klar, warum diese Schauspieler zu grossen Stars wurden. Man betrachtet ihr Aussehen mit Staunen, verfolgt begeistert ihre Gesten und Mimik, und ist verzaubert. Etwas hilft noch dabei: Ihre Unerreichbarkeit.
Reden ist Silber ...
Die grossen Stars des Studiosystems gaben nie Interviews. Sie hatten Publizisten, die Ausgewähltes von ihnen berichteten. So behielten sie ihr Geheimnis und wurden zu Projektionsflächen für Jedermann. Das stärkste Bindemittel.
Ist es ein Fortschritt, wenn heute Daniel Craig und Harrisson Ford Journalisten in Lugano zum Masseninterview treffen - in Locarno konnte kein passendes Hotel gefunden werden - und folgende philosophische Tiefgänge erörtern: "Daniel Craig, was ist dies für ein Tatoo?" - "Geht Sie nichts an !" - "Harrisson Ford, wie denken Sie über Botox ?" - "Zu spät jetzt."
Bei Minelli bleiben die Stars faszinierende Persönlichkeiten. Und er nutzt ihre Eigentümlichkeiten. So Robert Mitchum und seine Körpersprache. Mitchums Augen bleiben immer ausdruckslos, sein Gesicht fast ohne Mimik. Doch sein Gang und seine Gesten sind auch bei Gegenlicht sprechend und unverwechselbar. Und so maskulin, dass Minelli sie in ‚Home from a Hill’ einsetzt, in dem Vater Mitchum einem jungenhaften George Hamilton einbläut was männlich ist. Und dies müheloser als John Wayne, der immerhin drei Tage brauchte um in Cowboyboots mit Absätzen einen ‚männlichen’ Gang zu finden. Er rollte fortan einher wie ein Seebär bei Landgang.
Abglanz der Sonne
Auch die Grösse von Kirk Douglas kommt bei Minelli zum Tragen. Uns eher als machohafter Spartakus im Gedächtnis, gibt Douglas so verschiedenartige Charaktere wie den manischen Maler Van Gogh, einen abgehalfterten Ex Star im Rom des ‚Dolce Vita’, sowie den genial skrupellosen Produzenten Jonathan Shields als Inbegriff des allbestimmenden Hollywood Studiobosses. Seine Wandelbarkeit und die Palette seiner Schauspielvarianten sind erstaunlich. Überwältigend ist aber die Leinwandpräsenz. Er emaniert eine solch bezwingende Elektrizität, dass man auch zweieinhalb Stunden fasziniert jeder Geste und jeden Gesichtsausdruck folgt. Auch sein Sohn Michael hat es zum Erfolg als Schauspieler gebracht. Doch was Präsenz angeht, ist er der Abglanz eines Strahls einer Sonne, die sein Vater war.
Leslie Caron beklagte auf der Piazza in Locarno, dass Minelli sich scheinbar nicht für seine Darsteller interessierte. Im Gegenteil. Minelli war kein Fellini, der jedem Aktor per Headphone seine Anweisungen bis zur letzten Mimik ins Ohr flüsterte. Doch er gab den Schauspielern ihren Text und er hatte ihnen bei Drehbeginn bereits die bestmögliche Platform bereitet, auf der sie wirken konnten. Caron wirkte mädchenhaft scheu in ‚Gigi’, als Gegensatz zum lebensweisen Maurice Chevalier; Und ihrer sexuellen Ausstrahlung beginnend bewusst in ‚Ein Amerikaner in Paris’ neben dem athletisch virilen Gene Kelly.
Hinreissende exotische Schönheit
Caron: "Anders als die meisten Männer verstand Minelli die Frauen, war in Kontakt mit seiner femininen Seite. Mit ihm zu arbeiten war ein Zusammengehen von Imagination und Stil; eine Qualität, die uns dazu brachte das Aeusserste aus uns herauszuholen, schon nur um ihn zu überraschen." Und er machte Frauen wunderschön. Ein nicht ganz unwichtiges Element in der Traumfabrik.
Lana Turners Blondheit und luminose Haut verschmelzen im Schwarzweissfilm ‚The Bad and the Beautiful’ fast mit dem Licht um sie herum und geben ihr eine wundersame Weichheit. Deborah Kerr ist in ‚Tea and Sympathy’ gewohnt damenhaft weiblich. Barbra Streisand machte Minelli durch studiertes Setting, Licht, Make up und Garderobe zur hinreissenden erotischen Schönheit . Der 1970 gedrehte Film ‚ On a Clear Day You Can See Forever’ erinnert uns daran gross und aufregend ihre Stimme war. Vielleicht ist sie heute in den leisen Passagen ausdrucksvoller, nuancierter, doch diese rohe Emotionalität, die die Körperhärchen zum Stehen bringen, besitzt sie nicht mehr. Ihr fehlen die hohen Töne.
