Dazu ein erstes Wort: Man kann an der EU vieles kritisieren. Vor allem heute, wo sie mit ihrem dilettantischen Euro-Experiment ganz Europa in eine gewaltige Krise gestürzt hat, die es sicher noch zehn Jahre belastet und es welt- und wirtschaftspolitisch schwächen wird. Was unter der gehäuften Masse von Anwürfen untergeht: Die EU ist kein Moloch. Kein Brüsseler „Monster“. Sie ist, sehen Sie das? sie ist Menschenwerk wie alle Staaten und internationalen Organisationen und überhaupt alles, was Menschen politisch-kollektiv organisieren, auch die Schweiz. Aber heute – das ist erst seit einigen Jahren so – stürzen von überall her Vorwürfe auf sie ein, sie kann es niemandem mehr recht machen, niemand findet mehr ein gutes Wort für sie ausser einem versprengten Häufchen fanatischer Proeuropäer, und man missgönnt ihr sogar den Friedensnobelpreis. Wo man sich vornehmer gibt, schreibt man abgewogen-sauersüsse Kommentare wie der Chefredaktor der angesehensten Deutschschweizer Tageszeitung unter dem Titel „Ehrung ohne Strahlkraft“ und „Würdigung der Vergangenheit“. Welche Vergesslichkeit! Was für ein vergangenheitsvergessendes Urteil eines Jüngeren!
Skurril. Unverständlich. Empörend
Nun aber ein zweites: Norweger haben ein volles Recht, gegen den EU-Beitritt ihres Landes zu kämpfen, und sie haben zweimal eine Volksabstimmung gewonnen. Wenn aber diesen Montag hunderte mit Transparenten „keine Waffen, gegen den Krieg!“ durch Oslo ziehen, wenn sie das Komitee verdächtigen, Propaganda für einen Beitritt Norwegens zu machen, wenn sie ihm Verrat am statutarischen Friedensziel des Stifters Alfred Nobel vorwerfen, dann ist das nicht nur skurril. Es ist unverständlich und empörend.
Denn die zur EU gewordene EG ist, ja IST ein Friedenswerk, das wichtigste auf unserem Kontinent und einmalig in der Geschichte der Menschheit. Wie Mäkler monieren, habe hauptsächlich die Nato zum Frieden in Europa beigetragen. Ja, die Nato hat auch grosse Verdienste: Sie hat Westeuropa gegen Gefahren von aussen verteidigt, gegen die hochgerüstete Sowjetunion, und hinter diesem Schutzschirm schaffte sie in Westeuropa der EG-EU den freien Raum, in dem sie die Staaten in gemeinschaftlicher Aufbauarbeit bis hin zum grossen Binnenmarkt von allen Kriegsgedanken befreit hat.
Mit Krieg und Gewalt kein EU-Beitritt
Und als diese Hausaufgabe der Nato nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion erledigt war, zog dieses EG-Friedenswerk auch den europäischen Osten und heute den ganzen Balkan mit seiner unversöhnlich-kriegerischen Tradition in seinen Bann. Manchmal standen seine Staaten am Rand einer militärischen Konfrontation, sie wurde vermieden, weil sie alle EU-Mitglied werden wollen und die EU Gewaltlosigkeit zur absoluten Vorbedingung gemacht hat. Und kaum bekannt ist, dass die EG nicht weniger als die Nato und die Amerikaner zum Ende des Kalten Kriegs beigetragen hat: Ohne das von ihr geschaffene, jahrhundertelange Angst verdrängende Vertrauen, dass Deutschland nie mehr Russland angreifen werde, hätten dessen Generäle Gorbatschow und Jeltsin nie erlaubt, das Sowjetreich zu liquidieren.
Und einmalig in der Geschichte der Menschheit: Gewaltlos die Staaten eines ganzen Kontinents zu einigen, die ihm während Jahrhunderten alle dreissig Jahre einen Krieg bescherten, das haben nicht einmal die USA, das hat im Kleinen nicht einmal die Schweiz fertiggebracht. Die Staaten der USA haben sich zuerst auch friedlich geeinigt, doch einige Jahrzehnte nach ihrer Gründung kamen sie nicht um einen grausamen Bürgerkrieg herum; die Schweiz von heute gäbe es nicht, wenn eine Mehrheit nicht eine Minderheit blutig zum Beitritt gezwungen hätte. Die EG-EU hat nie Gewalt gebraucht, um ihre Mitgliedstaaten zusammenzubringen, sie hat Norwegens zwei Nein und den Austritt Grönlands und der dänischen Färöer-Inseln ohne den kleinsten Protest respektiert.
Ein Psychodrama
Das Ressentiment, manchmal geradezu der Hass gegen die EU ist nicht aus Fakten zu erklären. Millionen nicht nur bei uns in der Schweiz, sondern auch in den EU-Ländern bewerfen sie mit unhaltbaren Clichés wie Demokratiedefizit, Zentralismus, Bürokratie, Diktat aus Brüssel, „von oben geschaffen“... alles falsch! Der Beweis hierfür soll ein andermal geliefert und den Protesten ausgesetzt werden. Das sonderbare Verhältnis der EU-Bürger zu ihrer Gemeinschaft, die ihnen einen sechzigjährigen Frieden geschenkt hat und auf unabsehbare Zukunft schenkt, dieses Verhältnis ist nur aus einem kollektiven Psychodrama zu erklären. Auch darüber ein andermal mehr.
Im Moment nur einige Vermutungen: Zu allen Zeiten haben nur gelernte Historiker auf die Vergangenheit geschaut, die Alltagsmenschen auf ihre Gegenwart und mehr auf die Probleme als auf das Schöne. Der von der EG-EU geschaffene Frieden Europas ist so alltäglich geworden, dass die Heutigen nur noch die Euro-Krise sehen und nicht mehr, was die EG sechzig Jahre lang geschaffen hat. Ja die EU ist hochkompliziert und bürgerfern... warum? Weil sie ihre Bürger respektiert! Sie bricht die Einigung nicht übers Knie, sie geht schrittweise vor, sie sucht unter 27 Mitgliedstaaten, deren BürgerInnen sehr Verschiedenes erwarten, in kleinen Schritten und endlosen Verhandlungen einen Kompromiss für alles – darum bleibt sie ein Zwischending zwischen Staat und Staatenbund, darum ist ihre Konstruktion so kompliziert. Wollte sie weniger kompliziert sein, DANN würde sie von oben diktieren und wäre sie zentralistisch!