Applaus
Katherine Hepburn wirkt ‚Undercurrent’ von 1946 mager und knochig, so sehr, dass ihre berühmten Wangenknochen im Dreieck mit ihren Schlüsselbeinen konkurrieren. Doch die Kamera konzentriert sich auf ihr ausdrucksvolles Gesicht und so ist sie es auf der die Augen fasziniert bleiben nicht auf dem makellos schönen Partner Robert Taylor. Ihrem intensiven Bestreben zu lieben und zu verstehen, folgt man mit ganzem Herzen.
Und doch, bei vielen Filmen applaudiert das Publikum begeistert am Ende der Vorführung. 'Zwei träneüberströmte Damen unterhielten sich sogar am Ende der ‚Madame Bovary’ den Ausgang versperrend , über die wundersame Tatsache, dass sie ein Film berühren konnte ganz ohne ‚spezial effects’. Bei anderen Vorführungen verlassen die wenigen Verbliebenen ratlos den Saal. Ein Vorteil an einem Festivals ist , dass man sich die Spezialisten gleich greifen kann und seine Bedenken und Anmerkungen mit ihnen diskutieren. Die ‚Minellistas’ sind jedoch so begeistert von ihrem Idol, dass sie nicht den geringsten Zweifel oder die Andeutung einer Schwäche zulassen.
Die Kamerabewegungen, die dunklen Aspekte seiner Geschichten, die Kostüme, spezielle Textlinien, die Einfärbungen, alles hat eine tiefe, besondere Bedeutung. Doch kann man, hört man all diese Lobpreisungen, durch nicht die geringste Kritik gemildert, nicht umhin sich zu fragen, ob Minelli sich all dieser Werte bewusst war. Man erinnert sich an die Verwunderung, ja Fassungslosigkeit, auf den Gesichtern von bildenden Künstlern, wenn sie die Interpretationen ihrer Werke von einem Kritikers anlässlich einer Vernissage hören. An all das hatten sie nicht gedacht. Doch vielleicht projiziert man vieles von sich hinein, wenn man jeden Film mehrere Dutzende von Malen gesehen hat ? Doch auch das könnte eine Qualität der Minellifilme sein.
Showdown auf dem Rummelplatz
Das Problem ist, dass das Vertiefen in Minellis Filme einem für gängige Gegenwartsware verdirbt. Seine Mehrdimensionalität in Material und Ausführung ; die übereinander geschichteten Ebenen der Geschichten und Bedeutungen, sowie die diversen Art deren Aufbereitung, beanspruchen die Aufmerksamkeit des Betrachters aufs Äusserste, beschäftigen alle seine Sinne, und fahren Achterbahn mit seinen Emotionen. Einen Minellifilm verlässt man erschöpft, bewegt, emotional ausgepumpt, doch meist zutiefst zufrieden: Man hat etwas wirklich Tolles gesehen.
Wie die Schlussszene im Film ‚Some Came Running’ von 1958. Der kriegsheimkehrende gescheiterte Schriftsteller (Frank Sinatra) findet in seiner Heimatstadt keinen Platz mehr und wenig Gegenliebe, weder bei seinem Bruder, noch dem Kleinstadtestablishment, noch der von ihm verehrten Lehrerin. So haust er beim Spieler und Schwerenöter (Dean Martin) und heiratet schliesslich das ihn anhimmelnde leichte Mädchen (Shirley MacLaine). Deren früherer Verehrer ist jedoch durch die Heirat so aufgebracht, dass er sich aufmacht Sinatra zu töten. Dean Martin erfährt davon und will dies verhindern.
Eindrücke, Gedanken, Fragen
Auf dem sehr belebten Rummelplatz kommt es zum Showdown. Die Frischverheirateten spazieren ahnungslos in der Menge. Der Mörder strebt zu ihnen und Dean Martin versucht diesen vor dem Schuss zu erreichen. Die Kamera folgt all diesen Bewegungen, die intensiver gemacht werden, indem jeder der Hauptakteure sich gegen die Menge bewegen muss, quasi flussaufwärts schwimmend. Die dadurch entstehende Dynamik und Spannung überträgt sich als intensive Emotion auf den Zuschauer, der dadurch den seelischen Aufruhr der Figuren fast physisch durchlebt.
Im Gegensatz dazu den diesjährigen ‚Goldenen Leoparden’ von Locarno Milagro Mumenthalers ‚Abrir portas y ventanas’ :Drei Mädchen im Hause ihrer Grossmutter: Atmosphärisch dicht, gewiss. Die Mädchen agieren natürlich und stimmig in ihrer Interaktion. Auch das. Der Rhythmus ist fliessend, die Kamera diskret, der Schnitt makellos. Und dann ? Der Minelli Addikt fängt an unruhig auf seinem Stuhl zu rutschen. Zu reich war das Mahl vorher, zu dünn die Suppe jetzt Minellis Werk ist ein ganzes Universum, in das man hineingezogen wird und aus dem man nur schwer wieder auftaucht. Doch dann um viele Eindrücke, Gedanken, Fragen und vielleicht auch Antworten reicher.